The helpfull thought for which you look is written somewhere in an book.
Vorausblickend auf Edward Goreys einhundertsten Geburtstag am 22. Februar 2025 druckt der Aufbau Verlag einen hübschen Sammelband, herausgegeben, eingeleitet und um ein biographisches und thematisches Gorey-ABC ergänzt von Walter Moers. Gorey war ein us-amerikanischer Illustrator und Autor, der durch seinen charakteristischen Stil bereits zu Lebzeiten eine Berühmtheit geworden ist – im deutschsprachigen Raum hat ihn der Diogenes Verlag bekannt gemacht –, nun aber ein wenig in Vergessenheit zu geraten und zu einem unter Lesern allgemein bekannten Geheimtipp zu werden droht.
Die Auswahl ist repräsentativ und die Übersetzungen durch Walter Moers sind durchweg gelungen, das Gorey-ABC kenntnisreich und bezogen auf den Erscheinungsort mehr als vollständig. Es ist ein gutes Zeichen, dass Moers sich nicht scheut, unter seine Übersetzungen der Verse Goreys die englischen Originalzeilen zu setzen. Auch Goreys Arbeit als Umschlag- und Merchandise-Gestalter wird angemessen dokumentiert (letzteres in Zusammenarbeit mit der Gorey-Sammlerin Silvia Stolz). Ergänzt wird all das durch ein Interview Goreys mit Clifford Ross, das, soweit ich sehe, hier wohl zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Dem Band liegt außerdem eine goreysche Illustration von Walter Moers mit dem oben zitierten Motto bei.
Ein Band für Gorey-Sammler und alle, die skurrilen Humor und die Stimmung viktorianischer Schauergeschichten lieben – hier lässt sich eine echte Entdeckung machen!
Edward Gorey. Großmeister des Kuriosen. Vorgestellt und mit Übersetzungen von Walter Moers. Sonderband der Anderen Bibliothek. Berlin: Aufbau, 2024. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 432 Seiten Kunstdruckpapier (215 × 230 mm). 68,– €.
Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.
Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!
Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.
Er liebte zu lesen, trachtete nach dem Wort und dem Geist, als nach einem Rüstzeug, auf das ein tiefer Trieb ihn verwies. Aber niemals hatte er sich an ein Buch hingegeben und verloren, wie es geschieht, wenn einem dies eine Buch als das wichtigste, einzige gilt, als die kleine Welt, über die man nicht hinausblickt, in die man sich verschließt und versenkt, um Nahrung noch aus der letzten Silbe zu saugen. Die Bücher und Zeitschriften strömten herzu, er konnte sie alle kaufen, sie häuften sich um ihn, und während er lesen wollte, beunruhigte ihn die Menge des noch zu lesenden. Aber die Bücher wurden gebunden. In gepreßtem Leder, mit Siegmund Aarenholds schönem Zeichen versehen, prachtvoll und selbstgenügsam standen sie da und beschwerten sein Leben wie ein Besitz, den sich zu unterwerfen ihm nicht gelang.
Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.
Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.
Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.
Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.
Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.
Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.
Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.
Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.
Das Jahr 2022 war ein etwas durchschnittliches Lektüre-Jahr, sowohl was die Menge der gelesenen und hier besprochenen Bücher angeht als auch nach deren Qualität. Wirklich negative Ausreißer gab es aber keine; es hat sich auch in diesem Jahr die Tendenz bei mir verfestigt, nur noch tote Autoren zu lesen, und der Anteil des Wiedergelesenen hat sich, so wenigstens mein ungeprüfter Eindruck, erhöht.
In der Erinnerung stechen hervor:
Gogols Tote Seelen, die in der Übersetzung von Vera Bischitzky sich als überraschend frisches Buch erwiesen.
Thomas Manns Der Erwählte, der seit über 40 Jahren zu meinen liebsten Büchern gehört.
Die beiden abschließenden Teile von Anthony Burgess The Malayan Trilogy in der Übersetzung von Ludger Tolksdorf.
Und – noch kurz vor Toresschluss – Joseph Conrads Lord Jim in der neuen Übersetzung von Michael Walter; wahrscheinlich der Höhepunkt dieses Lesejahres.
Sehr oft ist das Erzählen nur ein Substitut für Genüsse, die wir selbst oder der Himmel uns versagen.
Im Jahr 1951 erschien nach einer für Thomas Mann recht kurzen Entstehungszeit von nur etwas mehr als drei Jahren sein kürzester und zugleich sein letzter abgeschlossener Roman Der Erwählte. Es handelte sich um eine modernisierte, sanft parodistische Nacherzählung des Gregorius des Hartmann von Aue, den Mann schon in seinem Münchner Studium kennengelernt hatte. Der Stoff hatte in der Fassung der Gesta Romanorum im Doktor Faustus eine kleine Rolle gespielt, was dann eine intensive Beschäftigung mit dem kleinen Epos Hartmanns auslöste. Dabei hatte Mann durchaus Schwierigkeiten, sich das mittelhochdeutsche Original anzueignen, konnte auch in den USA eine vage von ihm erinnerte Übersetzung im Reclam Verlag nicht finden, doch erhielt er Hilfe vom Schweizer Mediävisten Samuel Singer, der ihn schon bei der Arbeit am Doktor Faustus unterstützt hatte und der seine Mitarbeiterin Marga Bauer den Text Hartmanns ins Hochdeutsche übertragen ließ. (Dankenswerterweise liefert der Kommentarband dieser Ausgabe die Übersetzung vollständig mit!) Auf dieser Grundlage entstand ab Anfang 1948 der kleine Roman.
Den Inhalt habe ich schon an anderer Stelle kurz skizziert. Der legendenhafte Stoff und die Freiheit, die ein weitgehend unbestimmt und ironisch geschildertes Mittelalter dem Autor ließ, sowie die Engführung der Parodie an der Vorlage haben Thomas Mann eine erzählerische Leichtigkeit erlaubt, wie sie in seinem Werk sonst nur in einigen seiner Erzählungen zu finden ist. Der Roman ist scheinbar mit leichter Hand wie nebenbei erzählt und weist die für Mann typische tonale Einheitlichkeit des Erzählens in einem besonderen Maße auf. Es liegt wahrscheinlich an dem etwas entlegenen Sujet, dass dieses Buch zu den eher unbekannten Thomas Manns gehört.
Die Neuedition innerhalb der Großen Frankfurter Ausgabe bringt im Textteil keine echten Verbesserungen, da die letzten Korrekturfassungen des Romans komplett verloren gegangen sind; es wird deshalb der im März 1951 innerhalb der Stockholmer Werkausgabe erschienene Text nachgedruckt. Dafür glänzt aber auch dieser Teil der aktuellen Werkausgabe mit einem umfangreichen Kommentarband, der neben einem Einzelstellenkommentar nicht nur Entstehungsgeschichte und Rezeption minutiös dokumentiert, sondern, wie oben schon angedeutet, unter anderem auch die beide wichtigen Quellentexte reproduziert, die Mann benutzt hat. Für alle Freunde des Romans eine reiche biographische und stoffliche Fundgrube.
Thomas Mann: Der Erwählte. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe Bd. 11. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2021 (erschienen 2022!). Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 302 (Text) + 559 (Kommentar) Seiten. 139,– €. Beide Bände sind auch einzeln lieferbar.
Ich habe auf dem Nachttisch eine kleine Handbibliothek stehen von einigen hübschen Büchlein, die ich immer gern zur Hand habe. Der Bestand ist fließend, aber sehr träge fließend, und im letzten Jahr ist ein neuer Band hinzugekommen. Ich hatte ihn extra zu diesem Zweck bestellt und nach ein wenig Blättern dort abgestellt. Erst gestern aber fiel mir auf, dass dort ein Band mit den sämtlichen Gedichten Mörikes stand.
Nun habe ich nichts gegen die Lyrik Mörikes, aber so nahe sind mir die Gedichte des Pastors von Cleversulzbach dann doch nicht, dass sie an diesen Ort gehört hätten. Ein erneutes Blättern in dem Band ließ mich noch mehr stutzen, denn die Verse lasen sich so gar nicht, wie ich Mörike in der Erinnerung hatte.
Erst ein Blick aufs Titelblatt klärte mich zu meiner Erleichterung auf: Der Fehler lag, lieber Brutus, wenigstens diesmal nicht in meiner Brust, sondern beim Buchbinder. Na, wenigstens sind es beides Schwaben. Wahrscheinlich ist es nicht das einzige Exemplar dieses Kuriosums.
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte und Hyperion. Berlin: Insel, 72020. Bedruckter Leinenband, 665 Seiten. 22,– €.
«Ihr tut meinem Beruf zu viel Ehre an», sagte Yoomy. «Wir Sänger singen unsre Lieder ganz unbekümmert, edler Herr Media.»
«Ja und umso mehr Unheil verursachen sie.»
«Doch manchmal sind wir Dichter auch lehrreich.»
«Lehrreich und öde. Viele von euch langweilen allzu gern, außer sie sind boshaft.»
«Doch in unseren Versen, edler Herr, führen nur wenige von uns Böses im Schilde.»
«Seid ihr auch für euch selbst harmlos, so doch nicht für Mardi.»
«Entspringen schmutzige Flüsse nicht oftmals klaren Quellen, edler Herr?», bemerkte Babbalanja. «Die Essenz alles Guten und Bösen ist in uns und nicht außerhalb. Die Blumen, auf denen sich Bienen und Wespen nebeneinander niederlassen, enthalten weder Gift noch Honig. Natur ist eine unbefleckte Jungfrau, edler Herr, die stets unverhüllt vor uns steht. Echte Poeten malen nur den Zauber, den alle Augen schauen. Die Verderbten wären auch ohne sie verderbt.»
Als sich Lombardo ans Werk machte, wusste er nicht, was es werden würde. Er mauerte sich nicht in Pläne ein, er schrieb drauflos; und dadurch drang er immer tiefer in sein Inneres. Wie ein beherzter Reisender, der sich durch trügerische Wälder schlägt, wurde er schließlich für seine Mühen belohnt.
Zum 200. Geburtstag Melvilles legt Manesse noch einmal dessen dritten Roman Mardi vor, der vor 170 Jahren erschienen ist. Melville hatte seine Laufbahn als Autor mit zwei Südsee-Romanen (Typee (1846) und Omoo (1847)) begonnen, die auf das allgemeine Interesse der Zeit an Reisebeschreibungen und die voyeuristischer Neugier auf die Südsee-Insulaner im Besonderen trafen und vergleichsweise erfolgreich waren. Natürlich waren Verleger und Publikum an einer Fortsetzung dieser Linie interessiert, aber Melville selbst war durch die Wiederholung des ewig Gleichen offenbar gelangweilt. Ihm ging es eher darum, seine Möglichkeiten als Autor auszutesten und den Rahmen dessen, was in einem Roman möglich war, auszuloten. Daher heißt es schon im kurzen Vorwort zum Roman:
Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann: in gewissem Grade die Umkehrung meiner vorigen Erfahrung.
Dementsprechend fängt Mardi als ein ziemlich konventioneller Seefahrer-Roman an: Der Ich-Erzähler hat auf einem Walfänger angeheuert, um von einer der Südsee-Inseln fort und über die Zwischenstation der Galapagos-Inseln wieder in zivilisiertere Gebiete zu kommen. Doch der Kapitän der Arcturion ändert, da das Jagdglück ausbleibt, seinen Kurs nach Norden, um in arktischen Gewässern Wale zu finden. Der Erzähler macht sich deshalb zusammen mit einem Schiffskameraden nachts heimlich von Bord, um zurück zu den Südsee-Inseln zu segeln, solange sie noch erreichbar sind. Nach einiger Zeit schon ganz in der Nähe ihres Ziels stoßen die beiden Deserteure – die inzwischen von einem treibenden Schiff einen Eingeborenen als Passagier aufgelesen haben – auf ein Floß, auf dem ein älterer Priester und seine drei Söhne eine offenbar weiße, junge Frau transportieren. Als der Erzähler begreift, dass der Priester vorhat, das Mädchen Yillah zu opfern, tötet er diesen eher beiläufig und entführt sie.
Auf der Insel, die die kleine Reisegesellschaft kurze Zeit später erreicht und die zur fiktiven Inselgruppe Mardi gehört, die dem Roman seinen Titel gibt, wird der Erzähler als Personifikation des Halbgottes Taji angesprochen und zusammen mit seinen Gefährten entsprechend wohlwollend aufgenommen. Es beginnt eine kurze Episode paradiesischen Glücks, bis eines Tages Yillah spurlos verschwunden ist. Taji macht sich zusammen mit König Media, dem Philosophen Babbalanja, dem Poeten Yoomy und dem Historiker Mohi auf die Suche nach Yillah, womit der eigentliche, fantastische Teil der Reise durch Mardi beginnt. Von dieser Stelle an wandelt sich der Charakter des Textes zum Teil von Kapitel zu Kapitel: Zuerst findet sich eine Swiftsche Satire diverser Sitten und Institutionen, aber schon bald schweift das Buch über zu Gesprächen über Philosophie, Waljagd und Paläontologie, Freiheit und Notwendigkeit, Deismus und Atheismus, der Allmacht Gottes, Demokratie und Monarchie, Poetik und Geschichtsschreibung und was der Dinge mehr sind. Innerhalb der Reise durch Mardi findet auch eine komplette Weltumsegelung statt, bei der Charakterisierungen ganzer Kontinente, aber auch einzelner Länder vorgenommen werden. Es findet sich eine Verhöhnung Englands ebenso wie eine scharfe Kritik der Sklaverei in den USA – nicht nur, aber besonders die Südstaaten betreffend – und auch satirische Portraits einzelner Politiker. Auch die Februarrevolution wird als zerstörerischer Vulkanausbruch im Reiche Franko allegorisiert.
Man kann nicht wirklich sagen, ob das Buch mit seinen 800 Seiten zu kurz oder zu lang geraten ist. Bis auf den roten Faden der Suche nach Yillah und der Verfolgung Tajis durch die drei Söhne des getöteten Priesters ist die zweite Hälfte des Romans weitgehend formlos und anekdotisch. Er dokumentiert die weitgreifende Belesenheit des Autors, sein ernsthaftes Interesse an letzten Fragen, sein eigenwilliges religiöses Denken und nicht zuletzt sein politisches Engagement – von hier aus betrachtet, wird auch Moby-Dick zu einer deutlich politischeren Lektüre. Sowohl in seiner Auflösung der Form als auch in seinen enzyklopädischen Neigungen ist Mardi ein entscheidender Schritt Melvilles auf dem Weg zum Jahrhundertautor, der er durch Moby-Dick nur zwei Jahre später werden sollte.
Manesse hat die gute, moderne (und überhaupt einzige) Übersetzung des Romans komplett neu gesetzt, die Endnoten des Übersetzers in Fußnoten verwandelt – was angesichts der Tatsache, dass einige Teile des Textes für die meisten Leser doch der Erläuterung bedürfen, eine gute Entscheidung ist – und damit insgesamt ein sehr schönes Buch vorgelegt, bei dem einzig die Fadenheftung fehlt, um es als vollständig gelungen anzusehen.
Herman Melville: Mardi und eine Reise dorthin. Aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Rainer G. Schmidt. Zürich: Manesse, 2019. Pappband, Lesebändchen, 824 Seiten. 45,– €.
– nachdem man den letzten Hohenzollern, Wilhelm II., von dem man sagt, er habe eine Kopfprothese getragen, abgesetzt hatte –
Herbert Rosendorfer
Nachdem hier bereits der Band zum Untergang der K.-u.-k.-Monarchie besprochen wurde, folgt nun das Pendant zum Deutschen Kaiserreich. Lothar Machtan stellt den letzten Hohenzollern-Herrscher in das Zentrum der ersten Hälfte seiner Darstellung; in der zweiten folgt dann der Blick auf die Entwicklung in den letzten Kriegsmonaten in Deutschland und die konkreten politischen Abläufe Ende Oktober, Anfang November 1914, die zum Sturz des Kaisers und zur Errichtung der ersten Demokratie auf deutschem Boden geführt haben.
Machtan teilt deutlich die allgemeine Abneigung gegenüber Wilhelm II. Er zeichnet das Porträt eines eitlen, überheblichen, unfähigen und von der Realität weit entfernten Herrschers, der bis zum Ende nie recht verstanden hat, warum die politische Entwicklung ihn hinter sich gelassen hat. Neben dieses Bild stellt Machtan das zweier weiterer Hauptakteure des Umbruchs: Prinz Max von Badens, des letzten Reichskanzlers des Kaisers, und Friedrich Eberts, des Führers der Mehrheits-SPD, Nachfolgers des Prinzen und späteren Reichspräsidenten. Auch der Kaiserin Auguste Viktoria wird einige Aufmerksamkeit gewidmet; alle weiteren Akteure spielen nur Nebenrollen bei Machtan. Weder Erich Ludendorff oder Paul von Hindenburg noch Philipp Scheidemann sind angemessen gewichtet, um nur die drei offensichtlichsten Kandidaten zu nennen. Auch Machtans praktische Gleichsetzung der USPD und ihres Programms mit den Interessen und Ansichten des Volkes ist sicherlich eine ungeschickte Verkürzung.
Wie bereits erwähnt, schildert das Buch in seiner zweiten Hälfte die Zeit des Umbruchs vom Kaiserreich zum revolutionären Endstadium des Deutschen Reichs, das zur Weimarer Republik führen wird. Dabei schildert Machtan hauptsächlich die Vorgänge in Berlin und im Hauptquartier der OHL in Spa; auch hier bleiben etwa die Matrosenaufstände in Kiel oder die revolutionäre Entwicklung in München ganz und gar randständig. Das, was Machtan schildert, ist gut und mit hoher Detailkenntnis dargestellt. Ob allerdings tatsächlich eine ausführliche Schilderung des Interieurs der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 (mit einem Grundriss des Erdgeschosses) für das Verständnis der Revolution fruchtbar ist, darf immerhin bezweifelt werden. Am spannendsten dürfte Machtans These sein, dass es Ludendorffs Nachfolger General Wilhelm Groener war, der gegenüber Prinz Max von Baden die Abdankung Wilhelm II. als Kaiser und preußischer König telefonisch bestätigte, bevor die entsprechenden Entscheidungen in Spa gefallen waren, und so Tatsachen geschaffen hat, die für den weiteren Verlauf der Revolution entscheidend waren.
Ein gut lesbares, in Details sehr interessantes Buch, das sich aber für einen Überblick zur November-Revolution eher nicht eignet. Auch hätten die Charakterzeichnungen, insbesondere die des Kaisers, ruhig etwas neutraler und differenzierter ausfallen dürfen.
Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, Lesebändchen, 350 Seiten. 24,– €.