Bei Reclams Geschichte der deutschen Lyrik handelt es sich, wie häufig bei den Produkten des Verlages, nicht um eine einheitlich konzipierte Darstellung aus der Feder (heute wohl eher der Tastatur) eines einzelnen Autors, sondern um die Zusammenstellung von sechs weitgehend unabhängig voneinander entstandenen Texten, die mittels eines Vorworts über das gemeinsame Thema hinaus wenigstens aufs Gröbste miteinander verbandelt wurden. Ziel war letztendlich eine Publikation der einzelnen Teile in separaten Bänden innerhalb der RUB, was denn auch 2012/2013 geschehen ist.
Diese Geschichte der deutschen Lyrik umfasst den Zeitraum vom Mittelalter (etwa seit dem 10. Jahrhundert) bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde folgende Aufteilung und Gewichtung des Stoffs vorgenommen:
- Mittelalter von Franz-Josef Holznagel (85 Seiten)
- Von der Reformation bis zum Sturm und Drang von Hans-Georg Kempner (167 Seiten)
- Klassik und Romantik von Mathias Mayer (115 Seiten)
- Zwischen Romantik und Naturalismus von Bernhard Sorg (97 Seiten)
- Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs von Ralf Schnell (111 Seiten)
- Deutschsprachige Lyrik seit 1945 von Hermann Korte (86 Seiten)
Die Ansätze der Darstellung sind in den einzelnen Teilen durchaus unterschiedlich: Während etwa Holznagel sehr detaillierte Auskunft zur Entstehung und Überlieferung der Quellen gibt, findet bei Mayer eine inhaltlich konzise, zugleich aber anspruchsvolle Auseinandersetzung sowohl mit Genres und Formen als auch inhaltlich mit einzelnen Gedichten statt.
Enttäuschend ist einzig der 4. Teil von Bernhard Sorg, der sich einerseits zu spekulativen poetologischen Konstruktionen aufschwingt, die in keinem zeitgenössischen Text verankert werden, andererseits bei der Interpretation konkreter Beispiele aber derart flach bleibt, dass einige seiner Deutungen kaum über ein räsonierendes Nacherzählen des Gedichts hinauskommen. Und dass einer „die Epoche des Realismus“ in der deutschen Lyrik behandelt, dabei aber den Namen Fontanes nicht an einer einzigen Stelle auch nur erwähnt, wird ihm wahrscheinlich auch so rasch keiner nachmachen wollen.
Bei den letzten beiden Teilen fällt natürlich auch dem Nichtfachmann auf, wie stark die Darstellung gedrängt und kursorisch bleiben muss; hier wäre eine deutlich erweiterte Geschichte der deutschen Lyrik im 20. Jahrhundert wünschenswert. Immerhin sollte lobend erwähnt werden, dass Ralf Schnell ein Kapitel seiner Darstellung der deutschen Lyrik zwischen 1933 und 1945 widmet (NS-Lyrik, Innere Emigration, Widerstand und Exil), wobei auch hier nicht mehr als repräsentative Schlaglichter geboten werden können.
Insgesamt ein trotz der sehr unterschiedlichen Ansätze der Autoren (offenbar hat man sich in Stuttgart nicht sehr bemüht, wenigstens eine einzige Germanistin ausfindig zu machen, die über Lyrik schreiben kann), empfehlenswerter Überblick, wobei ich die Teile 2 und 3 als besonders gelungen empfunden habe.
Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart: Reclam, 2004. Pappband, 755 Seiten. In dieser einbändigen Ausgabe nicht mehr lieferbar; verfügbar sind die sechs Teilbände innerhalb der RUB.