Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha

Mit einem besonderen Gruß an den Buchladen Zur Schwarzen Geiß.
Ich möchte schweigen, aber ich soll nicht schweigen und ich kann nicht schweigen.

978-3-905707-45-8Fritz Mauthner (1849–1923) dürfte sich hart an der Grenze des kulturellen Gedächtnisses bewegen. Während meines Studiums waren seine »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« noch viel besprochen, wenn auch wenig gelesen. Damals erschien auch noch einmal seine umfangreiche Geschichte des Atheismus im Abendland, und sein als Wörterbuch unbrauchbares, als Lektüre aber anregendes »Wörterbuch der Philosophie«, das er selbst als eine Fortsetzung der »Beiträge« verstand, war bei Diogenes als überdimensioniertes Taschenbuch lieferbar. Vom Dichter Fritz Mauthner wollte man aber schon damals nichts mehr wissen. Um so mehr überraschte es mich, dass mir jetzt eine Neuausgabe seiner Erzählung um den Tod Gautama Buddhas in die Hände fiel.

Der 1913 erstmals erschienene Text ist eine direkte Reaktion auf die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Popularisierung buddhistischen Gedankengutes in Europa. Erzählt werden die letzten Tage Gautama Buddhas, stofflich weitgehend orientiert an den Legenden. Inhaltlich allerdings nimmt Mauthner, ähnlich wie es später auch Hermann Hesse in seinem »Siddhartha« tun wird, eine deutlich distanzierte Haltung zu der offenbar als zu pessimistisch empfundenen Lehre ein. Mauthner lässt seinen Buddha nicht nur die Abkehr von allem Weltlichen hin zu einer Bewunderung der Schönheit der Welt und des Lebens überwinden, er erfindet auch eine letzte Lehrpredigt Buddhas hinzu, die sogenannte Schmetterlings-Predigt, in der die bunten Flattermänner zum großen Paradigma einer lebensbejahenden Existenz ohne Wollen und Denken geraten.

Etwas spannender als diese religiöse Gymnastik gerät die Beschreibung der Jünger des Erleuchteten. Während sich Buddha um letzte Einsichten und die Überwindung des Sterbens bemüht, finden unter seinen Schülern die ersten Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss in der zukünftigen buddhistischen Kirche statt. Hier findet sich Mauthners eigentliche Absage an den Buddhismus: Die Lehre Buddhas ist diskutabel, der kirchlich organisierte Buddhismus ist es nicht.

Ergänzt wird die Erzählung durch einige Seiten mit Anmerkungen, in denen Mauthner auf die Quellenlage und die moderne Rezeption des Buddhismus im Westen eingeht. Sprachlich dürfte die Erzählung, ebenso wie Hesses Pendant, heute als etwas schwülstig empfunden werden, ansonsten ist sie ein nettes, kleines Schmuckstück für alle, die sich ein wenig für Buddhismus oder Fritz Mauthner interessieren. Hervorzuheben wäre auch die typographische Gestaltung des Bandes, die das gängige Niveau deutlich überragt; wenn nur das Büchlein nicht so viele Druckfehler hätte.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Konstanz: Libelle, 2010. Pappband, 125 Seiten. 18,90 €.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer, wo
eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes erschienen ist.)

Statt einer Besprechung

Anlässlich meiner ich weiß nicht wievielten Lektüre von »Don Karlos« statt einer Besprechung dies:

»Ich habe jetzt etwas Wundervolles gelesen, etwas Prachtvolles …«, sagte er. Sie gingen und aßen gemeinsam aus einer Tüte Fruchtbonbons, die sie bei Krämer Iwersen in der Mühlenstraße für zehn Pfennig erstanden hatten. »Du mußt es lesen, Hans, es ist nämlich ›Don Carlos‹ von Schiller … Ich leihe es dir, wenn du willst …«
»Ach nein«, sagte Hans Hansen, »daß laß nur, Tonio, das paßt nicht für mich. Ich bleibe bei meinen Pferdebüchern, weißt du. Famose Abbildungen sind darin, sage ich dir. Wenn du mal bei mir bist, zeige ich sie dir. Es sind Augenblicks- photographien, und man sieht die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt, weil es zu schnell geht …«
»In allen Stellungen?« fragte Tonio höflich. »Ja, das ist fein. Was aber ›Don Carlos‹ betrifft, so geht das über alle Begriffe. Es sind Stellen darin, du sollst sehen, die so schön sind, daß es einem einen Ruck gibt, daß es gleichsam knallt …«
»Knallt es?« fragte Hans Hansen … »Wieso?«
»Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist … aber der Marquis hat ihn nur dem Prinzen zuliebe betrogen, verstehst du, für den er sich opfert. Und nun kommt aus dem Kabinett in das Vorzimmer die Nachricht, daß der König geweint hat. ›Geweint?‹ ›Der König geweint?‹ Alle Hofmänner sind fürchterlich betreten, und es geht einem durch und durch, denn es ist ein schrecklich starrer und strenger König. Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn …«
Hans Hansen sah von der Seite in Tonio’s Gesicht, und irgend etwas in diesem Gesicht mußte ihn wohl dem Gegenstande gewinnen, denn er schob plötzlich wieder seinen Arm unter den Tonio’s und fragte:
»Auf welche Weise verrät er ihn denn, Tonio?«
Tonio geriet in Bewegung.
»Ja, die Sache ist«, fing er an, »daß alle Briefe nach Brabant und Flandern …«
»Da kommt Erwin Jimmerthal«, sagte Hans.

Thomas Mann
Tonio Kröger

Matthias Matussek: Wir Deutschen

978-3-596-17151-4Ein Buch von einer so guten Laune, dass man sich gleich übergeben möchte. Matussek ist ein unerträglicher Aufschneider, der lauter tolle Leute kennt, die auch wie er der Meinung sind, dass es aufwärts und vorwärts und überhaupt am besten und schönsten deutschwärts geht. Endlich ist der Deutsche wieder stolz, und das mit gutem Recht. Denn Beethoven und Goethe, Heine und Thomas Mann, damit kann man sich doch sehen lassen, oder? Dass der eine nach Wien gegangen ist, der andere nur in Rom erfahren konnte, was Glück ist, dass der dritte nach Paris fliehen musste, weil man ihn in Deutschland als Autor in den Kerker geworfen hätte und der vierte nach der Flucht vor den Nationalsozialisten dann doch lieber in der Schweiz geblieben ist, muss man ja nicht allzu sehr betonen.

Dass Matussek sich dem Leser als Nachfolger, wenn nicht gar als letzter legitimer Erbe Heines präsentiert und das in einem Kapitel, das nur so von Fehlern wimmelt, von halb Gewusstem und schlecht Erinnertem, das ist die eine Sache. Dass sich die Herrschaften des deutschen Feuilletons nicht entblöden, ihm das nachzuquatschen, ist die andere. Es ist sehr, sehr schade, dass uns heutzutage ein Karl Kraus fehlt, der eine aufgepumpte Schweinsblase wie Herrn Matussek einmal öffentlich zum Platzen bringen könnte.

Für die Engländer ist Nation etwas so Selbstverständliches, dass die »Encyclopaedia Britannica« dem Begriff »Nation« keine einzige Zeile widmet […].

Erstens ist die EB ein US-amerikanisches Lexikon, zweitens weiß jeder, der mit der EB umgehen kann, dass man in den Index schauen muss, um feststellen zu können, ob über irgend etwas tatsächlich keine Zeile in der EB steht. Und natürlich steht mehr als eine Zeile über den Begriff »Nation« in der EB, nur eben nicht an der Stelle, wo Herr Matussek nachgeschaut hat; falls er nachgeschaut hat. Und so ist das ganze Buch; nun, wenigstens die erste Hälfte, denn darüber hinaus habe ich mir diesen Schwachsinn nicht angetan. Das Übrige ist aber sicher ganz toll!

Matthias Matussek: Wir Deutschen. Warum uns die anderen gern haben können. Fischer Taschenbuch 17151. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 22009. 352 unerträgliche Seiten. 9,95 €.

Ian McEwan: Der Zementgarten

978-3-257-20648-7 McEwans erster Roman, der zuerst 1978 erschienen ist. Erzählt wird von einem Haushalt mit vier Kindern, in dem zuerst der Vater und wenig später auch die Mutter stirbt. Die Kinder verschweigen den Tod der Mutter, die zuvor schon einige Zeit bettlägerig gewesen war, zementieren ihre Leiche in eine Metallkiste ein und leben einen Sommer lang unbehelligt von Erwachsenen. Erzähler ist Jack, der mit 14 Jahren ältere der beiden Jungen, der sich nicht nur in die veränderte Situation seines Elternhauses einfinden muss, sondern auch mit seiner Pubertät zu kämpfen hat. Als seine 17-jährige Schwester einen Freund mit ins Haus bringt, reagiert Jack mit Eifersucht und Rivalität. Gleichzeitig verarbeitet sein Bruder Tom, der noch zur Grundschule geht, das Mobbing durch seine Schulkameraden, indem er in die Rolle eines Mädchens schlüpft, worin seine beiden Schwestern ihn unterstützen.

Der Roman enthält wenig Handlung im klassischen Sinne, sondern legt den Schwerpunkt der Darstellung auf die soziale und psychische Entwicklung seines Protagonisten. Inwieweit man das überzeugend findet, hängt wohl sehr stark vom einzelnen Leser ab. Mir war das Erzählte über weite Strecken zu statisch und zu impressionistisch. Der vorliegende Stoff scheint mir nur für eine weit kürzere Erzählung ausreichend, der Roman überdehnt ihn.

Ian McEwan: Der Zementgarten. Kollektivübersetzung, Endredaktion: Christian Enzensberger. detebe 20648. Zürich: Diogenes, 1982. 206 Seiten. 8,90 €.

Yann Martel: Beatrice and Virgil

Ein – um es höflich zu sagen – recht seltsames Buch. Yann Martel hatte 2001 den von ihm lange erwarteten Durchbruch mit „Life of Pi“, in dem er zu Anfang beklagt, mit seinem vorangegangenen Buch nicht den erhofften Erfolg gehabt zu haben und deshalb nun einen Bestseller schreiben zu wollen, was ihm dann auch offensichtlich gelungen ist. Vorangegangen war eine Sammlung von Erzählungen, “The Facts Behind the Helsinki Roccamatios” (1993), in der besonders die Titelerzählung herausragt, in der der Erzähler und sein aidskranker Freund gemeinsam die Geschichte einer italienischen Einwandererfamilie in Helsinki erfinden, sowie der Roman “Self” (1996), der in der Hauptsache dadurch auffiel, dass der Protagonist mitten im Roman das Geschlecht wechselt. Beide Bücher waren das, was man Kritikererfolge nennt; beide wurde auch ins Deutsche übersetzt (1994 und 1996).

Wer nach der Veröffentlichung von „Life of Pi“ die Meldungen um Yann Martel etwas verfolgte, gewann den Eindruck, dass das nächste Buch des Autors wieder eher ungewöhnlich sein würde (vgl. z. B.: hier oder hier). Es sollte sich um eine Kombination von Erzählung und Essay handeln, die im Herbst 2008 als Dos-à-dos erscheinen sollten. Stattdessen erschien nun 2010 „Beatrice and Virgil“, auf dessen ersten Seiten ein Buchprojekt des Protagonisten Henry, das aus einer Rücken an Rücken publizierten Kombination aus Erzählung und Essay bestehen sollte, von einer Tafelrunde von Verlegern ergänzt um einen Buchhändler und einen Historiker beerdigt wird. Henry ist dadurch so frustriert, dass er die Schriftstellerei aufgibt und sich anderen kreativen Feldern zuwendet.

Doch von Zeit zu Zeit erhält Henry noch Leserbriefe als Reaktionen auf seinen vorangegangenen Bestseller. Darunter findet sich eines Tages auch ein Brief, der Fotokopien von Flauberts Erzählung „Die Legende von St. Julian dem Gastfreundlichen“ mit zahlreichen Anstreichungen enthält sowie eine Szene aus einem Theaterstück, in der sich zwei Figuren – Beatrice und Virgil – über die Vorzüge der Birne unterhalten. In der Erzählung Flauberts, die nun in einiger Ausführlichkeit zitiert wird, sind alle die Stellen markiert, an denen der Protagonist Julian Tiere tötet; Henry versteht dies als Anspielung auf sein eigenes, erfolgreiches Buch, in dem ebenfalls Tiere wichtige Rollen spielen. Die Szene aus dem Theaterstück macht Henry schließlich so neugierig, dass er dem Absender antwortet und ihn dann auch persönlich aufsucht. Es handelt sich um einen Tierpräparator, der in seiner Stadt lebt, und offenbar seit Jahren an jenem Theaterstück schreibt, dessen Figuren sich als ein Esel und ein Affe erweisen, die sich auf dem Hemd des Insassen eines Konzentrationslagers über Gott und die Welt unterhalten.

Es folgt nun eine langwierige Auseinandersetzung mit diesem Stück, wiederum anhand ausgiebiger Zitate, das sich immer deutlicher darauf zuspitzt, dass es ein Stück über die Unsagbarkeit der Erfahrungen des Holocaust ist. Je länger das Stück ausgebreitet wird und je länger der Roman Martels wird, desto deutlicher wird dem Leser, dass der Autor weder einen blassen Schimmer hat, worauf das Ganze hinauslaufen soll, noch wie er sich die nun einmal so eingefädelte Geschichte wieder vom Hals schaffen kann. Martel führt deshalb eine völlig überraschende, weder erzählerisch vorbereitete noch einsichtige Wendung herbei, indem er Henry plötzlich erkennen lässt, dass es sich bei dem Tierpräparator um einen Nazi-Kollaborateur handelt, der daraufhin versucht, Henry zu erstechen und sich anschließend mit seinem gesamten Laden und dem Stück verbrennt. Durch das Aufschreiben dieser ganzen Geschichte, wobei er allerdings das Stück aus dem Gedächtnis rekonstruieren muss, wird Henry wieder zum Schriftsteller.

Das Buch ist ein durch und durch missratenes literarisches Experiment, das weder seinem Thema noch Martels literarischer Begabung in irgendeiner Weise gerecht wird. Die Sache wird in der deutschen Ausgabe noch dadurch verschlimmert, dass der Verlag das Buch „Ein Hemd des 20. Jahrhunderts“ nennt, was nicht nur den falschen Eindruck erweckt, es handele sich um das im Buch beerdigte Buchprojekt, sondern was auch dem ausdrücklichen Entschluss des Erzählers auf den letzten Seiten des Buches widerspricht. Aber ein Unglück kommt eben selten allein.

Yann Martel: Beatrice and Virgil. Edinburgh u. a.: Canongate, 2010. Broschur, 213 Seiten. Ca. 9,– €.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn

Übersetzungen und Neuübersetzungen des Hanser Verlages kaufe ich normalerweise blind, da der Verlag allgemein für ein hohes Niveau und große Sorgfalt bei seinen Übersetzungen steht. Wenn dann auch noch eine feine Ausstattung des Bandes hinzukommt, freue ich mich ganz besonders auf die Lektüre. So auch diesmal: Zwei Klassiker der amerikanischen Literatur, bisher nicht gerade selten eingedeutscht, werden in einer Neuübersetzung vorgelegt, so wie es sich für Klassiker gehört: Leineneinband, feines Dünndruck-Papier und Fadenheftung – alles so, wie es sein soll. Da greife ich dann gern auch einmal tiefer in die Tasche.

Dann wird es Frühling, und an einem unerwartet sonnigen Tag greife ich mir den Band vom SUB (Stapel ungelesener Bücher) und nehme ihn mit ins Café. Als der Kaffee auf dem Tisch steht, schlage ich voller Vorfreude den »Huckleberry Finn« auf und beginne zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten  stutze ich: Das kommt alles so betulich daher, und als die ersten Dialoge erscheinen, wundere ich mich doch sehr darüber, wie diese Mississippi-Kinder miteinander reden:

»So«, sagte Ben Rogers, »was ist denn die Geschäftssparte der Bande?«
»Nix, nur Raub und Mord«, sagte Tom.
»Aber wen rauben wir denn aus. Häuser … oder stehlen wir Vieh … oder …«
»Quatsch! Vieh stehlen und so was, das hat nix mit Räuberei zu tun, das ist Diebstahl«, sagte Tom Sawyer. »Wir sind keine Diebe. Das hat doch keinen Stil. Wir sind Wegelagerer. Wir halten Postkutschen und andere Kutschen auf der Straße an und haben Masken auf und töten die Leute und nehmen ihre Uhren und ihr Geld.«
»Müssen wir die Leute immer umbringen?«
»Ja, klar doch. Das ist das beste. Manche Fachleute denken da anders, aber die meisten halten es für das beste. Außer ein paar, die man in die Höhle hier bringt und gefangen hält, bis sie ausgelöst sind.«
»Ausgelöst? Was soll’n das sein?«
»Ich weiß nicht. Aber das wird so gemacht. Ich hab’s in Büchern gelesen. Und also müssen wir’s genauso machen.«
»Aber wie sollen wir’s machen, wenn wir nicht wissen, was es ist?«
»Das ist doch egal, wir müssen’s eben machen. Hab ich nicht gesagt, dass es in den Büchern steht? Wollt ihr es anders machen, als es in den Büchern steht und alles durcheinander bringen?«
»Das ist ja alles schön und gut, was du sagst, Tom Sawyer, aber wie zum Kuckuck sollen diese Leute ausgelöst werden, wenn wir nicht wissen, wie man das macht? Das möchte ich gerne mal wissen. Was glaubst du denn, was es ist?«
»Naja, ich weiß nicht. Aber vielleicht, wenn wir sie behalten, bis sie ausgelöst sind, dann heißt das, dass wir sie behalten, bis sie tot sind.«
»Na, das hört sich schon anders an. Das kommt hin. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Wir behalten sie, bis sie zu Tode ausgelöst sind – aber es wird schon verdammt mühsam mit der Truppe, die werden uns die Haare vom Kopf essen und immer versuchen abzuhauen.«
»Wie du daherredest, Ben Rogers. Wie können sie abhauen, wenn eine Wache auf sie aufpasst und sie sofort abknallt, wenn sie einen falschen Schritt machen?«
»Eine Wache? Ja, das ist mal gut. Dann sitzt also jemand die ganze Nacht da, ohne zu schlafen, und passt auf sie auf. Das halte ich für den reinsten Blödsinn. Warum kann nicht jemand einen Knüppel nehmen und sie gleich auslösen, wenn sie ankommen?«
»Weil’s nicht so in den Büchern steht – deswegen. […]«

Stellen wir dem rasch mal die Original-Passage gegenüber:

»Now,« says Ben Rogers, »what’s the line of business of this Gang?«
»Nothing only robbery and murder,« Tom said.
»But who are we going to rob? houses – or cattle – or –«
»Stuff! stealing cattle and such things ain’t robbery, it’s burglary,« says Tom Sawyer. »We ain’t burglars. That ain’t no sort of style. We are highwaymen. We stop stages and carriages on the road, with masks on, and kill the people and take their watches and money.«
»Must we always kill the people?«
»Oh, certainly. It’s best. Some authorities think different, but mostly it’s considered best to kill them. Except some that you bring to the cave here and keep them till they’re ransomed.«
»Ransomed? What’s that?«
»I don’t know. But that’s what they do. I’ve seen it in books; and so of course that’s what we’ve got to do.«
»But how can we do it if we don’t know what it is?«
»Why blame it all, we’ve got to do it. Don’t I tell you it’s in the books? Do you want to go to doing different from what’s in the books, and get things all muddled up?«
»Oh, that’s all very fine to say, Tom Sawyer, but how in the nation are these fellows going to be ransomed if we don’t know how to do it to them? that’s the thing I want to get at. Now what do you reckon it is?«
»Well I don’t know. But per’aps if we keep them till they’re ransomed, it means that we keep them till they’re dead.«
»Now, that’s something like. That’ll answer. Why couldn’t you said that before? We’ll keep them till they’re ransomed to death – and a bothersome lot they’ll be, too, eating up everything and always trying to get loose.«
»How you talk, Ben Rogers. How can they get loose when there’s a guard over them, ready to shoot them down if they move a peg?«
»A guard. Well, that is good. So somebody’s got to set up all night and never get any sleep, just so as to watch them. I think that’s foolishness. Why can’t a body take a club and ransom them as soon as they get here?«
»Because it ain’t in the books so – that’s why. […]«

Wer ein Gespür für den Ton des Originals hat, bemerkt dass die neue Übersetzung den Dialog aufpoliert: Weder das »per’aps« noch das »reckon« des Originals sind angemessen übersetzt, überhaupt sind in der Übersetzungen die Verschleifungen reduziert und das sprachliche Niveau angehoben. Nicht, dass die Übersetzung falsch wäre, sie trifft nur den Ton des Originals nicht.

Doch ist das noch eine unproblematische Stelle. Jede Übersetzung des »Huck Finn« steht und fällt mit dem, was der Übersetzer aus der Sprache Jims macht:

I says:
»Hello, Jim!« and skipped out.
He bounced up and stared at me wild. Then he drops down on his knees, and puts his hands together and says:
»Doan’ hurt me – don’t! I hain’t ever done no harm to a ghos’. I awluz liked dead people, en done all I could for ’em. You go en git in de river agin, whah you b’longs, en doan’ do nuffn to Ole Jim, ’at ’uz awluz yo’ fren’.«
Well, I warn’t long making him understand I warn’t dead. I was ever so glad to see Jim. I warn’t lonesome, now. I told him I warn’t afraid of him telling the people where I was. I talked along, but he only set there and looked at me; never said nothing. Then I says:
»It’s good daylight. Le’s get breakfast. Make up your camp fire good.«
»What’s de use er makin’ up de camp fire to cook strawbries en sich truck? But you got a gun, hain’t you? Den we kin git sumfn better den strawbries.«
»Strawberries and such truck,« I says. »Is that what you live on?«
»I couldn’ git nuffn else,« he says.
»Why, how long you been on the island, Jim?«
»I come heah de night arter you’s killed.«
»What, all that time?«
»Yes-indeedy.«

Grundsätzlich sind hier drei Lösungswege versucht worden: Einige Übersetzer haben versucht, Jim einen bestimmten deutschen Dialekt reden zu lassen. Aber weder Bayerisch noch Sächsisch führen zu wirklich befriedigenden Ergebnissen. Andere Übersetzer haben versucht, einen Kunstdialekt zu erfinden, der den Ton von Jims Sprechweise im Deutschen nachzuahmen versucht. Wieder andere haben vor dem Problem kapituliert und ersetzen den starken Dialekt Jims durch einige wenige Verschleifungen. Diesen Weg geht auch die Neuübersetzung:

Dann sagte ich:
»Hallo, Jim!« und hüpfte hinter dem Busch hervor.
Er schrak hoch und starrte mich wild an. Dann fiel er auf die Knie und presste die Hände zusammen und sagte:
»Tu mir nix – bloß nix! Ich hab noch nie nem Gespenst was getan. Ich hab Tote immer gern gehabt und alles für sie getan, was ich konnte. Du gehst jetzt wieder innen Fluss zurück, wo du hingehörst, und tust dem alten Jim nix, der immer dein Freund gewesen is.«
Na, ich machte ihm schnell klar, dass ich nicht tot war. Ich war so froh, Jim zu sehen. Jetzt war ich nicht mehr allein. Ich sagte ihm, ich hätte keine Angst, dass er den Leuten verrät, wo ich war. Ich redete einfach drauflos, und er saß nur da und starrte mich an, sagte aber kein Sterbenswort. Dann sagte ich:
»Es ist schon richtig hell. Lass uns frühstücken. Mach dein Lagerfeuer ruhig wieder an.«
»Was hat’n das für ’n Sinn, das Lagerfeuer anzumachen, um Erdbeern und so ’n Grünzeug zu kochen. Aber du hast ja ’n Gewehr! Da können wir was Besseres wie Erdbeern holen.«
»Erdbeeren und so ’n Grünzeug«, sagte ich. »Was andres zum essen hast du nicht?«
»Ich hab sonst nix gefunden«, sagte er.
»Wieso, wie lang bist du denn schon auf der Insel, Jim?«
»Ich bin hier in der Nacht her, nachdem sie dich ermordet haben.«
»Was, die ganze Zeit?«
»Ja, so isses.«

Das ist natürlich im Vergleich zum Original gar nichts. Nun ist es aber so, dass die Verwendung der Dialekte im »Huck Finn« programmatisch ist. Der Verfasser stellt seinem Text ausdrücklich dies voran:

Explanatory

In this book a number of dialects are used, to wit: the Missouri negro dialect; the extremest form of the backwoods South-Western dialect; the ordinary ›Pike- County‹ dialect; and four modified varieties of this last. The shadings have not been done in a hap-hazard fashion, or by guess-work; but pains-takingly, and with the trustworthy guidance and support of personal familiarity with these several forms of speech.
I make this explanation for the reason that without it many readers would suppose that all these characters were trying to talk alike and not succeeding.

THE AUTHOR.

Mark Twain scheint also davon ausgegangen zu sein, dass die sprachliche Vielfalt seines Textes zum Vergnügen seiner Leser beitragen wird. Und er betont, dass er die  Ausdifferenzierung unter Mühen erarbeitet hat, um die Sprechweise seiner Figuren so genau wie möglich an die von ihm erlebte Sprachfülle anzunähern.

Natürlich weiß das auch der Übersetzer Andreas Nohl, denn er hat die entsprechende Passage des Buches mit übersetzt. Was also bringt ihn dazu, die sprachliche Färbung weiter Textpassagen einfach zu ignorieren und zu ein paar Verschleifungen zu verflachen? Es ist einmal mehr die »Lesbarkeit«, der dies angeblich geopfert wurde:

Grundsätzlich wurde darauf verzichtet, den Slang des Ich-Erzählers und der sprechenden Personen in einem künstlichen deutschen Slang oder in einem Dialekt abzubilden. Darin unterscheidet sich die neue Übersetzung grundlegend von den bisherigen Übersetzungen.
[…]
Bei Huckleberry Finn gibt es neben den älteren Jugendbuchbearbeitungen zwei neuere Übersetzungen, deren Lesbarkeit aber durch deutsche Dialekteinsprengsel bzw. einen deutschen Kunst-Slang stark beeinträchtigt ist.

Was glaubt denn wohl der Übersetzer, wie das Original in dieser Beziehung von Muttersprachlern wahrgenommen wird? Und was mag er wohl über deutsche Bücher denken, deren Hauptforce gerade darin liegt, einen Kunst-Slang (z. B. Herbert Rosendorfers »Briefe in die chinesische Vergangenheit«) oder Dialekte und Sprechweisen (z. B. Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«) abzubilden. Wünscht er auch diese Bücher ins »Lesbare« übersetzt? Und was glaubt er wohl, warum sich ein deutscher Leser eine Übersetzung des »Huck Finn« kauft – um Mark Twain zu lesen oder Andreas Nohl?

Nun können sich deutsche Leser zum Glück entscheiden: Entweder sie folgen Andreas Nohl ins Land der sprachlichen Plattitüde, oder sie greifen zur Übersetzung von Friedhelm Rathjen und haben zusammen mit ihm und Mark Twain Spaß an der Sprache. Ich jedenfalls habe die Neuübersetzung bedauernd beiseite gelegt – so ein schönes Buch und so eine vertane Liebesmüh.

Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. München: Hanser, 2010. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, Dünndruck, 711 Seiten. 34,90 €.

Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe

978-3-518-12592-2 Ein Bändchen mit acht Sonntagsreden Menasses, eine davon über Sonntagsreden. Diese Lektüre hat meine Auseinandersetzung mit Menasse beendet. An einer Stelle heißt es:

Alle wirtschaftlichen Blütezeiten seit den bürgerlichen Revolutionen waren Zeiten, in denen die Politik, nicht zuletzt auch durch gesellschaftlichen Druck, stärker war als »die Wirtschaft«. Alles Elend und alle Menschheitskatastrophen aber geschahen in Zeiten, in denen »die Wirtschaft« der Politik ihre Interessen diktieren konnte.

Si tacuisses, …

Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe. Edition Suhrkamp 2592. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 124 Seiten. 9,– €.

Herta Müller: Atemschaukel

978-3-446-23391-1Mein erstes Buch der Literatur-Nobelpreis-Trägerin. Bekannt sein dürfte, dass es sich um ein Buchprojekt handelt, das Müller zusammen mit Oskar Pastior entwickelt hatte, aber wegen des Todes von Pastior im Jahr 2006 schließlich alleine schreiben musste. Erzählt wird die Geschichte Leopold Aubergs, der 1945 nach der Befreiung Rumäniens als Siebenbürger Sachse durch die Rote Armee nach Russland deportiert wird. Er muss in Russland fünf Jahre lang Zwangsarbeit leisten, bevor er in seine Heimat zurückkehren kann.

Erzählt wird das in kurzen Episoden aus der Ich-Perspektive Aubergs, wobei der Text parallel unterschiedliche zeitlichen Ebenen präsentiert, ohne dass diese scharf voneinander getrennt wären: Der Erzähler kann an einigen stellen auf 60 Jahre Vergangenheit zurückblicken, ohne dass die Ereignisse im Arbeitslager als aus dieser zeitlichen Distanz geschildert erscheinen. Besonders diejenigen Teile, die in der Zeit nach der Rückkehr spielen, schildern nicht nur die Folgen der Deportation, sondern auch die aus der Homosexualität des Erzählers resultierenden Schwierigkeiten. Inwieweit diese zusätzliche »Belastung« des Protagonisten für die Erzählung notwendig ist, lässt sich nach einer ersten Lektüre schlecht beurteilen.

Wie man sich denken kann, ist das Buch nur eingeschränkt wegen des präsentierten Materials wichtig. Zwar gab es wohl bislang keine erzählende Darstellung dieser besonderen Verschleppung, aber abgesehen davon sind die Details aus anderen Quellen bekannt: Die Entmenschlichung der Opfer wie der Aufseher, das Nebeneinander von Hoffnung und Verzweiflung, der Hunger als Zentrum der täglichen Existenz etc. Was das Buch heraushebt, ist seine literarische Sprache und die Reflexion des Erzählers auf das Erzählen. Das beginnt bereits mit den ersten Sätzen:

Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.

Das ist natürlich zuerst einmal ein literarisches Zitat; das Omnia mea mecum porto mag uns an Seneca denken lassen oder an Cicero, an Bedürfnislosigkeit als Ideal oder an die Verehrung hoher Tugenden, es wird in jedem Fall sogleich gekontert:

Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht.

Es mag dem Leser später klar werden, dass diese ersten Sätze nicht nur aus der Situation heraus verstanden werden sollten, sondern dass sie zugleich eine Lebensbilanz ziehen. In diesem Anfang steckt schon der Blick auf die Gesamtheit des geschilderten Schicksals.

Wie schon gesagt, ist der Hunger selbstverständlich eines der zentralen und immer wiederholten Themen dieses Buches. Aber wo konnte man je zuvor solche Sätze lesen:

Kochrezepte erzählen ist eine größere Kunst als Witze erzählen. Die Pointe muss sitzen, obwohl sie nicht lustig ist. Hier im Lager beginnt der Witz schon mit: MAN NEHME. Dass man nichts hat, das ist die Pointe. Aber die spricht niemand aus. Kochrezepte sind die Witze des Hungerengels.

Als dem Erzähler im russischen Dorf in der Nähe des Lagers von einer alten Frau, die sich um ihren Sohn sorgt, ein weißes Spitzentaschentuch geschenkt wird, wird dieses Taschentuch zu einer Reliquie der Hoffnung für ihn:

Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch. Manchmal kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man von ihnen nicht erwartet.

Oder diese Stellen über die Erinnerung:

Schau, wie der heult, dem läuft was über.
Diesen Satz habe ich mir oft überlegt. Dann habe ich ihn auf eine leere Seite geschrieben. Am nächsten Tag durchgestrichen. Am übernächsten wieder darunterge-schrieben. Wieder durchgestrichen, wieder hingeschrieben. Als das Blatt voll war, habe ich es herausgerissen. Das ist Erinnerung.

Dass mich das Lager nach Hause gelassen hat, um den Abstand herzustellen, den es braucht, um sich im Kopf zu vergrößern. […] Immer mehr streckt sich das Lager vom Schläfenareal links zum Schläfenareal rechts. So muss ich von meinem ganzen Schädel wie von einem Gelände sprechen, von einem Lagergelände. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen.

Das Buch hat mich überrascht und trotz meines besserwisserischen Vorurteils ihm gegenüber – »nur noch eine Deportationsgeschichte mehr« – überzeugt  und berührt.

Herta Müller: Atemschaukel. München: Hanser, 2009. Pappband, 299 Seiten. 19,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (29)

Kein Jahr vergeht, in welchem die Meßcataloge nicht hundert neue lyrische Werke, eben so viel oder noch mehr Romane und wenigstens halb so viel Schauspiele verzeichnen. Die Zahl unserer lebenden Dichter ist eine Myriade, und nicht einmal zu viel für die mehr als tausend jetzt in Deutschland bestehenden Buchhandlungen. Die Poesie, ehemals monarchisch, priesterlich oder wenigstens aristokratisch, ist demokratisirt worden, und nicht nur glaubt sich jeder, sobald es ihm nur einfällt, berechtigt zu schreiben und drucken zu lassen, sondern eine zahlreiche Classe von Proletariern der Presse wird von den Verlegern zur poetischen Fabrikarbeit förmlich gedungen. Ein Kriterium des guten Geschmacks gibt es nicht mehr. Reiche Verleger und Lobassecuranz- gesellschaften unter den Literaten selbst, oder das politische und kirchliche Parteiinteresse diktiren das öffentliche Urtheil. Nie zuvor ist daher so viel Schlechtes angepriesen und verbreitet, so viel Gutes verachtet und unterdrückt worden.

Wolfgang Menzel
Deutsche Dichtung (1859)