Der »Ulysses« ist ohne jede Frage einer der Romane des 20. Jahrhunderts, vielleicht das Jahrhundertbuch überhaupt. Zugleich gilt der Roman vielen Lesern als unzugänglich, wenn nicht überhaupt als unlesbar. Das liegt in der Hauptsache daran, dass Joyce die Erwartungshaltung der meisten Leser an einen Roman nicht auf einfache und glatte Weise bedient und die Lektüre des »Ulysses« über weite Strecken den Charakter der Irrfahrten seines antiken Namensgebers Odysseus annimmt. Das liegt in der Hauptsache daran, dass Joyce im »Ulysses« in vorderster Linie ganz andere Interessen verfolgte als das, einen weiteren Roman der Romantradition des 19. Jahrhunderts zu verfassen, sondern er an einem im Grunde recht simplen Einfall entlang – ein »normaler« Dubliner erlebt an einem Tag alle Abenteuer des Odysseus – versucht, zugleich die Fülle der Welt und der schriftstellerischen Techniken vorzuführen.
Zu dem Aspekt der »Fülle der Welt« gehört es, dass der »Ulysses« eine Vielzahl assoziativer, stofflicher, motivischer und thematischer Felder aufweist, die in Laufe des Romans von den verschiedensten Seiten aus angespielt und durchgespielt werden. Ein wichtiges und im Roman breit thematisiertes Feld etwa ist das Wasser und alles, was mit ihm in Zusammenhang steht: Der Roman beginnt am Meer, die Brücken über die Liffey sind prominent vertreten, Leopold Bloom, der Held des Romans, ist ein Wassertrinker und Wasserfreund usw. usf. Katharina Hagena hat sich in ihrem Buch »Was die wilden Wellen sagen« die Mühe gemacht, dem Wasser im »Ulysses« nachzuspüren, es in seinen Wallungen und Verwandlungen aufzuspüren und zu kondensieren.
Grundlage ihrer Darstellung ist eine sehr genaue Lektüre des »Ulysses«, bei der die das Wasser, seine Götter und Bewohner, seine Verwandlungen und Aggregatzustände betreffenden Passagen gesammelt und in einen Zusammenhang gebracht wurden. Solch eine konzentrierte Lektüre, die zu einem bestimmten Stofffeld zuerst einmal all das versammelt, was Joyce über den ganzen »Ulysses« hinweg verteilt und in ihm versteckt hat, erweist sich oft als sinnvoll. Dabei werden Zusammenhänge sichtbar, die ansonsten durch die Überfülle an Details in diesem Dubliner Weltalltag unbemerkt am Leser vorüberziehen. So kann Katharina Hagena zum Beispiel die enge Verbindung von Meer und Sprache im »Ulysses« sichtbar machen, deren Hauptwitz darin besteht, dass es das Meer der Sprache ist, das der Joycesche Odysseus auf seinen Irrfahrten durchkreuzt.
Das Buch ist zwangsläufig in weiten Teilen assoziativ gearbeitet, was sich kaum anderes machen lässt, weil eben der »Ulysses« selbst weitgehend ein Buch der Assoziationen ist. Der einen oder dem anderen wird dies oder das zu weit gehen oder nicht einsichtig sein; das ist eine notwendige Folge des Verfahrens selbst und nicht zu vermeiden. Wichtig ist aber, dass Katharina Hagena an einem einzelnen, zentralen Beispiel vorführt, auf welche Weise Joyce seinen »Ulysses« gearbeitet hat. Vieles andere im »Ulysses« lässt sich auf ganz ähnliche Weise erschließen und in einen Fokus bringen. Das soll nicht heißen, man könne sich den »Ulysses« nur auf eine solch sammelnde Art und Weise erschließen, sondern vielmehr, dass sich der Text auch auf diesem Weg angehen und aufschließen läßt. Ich hoffe sehr, das Buch öffnet den »Ulysses« einigen neuen Lesern. Den anderen, schon mehr oder weniger seetüchtigen Lesern des »Ulysses« wird Hagena einen weiteren Weg hindurch aufzeigen und den nächsten Lektüregang um mindestens einen wichtigen Aspekt bereichern.
Katharina Hagena: Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den Ulysses. marebuchverlag, 2006. Pappband, 179 Seiten. 20,– €.