Allen Lesern ins Stammbuch (119)

Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobne Stellen – alles dies  gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.

Novalis

Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist.

Novalis-Ofterdingen

Angeregt durch die erneute Lektüre von Heinrich Heines „Die romantische Schule“ habe ich auch den Band Novalis wieder einmal aus dem Schrank genommen. Novalis war mir zum ersten Mal zu Schulzeiten bei der Lektüre von Hesses „Der Steppenwolf“ begegnet, der den hübschen Aphorismus zitiert „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, bis sie es können“, in das er seinen Harry Haller zudem noch ein gänzlich unnötiges „als“ einschmuggeln lässt. Damals habe ich zum ersten Mal versucht, den „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu lesen, ihn aber bald zur Seite gelegt. In den kleinen „Fragmenten“ war das eine oder andere Anregende zu finden, aber der „Ofterdingen“ war mir zu phantastisch und ziellos in seinem Erzählen. Während des Studiums habe ich die gesamte Erzählung dann als Pflichtlektüre hinter mich gebracht, ohne dass davon bis heute viel mehr geblieben wäre als eine sehr vage Erinnerung an eine märchenhafte Reise- und Liebesgeschichte.

Novalis-Werke

So war ich gespannt, was mir begegnen würde, doch ich muss eingestehen, dass es mir auch diesmal – mit dem Abstand von vielen Jahren und einem ungleich größeren Wissen über die Romantik als Stil- und historische Epoche – nicht gelungen ist, das Buch mit wirklichem Vergnügen zu lesen. Der erste Teil, der den Hauptteil des Fragment gebliebenen Romans ausmacht, ist im Wesentlichen genau das, was ich erinnert habe: Der gerade erwachsen gewordene Heinrich reist zusammen mit seiner Mutter von Eisenach aus zu deren Vater nach Augsburg. Man schließt sich zu diesem Zweck einer Gruppe reisender Kaufleute an, mit denen der bis dahin als Gelehrter erzogene Heinrich einige altkluge Gespräche führt. Man tauscht Lieder und Geschichten aus, entdeckt unterwegs einen Einsiedler in einer Höhle, in dessen Büchern einem der junge Heinrich auf geheimnisvolle Weise sein zukünftiges Leben vorgebildet findet. All dies dient wahrscheinlich zur Vorbereitung des zweiten Teils, von dem dann nur der Anfang niedergeschrieben wurde.

In Augsburg angekommen, lernt Heinrich nicht nur seinen Großvater kennen, er trifft bei ihm auch gleich eine der Figuren aus dem Buch des Einsiedlers, den Dichter Klingsohr, der ihn sofort als Schüler unter seine Fittiche nimmt und ihn mit seiner Tochter Mathilde verheiratet. Auch Klingsohr und Heinrich führen wieder jene künstlichsten Gespräche, die in ihrer Abstrusität nur vom Geturtel der beiden Liebenden Mathilde und Heinrich noch übertroffen werden. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein von Klingsohr einer Abendgesellschaft vorgetragenes Märchen, eigentlich nichts als eine leere Allegorie, die Tiefe vorspiegelt, jedoch kaum liefert.

Dieses Märchen, das sicherlich nicht zufällig an Goethes „Das Märchen“ (1795) erinnert, dient der Vorbereitung des ganz und gar auf jeglichen Realismus verzichtenden zweiten Teil, von dem nur wenige Seiten des Anfangs niedergeschrieben wurden. Hier begegnet uns Heinrich als Pilger wieder, ohne dass der Leser in der Lage wäre, eine auch nur ungefähre zeitliche Relation zum Geschehen des ersten Teils herzustellen, die über die Feststellung hinausginge, dass Heinrich erheblich gealtert ist. Er scheint Mathilde auf eine nicht näher erklärte Weise verloren zu haben, wandert durch einen Wald irgendwo in der Umgebung Augsburgs, trifft dort auf eine geheimnisvolle Figur mehr, mit der noch weitere abgehobene Gespräche geführt werden, bis ein gnädiges Schicksal dem Schwätzen ein Ende macht. Ergänzt wird der Text Novalis’ traditionell durch einen editorischen Nachbericht des ersten Herausgebers Ludwig Tieck, der aus Erinnerungen an Gespräche mit dem Dichter und aus dessen nachgelassenen Papieren die weitere Handlung rekonstruiert, die umfangreiche phantastische Fahrten an wirkliche und erfundene Örtlichkeiten und sicherlich ausgiebiges weiteres Geschwätz präsentiert hätte. Tieck bedauert sehr, dass der Literatur dieses Werk der reinsten Phantasie verloren gegangen ist; ich kann dem nur in einem sehr abstrakten, poetologischen Sinne zustimmen, wirklich teilen kann ich dieses Bedauern nicht.

Es ist sicherlich überflüssig, sich über Novalis’ phantastisches und im Detail anachronistisches Mittelalter lustig zu machen, in dem Wanduhren ticken und was der Späße mehr sind. Auch Tieck weist in seinem Nachbericht schon darauf hin, dass es dem Autor nicht um ein auch nur wahrscheinliches Abbild des Lebens des historisch ohnehin nicht greifbaren Heinrich von Ofterdingen gegangen ist. Das von Novalis vorgeführte Mittelalter des 13. Jahrhunderts ist schnell als ein ideal überhöhtes 18. Jahrhundert zu durchschauen, das nur dazu dient, in seiner Schlichtheit die Folie für Novalis’ idealen Dichter zu liefern. Ärgerlicher sind aber vollständig von jeglicher menschlichen Wirklichkeit abgehobene Stellen wie etwa diese:

„Der Krieg überhaupt“, sagte Heinrich, „scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer unsichtbaren Fahne.“
„Im Kriege“, versetzte Klingsohr, „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“

Wollen wir hoffen, dass wir in diesem Urgewässer nie werden baden müssen!

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke und Briefe. Hg. von Rudolf Bach. Leipzig: Insel, 1942. S. 113–292. Flexibler Leinenband, Fadenheftung, Dünndruckpapier. (Bücher dieser Art werden heute nicht mehr hergestellt.)

Selbstverständlich ist der Text in diversen Ausgaben lieferbar und auch online verfügbar.