Gerhard Henschel: Alle vier Martin-Schlosser-Romane

Auf dem anderen Ufer grasten ein paar Schafe. Die hatten’s gut: Die wußten nicht, wie schlecht sie’s hatten.

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Den ersten der bis dato vier Martin-Schlosser-Romane, »Kindheitsroman«, hatte ich auf eine Empfehlung hin im Oktober 2012 als Taschenbuch gekauft und so ziemlich in einem Zug ausgelesen. Anschließend habe ich die kurz zuvor erschienene Kindle-Ausgabe aller vier Romane gekauft und mich seitdem peu à peu und so, wie es gerade kam, durch das Leben Martin Schlossers bis in sein 21. Lebensjahr gelesen. Martin steht am Ende des vierten Romans vor der Aufnahme eines Studiums, nachdem er Abitur, ein paar Monate Wehr- und ein paar Monate Zivildienst hinter sich gebracht hat. Zuvor erlebt Martin die Freuden der Schule, der Freundschaft, des Fußballspielens, der Pubertät, der Lektüre, erste Erfolge als Schülerzeitungsredakteur, erste Liebe, ersten Sex, Urlaube und viel Familiengeschichte; nur wenig, das sich nicht im Leben vieler seiner bundesdeutschen Zeitgenossen so oder ähnlich wiederfinden ließe.

Formal lässt sich über die drei Fortsetzungen – »Jugendroman«, »Liebesroman«, »Abenteuerroman« – kaum mehr sagen als über den ersten Teil: Entlang der Kette der biographischen Entwicklung des Protagonisten wird eine Fülle von authentischen und zeittypischen Alltagsdetails und exakten sprachlichen Wendungen aufgereiht, die wohl besonders bei Lesern, die diese Zeit selbst durchlebt haben – ich selbst bin nur wenige Monate älter als Martin Schlosser (und der Autor) –, ein erstaunlich reichhaltiges Bild von der damaligen Alltagswelt Westdeutschlands erzeugt. Die dem Ganzen zugrunde liegende Recherchearbeit dürfte von beeindruckendem Umfang sein, selbst wenn man annimmt, dass zumindest für die späteren Bände persönliche Tagebuchaufzeichnungen Henschels das Rückgrat der Erzählung liefern. Man darf gespannt sein, wie lange Henschel die Reihe der Romane fortsetzen wird. Am »Universitätsroman« – oder wie immer er heißen wird – arbeitet der Autor sicherlich längst.

Gerhard Henschel: Alle vier Martin-Schlosser -Romane. Kindle-Edition. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2012. 2076 Seiten (gedruckte Ausgabe). 21,99 €.

Eckhard Henscheid / Immanuel Kant: Der Neger (Negerl)

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Angesichts der sich gerade überschlagenden Diskussion um das Übersetzen literarischer Texte in eine gerechte Sprache – es wird für nachfolgende Jahrhunderte wenige andere vergleichbar schlagende Beispiele für die vollkommene Bodenlosigkeit der rezenten Kulturstufe geben – sei wenigstens an dieser Stelle an ein kleines Büchlein aus den goldenen Zeiten des seligen Haffmans Verlages erinnert. Nur zum Zwecke der Demonstration soll hier zumindest eine Stelle ausführlicher zitiert werden:

Goethe war kein Neger noch scherte er sich viel um sie. Ganz anders dagegen Franz Kafka. Er legte dem Brief an Felice vom 24. 11. 1912 eine Notiz aus dem ›Prager Tagblatt‹ vom 25. 9. über die »Seligsprechung der 22 christlichen Negerjünglinge von Uganda« bei, welche »als erste Blutzeugen vor 26 Jahren für den Glauben den Verbrennungstod erlitten«:

Wie aus Rom von der Zentrale der St. Petrus Claver-Sodalität gemeldet wird, waren die Kardinäle, welche die Angelegenheit zu beraten hatten, über den Heldenmut der jugendlichen Märtyrer bis zu Tränen ergriffen. Es herrscht über die Nachricht des eingeleiteten Se­lig­spre­chungs­ver­fah­rens allenthalben bei den Negern und besonders bei denen von Nord-Viktoria-Nyanza, der Heimat der ersten Märtyrer, der größte Jubel, den sie in Tänzen und Sprüngen zum Ausdruck brachten.

Kafka beauftragt Felice, den Artikel aufzubewahren, und kommentiert: »Fast jeden zweiten Tag finde ich in der Zeitung eine derartige, für mich allein bestimmte Nachricht.«

Abgesehen von Kafkas überaus einleuchtender Nachrichten- und Medientheorie (jeder muß nur je einen Artikel in je einer Zeitung lesen) – […]

Jeder denkende Mensch mache sich bitte klar, dass falls die die Diskussion beherrschenden Hysteriker den Sieg davontragen werden (und alles sieht danach aus), ein solcher Text nie wieder wird gedruckt werden können. Das ist zwar keine Zensur, wie die Nichtsnutze der anderen Seite schreiend behaupten, aber es ist schlimmer: Es handelt sich um die Selbstverstümmelung einer Kultur aufgrund galoppierender Dummheit.

Eckhard Henscheid / Immanuel Kant: Der Neger (Negerl). Zürich: Haffmans, 1988. Pappband, Fadenheftung, 174 Seiten. Nie wieder im Buchhandel erhältlich.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman

Im Sprachbuch war eine Seite, auf der wir alle Buchstaben ausmalen konnten, die wir durchgenommen hatten. Wie wohl das große Eszett oder Rucksack-S aussah. Das kleine war schon drangewesen. Als alles ausgemalt war, fehlte immer noch das große Eszett. Ich fragte Frau Kahlfuß danach, und sie sagte, das gebe es nicht. Es gebe nur das kleine Eszett.
Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte.

Erster Teil eines inzwischen auf vier Bände angewachsenen, offensichtlich stark autobiographisch gefärbten Romanzyklus. Der Ich-Erzähler Martin Schlosser wächst als drittes Kind einer sechsköpfigen Familie in und um Koblenz herum auf. Ein weiterer wichtiger Ort ist Jever, in dem die Großeltern väterlicherseits leben, und Hannover, wo er mehrfach eine seiner Tanten besucht. Erzählt werden die gut zehn Jahre von Mitte der 60er bis zur Mitte der 70er Jahre. Die Familie Schlosser ist eine ziemlich typische Nachkriegsfamilie: Der Vater arbeitet als Ingenieur für die Bundeswehr, die Mutter ist Hausfrau. Man entschließt sich, ein Haus zu bauen, in das man vor der endgültigen Fertigstellung einzieht, um es dann in Eigenregie weiterzubauen. Der Vater ist zuerst oft im Ausland und später, nachdem er befördert wurde, im niedersächsischen Meppen, wohin er versetzt wurde. An den Wochenenden verbringt er viel Zeit mit der Vollendung des Hauses, im Hobbykeller und beim Reparieren des PKWs.

Die Erzählung folgt der kindlichen Entwicklung Martins, seinen Freundschaften und ersten Lieben, seiner Schullaufbahn, seiner Neigung zu unbefugter Aneignung fremden Eigentums und schließlich seinen kindlichen Träumen von Ruhm und Reichtum als klavierspielendes Wunderkind oder als späterer Rekord-Torschützenkönig und mehrfacher Fußballweltmeister. Alles das ist locker aufgereiht und folgt nur sehr bedingt unter dem Muster eines Entwicklungsromans. Das Besondere des Buches ist, neben seinem Humor, die Authentizität des Materials, sowohl bei den sachlichen Details als auch in den sprachlichen Wendungen. Dies ist eines der seltenen Bücher, die nach 100 Jahren für den normalen Leser gänzlich unlesbar geworden sind, aber von Historikern ausgeschlachtet werden, die die westdeutsche Alltagskultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben wollen.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman. dtv 13444. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 62011. Broschur, 494 Seiten. 11,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (49)

Aber nun gar die Schaar der Dilettanten! Wie wenig Sinn und Liebe für die Sache, wie erschreckend der Mangel alles Verständnisses, wie so ganz abhängig von gemachter Mode und prunkendem Schein, – und doch dieser dilettantische Andrang zu den Künsten und Wissenschaften! Das Räthsel löst sich so: nicht um ihrer selbst willen werden die Künste gesucht, sondern als bunter Flittertand, um seine liebe Person damit auszuputzen. Die ebenso unverständigen Beurtheiler sind über den Putz entzückt, wenn ihnen die Person gefällt und verachten ihn, wenn sie keinen sonstigen Grund haben, der Person zu schmeicheln.

Eduard von Hartmann
Philosophie des Unbewußten

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit

Alfred Denker liefert eine »Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger« als Vorarbeit einer umfassenden, dreibändigen Biografie, deren Erscheinen er bereits auf der ersten Seite der einleitenden Bemerkungen androht. Ob wir darauf sehr gespannt warten sollten, ist angesichts von biographischen Plattitüden wie etwa der folgenden eher fraglich:

Freilich übte er [Martin Heidegger] auf Frauen eine fast magische Anziehungskraft aus. Der Eros war in vielfacher Hinsicht bestimmend für sein Leben und Werk und funkelte aus seinen Augen!

»Und ach! sein Kuß!«

Zum Glück verschont uns das vorliegende Buch über weite Strecken mit solch enthusiastischen Einsichten in das Leben Martin Heideggers und konzentriert sich auf seine Philosophie. Das macht die Sache aber nur bedingt besser. Denn während rein sachlich die Darstellung der Denkentwicklung Heideggers (zumindest mich) zu überzeugen vermag, weist das Buch insgesamt doch schwere Mängel auf, die ich im folgenden etwas ausführlicher ansprechen werde. Hinzukommt die Frage, ob die Darstellung als Einführung geeignet ist. Nun besteht ein grundsätzliches Problem philosophischer Einführungen darin abzuschätzen, welche Voraussetzungen sie beim Leser machen können. Dies wird im Fall Heideggers zusätzlich dadurch erschwert, dass seine Philosophie extrem hohe Zugangshürden setzt: Nicht nur hat sie umfangreiche inhaltliche Voraussetzungen (der Leser Heideggers sollte idealerweise nicht nur gute Kenntnisse der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles mitbringen, sondern sollte sich auch grundlegend in der Scholastik auskennen, umfänglich Nietzsche und Kierkegaard gelesen haben und sowohl mit der Phänomenologie Edmund Husserls als auch dem neukantianischen Ansatz Emil Lasks vertraut sein), sondern der Einstieg wird zudem durch die Terminologie Heideggers erschwert, der nicht nur den Gebrauch traditioneller philosophischer Begriffskonzepte bewusst vermeidet, sondern oft auch einzelne philosophische Begriffe inhaltlich neu fasst oder gleich durch Neologismen ersetzt. Wenn es ohnehin häufig so ist, dass der Laie philosophische Texte erst zu verstehen beginnt, wenn er bereits weiß, was sie sagen, so gelingt ihm das im Falle Heideggers oft nicht einmal dann. Für denjenigen, der eine Einführung in das Denken Martin Heideggers liefern will, kommt als Schwierigkeit hinzu, dass sich Heideggers Gedanken zwar im Ungefähren paraphrasieren lassen, eine exakte Darstellung aber in den meisten Fällen von der Verwendung der heideggerschen Wortwahl abhängig bleibt. Und so ist eine Einführung in Heideggers Denken alles andere als eine einfache Aufgabe.

Angesichts dieser Schwierigkeiten zielt Denkers Darstellung offenbar auf ein akademisch vorgebildetes Publikum. Auch Denker gelingt es nicht, sich vom Jargon Heideggers zu lösen und zu einer terminologisch einfacheren und klareren Formulierung der Position zu gelangen, die nicht nur dem Charakter einer Einführung angemessener wäre, sondern auch die dringend notwendige kritische Durchdringung der heideggerschen Metaphysik ermöglichen würde. Stattdessen liefert er eine – soweit ich das beurteilen kann – zwar sachlich einwandfreie, bis auf Details aber unkritisch bleibende Wiedergabe der heideggerschen Denkentwicklung. Dies wird denn auch programmatisch formuliert:

In der Öffentlichkeit hat sich das Bild Heideggers in den letzten Jahrzehnten von einem großen Denker in eine unsympathische und fragwürdige Figur und einen philosophischen Scharlatan gewandelt. […] Es ist meines Erachtens Zeit, endlich Widerspruch einzulegen.

Doch auch wenn der Leser alle diese Voraussetzungen als mehr oder weniger unvermeidlich akzeptiert, bleiben, wie bereits gesagt, schwerwiegende Einwände gegen Denkers Buch: Der grundsätzlichste Einwand dürfte der sein, dass Denker an keiner Stelle versucht, Heideggers Philosophie zur historischen Gesamtentwicklung des 20. Jahrhunderts in Beziehung zu setzen. Zwar findet sich Heideggers Auseinandersetzung mit Karl Jaspers in einiger Breite, aber alle anderen philosophischen Ansätze, auf die Heidegger nicht selbst unmittelbar reagiert hat, fehlen. Weder wird Heideggers Denken in den Rahmen der allgemeinen Existenzphilosophie des vergangenen Jahrhunderts eingestellt, noch wird sein Denken in Zusammenhang mit oder Gegensatz zu Positivismus, Pragmatismus, Sprachphilosophie oder Wissenschaftstheorie gebracht, von nichtphilosophischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen ganz zu schweigen. An einer einzigen Stelle erscheint einmalig das Wort »Quantenphysik« und dies auch nur, um deren Weltbild als »unvorstellbar« zu qualifizieren. Denkers Einführung bleibt hier ebenso wie ihr Gegenstand in einem wesentlichen Sinne provinziell: Die Welt bleibt außen vor, man bewegt sich nahezu ausschließlich in den selbstgeschaffenen bzw. nachgestellten Beziehungen.

Doch auch in dieser Provinzialität ließe sich von Denker ein deutlich kritischerer Abstand zur heideggerschen Position erwarten: Zwar kann er sich dazu durchringen, Heideggers Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus explizit als »Versagen« zu kennzeichnen, doch sieht er dieses Versagen nicht im vollständig mangelhaften Wirklichkeitsbezug Heideggers oder der Unmenschlichkeit seines Verhaltens, sondern »darin, dass er den eigenen methodischen Ansprüchen nicht gerecht wurde.« Dass dies vielleicht ein schlechtes Licht auf eine Methode werfen könnte, wenn sie in Zeiten der Not und Notwendigkeit zu solchem Verhalten führt, spielt in Denkers Überlegungen keine Rolle. Daher wird Heideggers Antisemitismus zwar nicht verschwiegen, aber er wird auch nicht groß thematisiert. Stattdessen erfahren wir ausführlich von Heidegers »misslungenem Versuch von 1933, das deutsche Volk zu einem metaphysischen Volk zu erziehen«. Weder hier noch an anderen Stellen findet sich ein angemessenes Wort über die Hybris Martin Heideggers.

Absurde Züge nimmt dieser Mangel an Distanz dann bei der Wiedergabe von Heideggers Äußerungen zur Kunst an. Denker scheint jeglicher Sinn dafür zu fehlen, um was für einen hochtrabenden Unfug es sich dabei handelt. Sind Heideggers Interpretationen einzelner Kunstwerke, so willkürlich und sachlich unbedarft sie auch sein mögen, sicherlich diskussionsfähig, so ist die auf diesem ganz schmalen Brett erstellte heideggersche Kunstauffassung von einer Borniertheit und Ignoranz, wie sie selten anderswo zu finden sein wird. Denker scheint Heideggers Gedanken über Kunst ohne jegliche Ironie gelesen zu haben. Dies scheint mir nur möglich zu sein, wenn man vom Phänomen der Kunst, insbesondere der Kunst des 20. Jahrhunderts, ebenso weit entfernt lebt wie der Meßkirchner Meister.

Und selbst bei der Darstellung der Spätphilosophie gelingt es Denker nicht, sich vom Faszinosum Heideggers zu befreien. Statt nach seiner endlich doch noch erreichten Einholung des Denkhorizonts Nietzsches die einzige verbleibende Konsequenz zu ziehen und endlich das Reden dort einzustellen, wo nichts mehr zu sagen ist, berauscht sich Heidegger auch weiterhin am eigenen Wort, um nahtlos zu einer neuen Metaphysik des Seyns überzugehen, die jetzt allerdings den unüberbietbaren Vorteil hat, ihre unausgesprochenen Voraussetzungen nicht mehr rational ausweisen zu müssen, da sich angeblich alle Rationalität im historischen Gang der Metaphysik inzwischen selbst terminiert habe. Die Vollendung der Metaphysik ist zugleich die Befreiung zur Neubegründung des philosophischen Geschwätzes aus dem Geist der Vorsokratik unter der Marke »Besinnung«. Das eine wird von der Erfahrung der Wirklichkeit so wenig berührt wie das andere.

Man muss Denker zugestehen, dass er alles Notwendige bereitstellt, um den Leser zu dieser Einsicht gelangen zu lassen, und sich zugleich glücklich dem Formulieren dieser Einsicht entzieht. Er bleibt in der heideggerschen Provinz und erklärt sie zur Welt des Eigentlichen und damit zur eigentlichen Welt. In diesem Sinne kann Denkers Buch als eine nützliche Hilfestellung zur Erledigung der heideggerschen Philosophie gelesen werden: Es ist gut, dies einmal angeschaut zu haben; kehren wir nun zur Realität zurück.

Alfred Denker: Unterwegs in Sein und Zeit. Einführung in Leben und Denken von Martin Heidegger. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Bedruckter Pappband, 238 Seiten. 22,95 €.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen

Es gibt nicht viele große, entscheidende Schritte der Philosophie, trotz des Aufwandes und Windes, den sie durch die Geschichte hindurch gemacht hat.

978-3-518-29355-3Eine der zahlreichen Editionen aus dem Nachlass von Hans Blumenberg. Dort fand auch eine Mappe mit dem Titel des Buches, der auch der Titel eines der darin gesammelten Essays ist. Thematisch hängt die Sammlung nur locker zusammen: Es geht um Gefälligkeit von Philosophen und Philosophien, um Martin Heidegger und seine nationalsozialistischen Verstrickungen, es geht aber auch um Sigmund Freud – der Essay »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes« enthält eine der knappsten und präzisesten Analysen der Freudschen Psychoanalyse, die ich kenne – und Arthur Schnitzler, um Hegel und das Holstentor.

Insgesamt wie immer bei Blumenberg eine sehr anregende Lektüre, die in diesem Fall zwischen einem gehobenen feuilletonistischen und maßvollen philosophischen Niveau pendelt. Eine anspruchsvolle Lektüre für den Nachttisch.

Hans Blumenberg: Die Verführbarkeit des Philosophen. stw 1755. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005. Broschur, 208 Seiten. 10,– €.

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund

Ich glaube, Mama kommt nicht zurück.

978-3-407-79443-7Nikolaus Heidelbach macht die erstaunlichsten Bilderbücher. Nicht nur erzählt er Geschichten, die beglückend frei von jeglichem pädagogischen Pathos sind, er illustriert sie auch auf eine zugleich klare und phantastische Weise, die ihresgleichen sucht.

»Wenn ich groß bin, werde ich Seehund« erzählt die Geschichte eines kleinen Jungen, der mit seinen Eltern in einem einsamen Haus am Meer lebt. Sein Vater ist Fischer, und eines Tages macht der Junge eine unheimliche Entdeckung: Im Klappsofa (wer kennt heute noch solche Möbel?) versteckt der Vater ein Seehundsfell, was bekanntlich all jene tun, die in Wirklichkeit keine Menschen, sondern Seehunde sind, damit sie eines Tages ins Meer zurück können. Doch seine Vermutung erweist sich als nicht ganz richtig …

Ein wundervolles Buch, das ein Märchen erzählt, so wie es sie im 19. Jahrhundert noch gegeben hat.

Nikolaus Heidelbach: Wenn ich groß bin, werde ich Seehund. Weinheim: Beltz & Gelberg, 2011. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 31 Seiten (25 × 25 cm²). 14,95 €.

Volker Hage (Hg.): Max Frisch

978-3-518-42212-0Umfangreiche Bild-Biografie anlässlich des 100. Geburtstags Frischs. Der Band enthält rund 300 Fotos, großteils in Schwarz-Weiß, die die gesamte Lebensspanne Frischs dokumentieren. Begleitet werden die Fotos durch sparsame, aber informative Texte, die einmal mehr Hages Kennerschaft belegen. Außerdem findet sich im Anhang drei umfangreiche Interviews, die Hage 1981 und 1982 mit Frisch geführt hat.

Im Gegensatz zu den üblichen Biografien, die in einem Jubiläumsjahr erscheinen, erschöpft sich dieses Buch nicht in der Wiederholung des längst anderswo schon Gesagten, sondern liefert einen kurzen und präzisen Überblick über das Leben Frischs.

Volker Hage (Hg.): Max Frisch. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2011. Pappband, Fadenheftung, 259 Seiten Kunstdruckpapier mit rund 300 Abbildungen. 24,90 €.

Aus meinem Poesiealbum (IX)

»Man gewöhnt sich quasi daran«, wiederholte er. »Fünfzig Prozent der Tröstungen der Philosophie in fünf Wörtern. Und die restlichen fünfzig Prozent lassen sich in acht ausdrücken: Bruder, wenn du tot bist, bist du tot. Oder wer es vorzieht, kann neun daraus machen: Bruder, wenn du tot bist, bist du nicht tot!«

Aldous Huxley
Das Genie und die Göttin