Aus gegebenem Anlass (XIII)

Reklamefahrten zur Hölle

In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:

Kraus_Annonce

Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?
Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.
Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.
Sie erfahren, daß 1½ Millionen eben dort verbluten mußten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist.
Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort.
Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.
Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon Sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten.
Sie begreifen, daß es veranstaltet wurde, damit einmal, wenn von der Glorie nichts geblieben ist als die Pleite, wenigstens ein Schlachtfeld par excellence vorhanden sei.
Sie erfahren, daß es doch etwas Neues an der Front gibt und daß es sich heut dort besser leben läßt als ehedem im Hinterland.
Sie erkennen, daß das, was die Konkurrenz bieten kann, die bloß über die Toten der Argonnen- und Somme-Schlachten, über die Beinhäuser von Reims und St. Mihiel verfügt, eine Bagatelle ist neben der erstklassigen Darbietung der Basler Nachrichten, denen es unzweifelhaft gelingen wird, mit den Verlusten von Verdun ihre Abonnentenliste aufzufüllen.
Sie verstehen, daß das Ziel die Reklamefahrt und diese den Weltkrieg gelohnt hat.
Sie erhalten, und wenn Rußland verhungert, ein reichliches Frühstück, sobald Sie sich entschließen, dazu auch noch die Schlachtfelder von 1870/71 mitzunehmen, es geht in Einem.
Sie haben nach dem Mittagessen noch Zeit, die Einlieferung der Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen mitzumachen, und nach Absolvierung dieser Programmnummer noch Lust zum Nachtessen.
Sie erfahren, daß die Staaten, deren Opfer Sie in Krieg und Frieden sind, Ihnen sogar, und das will viel heißen, die Paßformalitäten ersparen, wenn die Reise aufs Schlachtfeld geht und Sie sich nur rechtzeitig bei der Zeitung ein Ticket besorgen.
Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen.
Sie werden Mühe haben, diese Paragraphen nicht zu übertreten, aber dann den Basler Nachrichten ein Anerkennungs- und Dankschreiben schicken.
Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.
Und wenn Sie dann noch nicht erkannt haben, daß Sie durch Ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind und daß eine Menschheit, die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat, durch und durch aus Schufterei zusammengesetzt ist und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt und gegen sie keine Hilfe – dann hol‘ Sie der Teufel nach einem Schlachtfeld par excellence!

Karl Kraus
Die Fackel, Nr. 577-582 (Nov. 1921)

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne

Nirgends lagen modernitätsbejahender Optimismus und modernitätskritischer Eskapismus im wilhelminischen Deutschland der Vorkriegszeit wohl so dicht nebeneinander wie im akademischen Milieu.

Kroll-Geburt-der-ModerneEine kurze, dennoch alle wesentlichen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte ansprechende Geschichte des deutschen Kaiserreichs zwischen etwa 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die erkenntnisleitende These lautet, dass sich die Rede von einem deutschen Sonderweg, die in einem prominenten Teil der historischen Literatur zum deutschen Kaiserreich vorherrscht, angesichts der vielfältigen, zu einem bedeutenden Teil widersprüchlichen Tendenzen dieser Epoche, die sich in vergleichbarer Ausprägung immer auch in anderen westeuropäischen  Staaten finden lassen, kaum aufrecht erhalten lässt. Zum Glück für den Leser orientiert sich Krolls Darstellung aber nicht an dieser ideologischen Leitlinie, sondern konzentriert sich weitgehend auf konkrete Daten und Fakten.

Der Fachmann wird wahrscheinlich die Darstellung in seinem jeweiligen Spezialgebiet notwendig verkürzt und daher ein wenig schief finden, aber das gezeichnete Gesamtbild scheint durchaus stimmig und gibt wohl im Großen und Ganzen einen zutreffenden Eindruck von der sehr dynamischen Entwicklung Deutschlands in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist es sicherlich so, dass Krolls Darstellung für den historischen Laien oft zu knapp ausfällt, so dass sich das Buch für einen ersten Überblick nur bedingt eignet. Doch sowohl als Propädeutik zu weiterer Lektüre als auch zur konzisen Auffrischung des Gedächtnisses kann das informative Büchlein nur empfohlen werden.

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 216 Seiten. 4,50 €.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Eckhard Henscheid / Immanuel Kant: Der Neger (Negerl)

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Angesichts der sich gerade überschlagenden Diskussion um das Übersetzen literarischer Texte in eine gerechte Sprache – es wird für nachfolgende Jahrhunderte wenige andere vergleichbar schlagende Beispiele für die vollkommene Bodenlosigkeit der rezenten Kulturstufe geben – sei wenigstens an dieser Stelle an ein kleines Büchlein aus den goldenen Zeiten des seligen Haffmans Verlages erinnert. Nur zum Zwecke der Demonstration soll hier zumindest eine Stelle ausführlicher zitiert werden:

Goethe war kein Neger noch scherte er sich viel um sie. Ganz anders dagegen Franz Kafka. Er legte dem Brief an Felice vom 24. 11. 1912 eine Notiz aus dem ›Prager Tagblatt‹ vom 25. 9. über die »Seligsprechung der 22 christlichen Negerjünglinge von Uganda« bei, welche »als erste Blutzeugen vor 26 Jahren für den Glauben den Verbrennungstod erlitten«:

Wie aus Rom von der Zentrale der St. Petrus Claver-Sodalität gemeldet wird, waren die Kardinäle, welche die Angelegenheit zu beraten hatten, über den Heldenmut der jugendlichen Märtyrer bis zu Tränen ergriffen. Es herrscht über die Nachricht des eingeleiteten Se­lig­spre­chungs­ver­fah­rens allenthalben bei den Negern und besonders bei denen von Nord-Viktoria-Nyanza, der Heimat der ersten Märtyrer, der größte Jubel, den sie in Tänzen und Sprüngen zum Ausdruck brachten.

Kafka beauftragt Felice, den Artikel aufzubewahren, und kommentiert: »Fast jeden zweiten Tag finde ich in der Zeitung eine derartige, für mich allein bestimmte Nachricht.«

Abgesehen von Kafkas überaus einleuchtender Nachrichten- und Medientheorie (jeder muß nur je einen Artikel in je einer Zeitung lesen) – […]

Jeder denkende Mensch mache sich bitte klar, dass falls die die Diskussion beherrschenden Hysteriker den Sieg davontragen werden (und alles sieht danach aus), ein solcher Text nie wieder wird gedruckt werden können. Das ist zwar keine Zensur, wie die Nichtsnutze der anderen Seite schreiend behaupten, aber es ist schlimmer: Es handelt sich um die Selbstverstümmelung einer Kultur aufgrund galoppierender Dummheit.

Eckhard Henscheid / Immanuel Kant: Der Neger (Negerl). Zürich: Haffmans, 1988. Pappband, Fadenheftung, 174 Seiten. Nie wieder im Buchhandel erhältlich.

Allen Lesern ins Stammbuch (51)

Denn sie wissen Bescheid von allem und ihre Sprache hat eben noch den Zweck, ihnen Bescheid zu sagen. Kein Volk lebt so weit wie dieses von der Sprache als der Quelle seines Lebens. Es schreibt heute das abgestutzte Volapük des Weltkommis und wenn es die Iphigenie nicht gerade ins Esperanto übersetzt, so überläßt es das Wort seiner Klassiker der schonungslosen Barbarei aller Nachdrucker und entschädigt sich in einer Zeit, in der kein Mensch mehr das Schicksal des Wortes ahnt und erlebt, durch Luxusdrucke und ähnliche Unzucht eines Ästhetizismus, der das echtere Stigma des Barbarentums ist als das Bombardement einer Kathedrale, und wäre sie selbst kein militärischer Beobachtungsposten. Denn die ganze Menschheit ist einer; und sie lügt, wenn sie glaubt, ihre Bildung sei ein Beweis gegen ihre Grausamkeit und nicht für diese.

Karl Kraus

Allen Lesern ins Stammbuch (50)

Am besten an der Anwendung zu kennen.

Sind ihrer Manche, die vielerlei Reguln und Richtschnuren fertigen, wie der Dichter es solle machen, wenn er dichtet. Sind ihrer aber eben so Wenige, die das Ding mit den Richtschnuren recht inne haben, als klein guter Dichter Zahl ist. Da setzen sich nun die Regulgeber hin, und meinen’s auszugrübeln, was da Natur sey, und kennen doch keine Erfahrung; und ertappen sie ja ’mal was, das nach Natur aussieht, so können sie doch nicht damit umgehn, stellen’s schief hin, werfen’s durch ’nander, und wenn’s nun gar recht zu dem geht, worauf’s allein ankommt, so wissen sie vollends weder aus noch ein. Da sieht man’s wenn sie sich selbst was unterfangen, und mit ihrem Schifflein aufs weite Meer hinausfahren, da bleiben sie auf allen Sandbänken sitzen, und ist kein Fels wo, auf den sie nicht stoßen.

Friedrich Gottlieb Klopstock
Die deutsche Gelehrtenrepublik

Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau

978-3-451-22995-4Sehr detaillierte Darstellung der Reise Konrad Adenauers nach Moskau im September 1955 einschließlich der Vorgeschichte beginnend mit der sowjetischen Einladung vom 7. Juni des Jahres bis hin zu den ersten Monaten der diplomatischen Beziehungen, die als Folge der Reise etabliert wurden. Kilian konzentriert sich nahezu vollständig auf die politische Ebene der Reise inklusive der Einschätzungen und Reaktionen der drei westlichen Siegermächte. Er macht Adenauers innen- und außenpolitische Taktik und seine Verhandlungsführung in Moskau plausibel durch die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Zielvorstellungen, die er gleichzeitig zu erfüllen suchte: Klärung der Frage der verbliebenen Kriegsgefangenen sowie der Zivilverschleppten, Demonstration der Bündnistreue dem Westen gegenüber, Demonstration einer eigenständigen deutschen, weltpolitischen Position, Durchsetzung seiner Auffassung, dass die Frage der deutschen Einheit Aufgabe der vier Siegermächte sei und letztlich Vermeidung auch nur des Anscheins der Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs der BRD.

Es wird in der Konsequenz klar, dass man Adenauers Reise je nach Perspektive durchaus als Erfolg oder Niederlage werten kann: Sicherlich war sie einerseits innenpolitisch ein unerwartet großer Erfolg, der sich markant im Wahlergebnis von 1957 niedergeschlagen hat, andererseits hatte man in Moskau nur ein einziges Verhandlungsziel überhaupt erreicht – die Gefangenenentlassung, von der wir heute wissen, dass die Sowjetführung sie ohnehin auf der Agenda stehen hatte – und musste dafür im Gegenzug der sowjetischen Seite die Aufnahme normaler diplomatischer Beziehungen einräumen. Damit hatten die Gegenseite ihr einziges Verhandlungsziel vollständig erreicht.

Was bei Kilian etwas zu kurz kommt, ist die gesellschaftliche Ebene, sowohl was die Voraussetzungen der Reise angeht, als auch die euphorische Reaktion der Westdeutschen auf das Eintreffen der letzten 10.000 Kriegsgefangenen. Besonders die doch sehr unterschiedliche Behandlung der Kriegsheimkehrer in West- und Ostdeutschland hätte man sich etwas ausführlicher dargestellt gewünscht. Aber man kann nicht alles haben.

Mir persönlich ist die Darstellung an einigen Stellen zu Adenauer-freundlich, insgesamt steht das Buch aber völlig konkurrenzlos da und muss derzeit als beste Informationsquelle zu diesem wichtigen Abschnitt deutscher Geschichte bezeichnet werden.

Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau. Freiburg i.B.: Herder, 2005. Broschur, 381 Seiten. 15,– €.

Jahresrückblick 2011

In news:de.rec.buecher wird zum Jahresende regelmäßig die Frage nach den drei besten und drei schlechtesten Büchern gestellt, die man im vergangenen Jahr gelesen habe. Da ich drb inzwischen nicht mehr verfolge, werde ich von nun an meinen Jahresrückblick hier publizieren.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe – solche Bücher erscheinen einmal in zehn, vielleicht auch nur einmal in zwanzig Jahren.
  2. Wolfgang Koeppen: Trilogie des Scheiterns – eine der wenigen gelungenen deutschsprachigen Fortsetzungen der frühen europäischen Moderne nach dem zweiten Weltkrieg.
  3. Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe – ein erstaunlich vielfältiges Buch auf gewollt reduzierter Basis.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2011:

  1. Michel Onfray: Anti-Freud – redundante und dumme Polemik gegen eine missverstandene Vaterfigur.
  2. Matthias Matussek: Wir Deutschen – »Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte.«
  3. Janne Teller: Nichts – hybrider und banaler Versuch über den Nihilismus.

 

Stephen King: 11/22/63

king-11-22-63Nach sicherlich mehr als 20 Jahren der erste Stephen King, der mich wieder interessiert hat. Wie der Titel und noch mehr das Cover des Buches klar machen, geht es um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas. Gemäß dem Nachwort des Autors ist das Roman-Projekt etwa 40 Jahre alt, erschien King Anfang der 70er Jahre aber als zu aufwändig. Inzwischen ist King Inhaber einer gut laufenden Literatur-Werkstatt, die ihm in solchen Fällen zuarbeiten kann. Wer allerdings damit rechnet, in diesem Buch irgendwelche Einsichten zum Kennedy-Attentat zu finden, die über jede beliebige populäre Darstellung der Ereignisse hinausgeht, ja sie auch nur einholt, wird sich enttäuscht sehen. Das Buch ist in jeder Hinsicht banal.

Erzählt wird es von einem etwa 30 Jahre alten Englischlehrer, Jake Epping, der vom Besitzer eines Schnellrestaurants seiner Kleinstadt in ein Geheimnis eingeweiht wird: Im Hinterraum des Restaurants findet sich eine unsichtbare Treppe, die hinunter ins Jahr 1958 führt. Diese Tür in die Vergangenheit folgt einigen merkwürdigen Gesetzen: Jeder Gang in das Jahr 1958 führt immer an denselben Zeitpunkt und wenigstens auf den ersten Blick immer zu derselben Ausgangskonstellation. Jede Veränderung, die der Zeitreisende an der Vergangenheit vornimmt, wird durch seinen nächsten Besuch also wieder aufgehoben. Zum anderen vergehen in der Gegenwart immer nur zwei Minuten zwischen dem Beginn und dem Ende der Zeitreise, ganz gleich wie lange der Zeitreisende in der Vergangenheit bleibt.

Der Restaurantbesitzer, Al, hat diesen Zugang jahrelang dazu genutzt, um im Jahr 1958 preiswert Fleisch für sein Restaurant einzukaufen, bis er auf den Einfall gekommen ist, ihn für etwas Sinnvolleres zu gebrauchen. Sein Plan war es, das Kennedy-Attentat zu verhindern, auch hat er einige Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet, wurde dann aber mit Krebs diagnostiziert und ist nun auf den Tod erkrankt und vererbt Jake sein großes Projekt zur Verbesserung der Gegenwart. Seiner Idee liegen folgende Annahmen zugrunde: Lee Harvey Oswald war als Einzeltäter verantwortlich für die Ermordung Kennedys, und Kennedys Überleben verhindert die Ausweitung des Vietnam-Krieges, die Ermordung Martin Luther Kings und die Rassenunruhen in den USA.

Nach einem Probelauf, der nur halbwegs erfolgreich verläuft, entschließt sich Epping, den Plan auszuführen. Offensichtlich muss er zu diesem Zweck mehr als fünf Jahre in der Vergangenheit verbringen, was King die Chance gibt, ein Zeitporträt der USA dieser Jahre zu liefern. Dieser Teil des Romans ist ordentlich recherchiert, zielt aber offenbar auf Leser ab, die sich nicht für die anderen Romane, die diese Zeit beschreiben, interessieren und das alles nur deshalb lesen, weil es in einem King-Roman vorkommt. Weder ist Kings Bild der Zeit irgendwie überraschend, noch von originellen Perspektiven oder Einsichten getragen. Um das ganze ein wenig interessanter zu machen, erfindet King für seinen Protagonisten eine etwas schmalzige Liebesgeschichte, die ihre Energie aus der sexuellen Verklemmtheit der 50er Jahre bezieht, der man aber immerhin zugestehen muss, dass King auf die in der Trivialliteratur inzwischen weit verbreitete exzessive Darstellung des Geschlechtsaktes verzichtet. Dies wird durch mehrere explizit gewalttätige Szenen mehr als ausgeglichen.

King braucht immerhin bis zur Hälfte des Romans, bis Oswald zum ersten Mal auftritt, und er braucht weitere hunderte, endlose Seiten bis es endlich zum entscheidenden Punkt kommt: Epping schafft es gegen nahezu überwältigende Widerstände der Vergangenheit gerade so, das Attentat zu verhindern, doch kommt dabei natürlich seine große Liebe ums Leben. In die Gegenwart zurückgekehrt, muss er allerdings einsehen, dass sein Eingreifen in den Ablauf der Geschichte zu katastrophalen Zuständen geführt hat: Die gesamte Welt wird von tektonischen Unruhen erschüttert, die den Planeten zu vernichten drohen (die schlechthin nur als blödsinnig zu bezeichnende Erklärung hierfür erspare ich mir nachzuerzählen), die alltäglichen Verhältnisse in den USA sind weit mehr als zuvor von Armut, Gewalt und offenem Rassismus gekennzeichnet, und überhaupt hat sich, wie ihm in einem auf wenige Seiten zusammengedrängter Überblick über die Geschichte nach 1963 zeigt, alles zum Schlimmeren gewendet. Wie gut also, dass er alles wieder rückgängig machen kann; und so geschieht es denn auch. – Puh! Gerade noch einmal gut gegangen.

Erzählerisch wird hier ein sehr dünnes Brett gebohrt. Man mag King die grundsätzliche Schwäche verzeihen, die jegliche Zeitreise-Erzählung unausweichlich mit sich bringt. Zwar versucht er den schlimmsten Paradoxien durch seine merkwürdige Konstruktion zu entgehen, das erklärt aber nicht, warum sein Protagonist tatsächlich fünf Jahre warten muss, um das Attentat zu hindern: Er könnte Oswald auch bei erstbester Gelegenheit ermorden (dass er mit einer solchen Lösung nur wenig Schwierigkeiten hat, stellt er zuvor bereits unter Beweis), in die Gegenwart zurückkehren, schauen, ob sich der gewünschte Effekt eingestellt hat und im Fall des Nichtgelinges einfach den nächsten Versuch starten. Aber das taugt natürlich nicht für einen Hollywood-Showdown, wie King ihn offensichtlich beabsichtigt und seine Leser erwarten.

Viel ärger dagegen ist, dass King rücksichtslos Seiten schindet: Der Roman hat fürchterlichen Leerlauf, in dem nur Dinge und Ereignisse erzählt werden, die für die Fabel vollständig unerheblich und auch gänzlich beliebig sind und im besten Falle nur dazu dienen, die unvermeidlichen Ereignisse um nochmals zehn, zwanzig Seiten zu verzögern. Die wirklich interessanten Seiten des Stoffes bleiben dagegen komplett unterentwickelt: Weder erfährt der Leser auch nur ein neues oder originelles Detail zum Kennedy-Attentat, noch, und das ist das eigentliche Versäumnis des Buches, werden die politischen und historischen Folgen der Verhinderung des Kennedy-Attentats, also eine alternative Historie der USA und der Welt auch nur ansatzweise angemessen ausgeführt. Ich will einmal ganz davon absehen, dass die sogenannten Tatsachen des Kennedy-Attentats augenscheinlich  gegen die These des Einzeltäters sprechen, ohne dass damit gesagt sein soll, dass irgendeine der diskutierten Verschwörungstheorien diese Tatsachen besser zu erklären vermag.

Eine durch und durch enttäuschende Lektüre.

Stephen King: 11/22/63. Kindle-Edition, 2011. 1759 KB (853 Seiten). 11,99 €.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht

Das Leben ist was für andere.

978-3-518-46284-3Wahrscheinlich weitgehend autobiographisch unterfütterte Erzählung in alternierenden Kapiteln, die zum einen auf der Insel Usedom spielen, wo die Ich-Erzählerin Jenny die Ferien bei ihren Großeltern verbringt, während ihre Eltern an ihrer Trennung arbeiten, zum anderen in New York, Riga und dem heimatlichen Greifswald. Als roter Faden zieht sich die Faszination der Protagonistin für Seeleute durch alle Kapitel, auf die sich auch der Titel bezieht: »Blau steht dir nicht« ist der Kommentar der Großmutter zu Jennys Wunsch, Matrösin zu werden.

Erzählt wird recht locker; besonders die geradzahligen Kapitel, die nicht oder nicht nur auf Usedom spielen, sind durchsetzt mit Essayistischem: Mit Anekdoten zu Sergei Eisenstein und seinem Monumentalfilm über den Matrosenaufstand in Odessa sowie seinen Vater Michail, dem bedeutendsten Architekten des Rigaer Jugendstils. Oder über den letzten Zarewitsch Aljoscha, dem jüngsten Kind des letzten Zaren Nikolaus II., der nach der gängigen bürgerlichen Mode als ein kleiner Matrose ausstaffiert wurde. Oder einer kurzen biographischen Skizze Wolfgang Koeppens, der ebenso wie Judith Schalansky in Greifswald geboren wurde, oder einer Geschichte von den Luftschiffern des Grafen Zeppelin, auch sie Matrosen eines ganz anderen Meeres usw. usf. Der Text ist zudem durchsetzt mit zahlreichen Fotografien, die zum Teil das Erzählte illustrieren, zum Teil aber auch eine zusätzliche erzählerische Ebene bilden.

Kaum etwas an diesem sehr leichten Buch weist darauf hin, dass die Autorin nur drei Jahre später mit »Der Hals der Giraffe« einen motivisch und sprachlich hoch konzentrierten Roman folgen lassen wird. Eine solche erzählerische Spannbreite unterstreicht einmal mehr das außergewöhnliche Talent Schalanskys, von der wohl noch einige Überraschungen erwartet werden können.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. st 4284. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 141 Seiten. 7,95 €.