Ein – um es höflich zu sagen – recht seltsames Buch. Yann Martel hatte 2001 den von ihm lange erwarteten Durchbruch mit „Life of Pi“, in dem er zu Anfang beklagt, mit seinem vorangegangenen Buch nicht den erhofften Erfolg gehabt zu haben und deshalb nun einen Bestseller schreiben zu wollen, was ihm dann auch offensichtlich gelungen ist. Vorangegangen war eine Sammlung von Erzählungen, “The Facts Behind the Helsinki Roccamatios” (1993), in der besonders die Titelerzählung herausragt, in der der Erzähler und sein aidskranker Freund gemeinsam die Geschichte einer italienischen Einwandererfamilie in Helsinki erfinden, sowie der Roman “Self” (1996), der in der Hauptsache dadurch auffiel, dass der Protagonist mitten im Roman das Geschlecht wechselt. Beide Bücher waren das, was man Kritikererfolge nennt; beide wurde auch ins Deutsche übersetzt (1994 und 1996).
Wer nach der Veröffentlichung von „Life of Pi“ die Meldungen um Yann Martel etwas verfolgte, gewann den Eindruck, dass das nächste Buch des Autors wieder eher ungewöhnlich sein würde (vgl. z. B.: hier oder hier). Es sollte sich um eine Kombination von Erzählung und Essay handeln, die im Herbst 2008 als Dos-à-dos erscheinen sollten. Stattdessen erschien nun 2010 „Beatrice and Virgil“, auf dessen ersten Seiten ein Buchprojekt des Protagonisten Henry, das aus einer Rücken an Rücken publizierten Kombination aus Erzählung und Essay bestehen sollte, von einer Tafelrunde von Verlegern ergänzt um einen Buchhändler und einen Historiker beerdigt wird. Henry ist dadurch so frustriert, dass er die Schriftstellerei aufgibt und sich anderen kreativen Feldern zuwendet.
Doch von Zeit zu Zeit erhält Henry noch Leserbriefe als Reaktionen auf seinen vorangegangenen Bestseller. Darunter findet sich eines Tages auch ein Brief, der Fotokopien von Flauberts Erzählung „Die Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen“ mit zahlreichen Anstreichungen enthält sowie eine Szene aus einem Theaterstück, in der sich zwei Figuren – Beatrice und Virgil – über die Vorzüge der Birne unterhalten. In der Erzählung Flauberts, die nun in einiger Ausführlichkeit zitiert wird, sind alle die Stellen markiert, an denen der Protagonist Julian Tiere tötet; Henry versteht dies als Anspielung auf sein eigenes, erfolgreiches Buch, in dem ebenfalls Tiere wichtige Rollen spielen. Die Szene aus dem Theaterstück macht Henry schließlich so neugierig, dass er dem Absender antwortet und ihn dann auch persönlich aufsucht. Es handelt sich um einen Tierpräparator, der in seiner Stadt lebt, und offenbar seit Jahren an jenem Theaterstück schreibt, dessen Figuren sich als ein Esel und ein Affe erweisen, die sich auf dem Hemd des Insassen eines Konzentrationslagers über Gott und die Welt unterhalten.
Es folgt nun eine langwierige Auseinandersetzung mit diesem Stück, wiederum anhand ausgiebiger Zitate, das sich immer deutlicher darauf zuspitzt, dass es ein Stück über die Unsagbarkeit der Erfahrungen des Holocaust ist. Je länger das Stück ausgebreitet wird und je länger der Roman Martels wird, desto deutlicher wird dem Leser, dass der Autor weder einen blassen Schimmer hat, worauf das Ganze hinauslaufen soll, noch wie er sich die nun einmal so eingefädelte Geschichte wieder vom Hals schaffen kann. Martel führt deshalb eine völlig überraschende, weder erzählerisch vorbereitete noch einsichtige Wendung herbei, indem er Henry plötzlich erkennen lässt, dass es sich bei dem Tierpräparator um einen Nazi-Kollaborateur handelt, der daraufhin versucht, Henry zu erstechen und sich anschließend mit seinem gesamten Laden und dem Stück verbrennt. Durch das Aufschreiben dieser ganzen Geschichte, wobei er allerdings das Stück aus dem Gedächtnis rekonstruieren muss, wird Henry wieder zum Schriftsteller.
Das Buch ist ein durch und durch missratenes literarisches Experiment, das weder seinem Thema noch Martels literarischer Begabung in irgendeiner Weise gerecht wird. Die Sache wird in der deutschen Ausgabe noch dadurch verschlimmert, dass der Verlag das Buch „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ nennt, was nicht nur den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um das im Buch beerdigte Buchprojekt, sondern was auch dem ausdrücklichen Entschluss des Erzählers auf den letzten Seiten des Buches widerspricht. Aber ein Unglück kommt eben selten allein.
Yann Martel: Beatrice and Virgil. Edinburgh u. a.: Canongate, 2010. Broschur, 213 Seiten. Ca. 9,– €.