Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist.

Novalis-Ofterdingen

Angeregt durch die erneute Lektüre von Heinrich Heines „Die romantische Schule“ habe ich auch den Band Novalis wieder einmal aus dem Schrank genommen. Novalis war mir zum ersten Mal zu Schulzeiten bei der Lektüre von Hesses „Der Steppenwolf“ begegnet, der den hübschen Aphorismus zitiert „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, bis sie es können“, in das er seinen Harry Haller zudem noch ein gänzlich unnötiges „als“ einschmuggeln lässt. Damals habe ich zum ersten Mal versucht, den „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu lesen, ihn aber bald zur Seite gelegt. In den kleinen „Fragmenten“ war das eine oder andere Anregende zu finden, aber der „Ofterdingen“ war mir zu phantastisch und ziellos in seinem Erzählen. Während des Studiums habe ich die gesamte Erzählung dann als Pflichtlektüre hinter mich gebracht, ohne dass davon bis heute viel mehr geblieben wäre als eine sehr vage Erinnerung an eine märchenhafte Reise- und Liebesgeschichte.

Novalis-Werke

So war ich gespannt, was mir begegnen würde, doch ich muss eingestehen, dass es mir auch diesmal – mit dem Abstand von vielen Jahren und einem ungleich größeren Wissen über die Romantik als Stil- und historische Epoche – nicht gelungen ist, das Buch mit wirklichem Vergnügen zu lesen. Der erste Teil, der den Hauptteil des Fragment gebliebenen Romans ausmacht, ist im Wesentlichen genau das, was ich erinnert habe: Der gerade erwachsen gewordene Heinrich reist zusammen mit seiner Mutter von Eisenach aus zu deren Vater nach Augsburg. Man schließt sich zu diesem Zweck einer Gruppe reisender Kaufleute an, mit denen der bis dahin als Gelehrter erzogene Heinrich einige altkluge Gespräche führt. Man tauscht Lieder und Geschichten aus, entdeckt unterwegs einen Einsiedler in einer Höhle, in dessen Büchern einem der junge Heinrich auf geheimnisvolle Weise sein zukünftiges Leben vorgebildet findet. All dies dient wahrscheinlich zur Vorbereitung des zweiten Teils, von dem dann nur der Anfang niedergeschrieben wurde.

In Augsburg angekommen, lernt Heinrich nicht nur seinen Großvater kennen, er trifft bei ihm auch gleich eine der Figuren aus dem Buch des Einsiedlers, den Dichter Klingsohr, der ihn sofort als Schüler unter seine Fittiche nimmt und ihn mit seiner Tochter Mathilde verheiratet. Auch Klingsohr und Heinrich führen wieder jene künstlichsten Gespräche, die in ihrer Abstrusität nur vom Geturtel der beiden Liebenden Mathilde und Heinrich noch übertroffen werden. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein von Klingsohr einer Abendgesellschaft vorgetragenes Märchen, eigentlich nichts als eine leere Allegorie, die Tiefe vorspiegelt, jedoch kaum liefert.

Dieses Märchen, das sicherlich nicht zufällig an Goethes „Das Märchen“ (1795) erinnert, dient der Vorbereitung des ganz und gar auf jeglichen Realismus verzichtenden zweiten Teil, von dem nur wenige Seiten des Anfangs niedergeschrieben wurden. Hier begegnet uns Heinrich als Pilger wieder, ohne dass der Leser in der Lage wäre, eine auch nur ungefähre zeitliche Relation zum Geschehen des ersten Teils herzustellen, die über die Feststellung hinausginge, dass Heinrich erheblich gealtert ist. Er scheint Mathilde auf eine nicht näher erklärte Weise verloren zu haben, wandert durch einen Wald irgendwo in der Umgebung Augsburgs, trifft dort auf eine geheimnisvolle Figur mehr, mit der noch weitere abgehobene Gespräche geführt werden, bis ein gnädiges Schicksal dem Schwätzen ein Ende macht. Ergänzt wird der Text Novalis’ traditionell durch einen editorischen Nachbericht des ersten Herausgebers Ludwig Tieck, der aus Erinnerungen an Gespräche mit dem Dichter und aus dessen nachgelassenen Papieren die weitere Handlung rekonstruiert, die umfangreiche phantastische Fahrten an wirkliche und erfundene Örtlichkeiten und sicherlich ausgiebiges weiteres Geschwätz präsentiert hätte. Tieck bedauert sehr, dass der Literatur dieses Werk der reinsten Phantasie verloren gegangen ist; ich kann dem nur in einem sehr abstrakten, poetologischen Sinne zustimmen, wirklich teilen kann ich dieses Bedauern nicht.

Es ist sicherlich überflüssig, sich über Novalis’ phantastisches und im Detail anachronistisches Mittelalter lustig zu machen, in dem Wanduhren ticken und was der Späße mehr sind. Auch Tieck weist in seinem Nachbericht schon darauf hin, dass es dem Autor nicht um ein auch nur wahrscheinliches Abbild des Lebens des historisch ohnehin nicht greifbaren Heinrich von Ofterdingen gegangen ist. Das von Novalis vorgeführte Mittelalter des 13. Jahrhunderts ist schnell als ein ideal überhöhtes 18. Jahrhundert zu durchschauen, das nur dazu dient, in seiner Schlichtheit die Folie für Novalis’ idealen Dichter zu liefern. Ärgerlicher sind aber vollständig von jeglicher menschlichen Wirklichkeit abgehobene Stellen wie etwa diese:

„Der Krieg überhaupt“, sagte Heinrich, „scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer unsichtbaren Fahne.“
„Im Kriege“, versetzte Klingsohr, „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“

Wollen wir hoffen, dass wir in diesem Urgewässer nie werden baden müssen!

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke und Briefe. Hg. von Rudolf Bach. Leipzig: Insel, 1942. S. 113–292. Flexibler Leinenband, Fadenheftung, Dünndruckpapier. (Bücher dieser Art werden heute nicht mehr hergestellt.)

Selbstverständlich ist der Text in diversen Ausgaben lieferbar und auch online verfügbar.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

Nabokov_Enthauptung

„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (74)

3½ Jahre braucht der Autor, um das Buch zu schreiben, 3½ Monate der Verleger, es herauszubringen, 3½ Tage der Re­zen­sent, es zu lesen (wenn ers liest!), 3½ Stunden, es zu besprechen (wenn er sich Mühe gibt), 3½ Minuten der Leser, um die Re­zen­sion aufzunehmen, 3½ Sekunden, sie wieder zu vergessen.

Wolf von Niebelschütz

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz

Riedo-NiebelschützWolf von Niebelschütz ist, wie bereits an anderer Stelle gesagt, einer der bemerkenswerten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: Ei­ner­seits von einer kleinen, aber stetig wachsenden Guppe von Lesern geschätzt, andererseits beinahe nie aus dem Schatten eines Geheimtipp-Daseins herausgetreten, dennoch mit seinen beiden Ro­ma­nen beinahe ununterbrochen lieferbar (sein Biograph Dominik Riedo schätzt die Gesamtauflage der beiden Bücher auf immerhin je 100.000 Exemplare) führt er eine jener langlebigen Randexistenzen der Li­te­ra­tur, die zeigen, dass der Literaturbetrieb doch noch nicht gänzlich auf das Geschäft der Controller heruntergekommen ist. Oder, um es mit einem anderen, wenn auch inzwischen deutlich bekannteren Au­ßen­sei­ter der deutschsprachigen Literatur zu sagen:

Und die eigentlichen ›Pfade‹ in der Literatur sind die Sackgassen, (auch die der Büchersucher und =finder)

Dominik Riedo hat nun im vergangenen Jahr die erste umfassende Biographie über Wolf von Niebelschütz herausgebracht. Das Buch zeugt mit seinen über 900 großformatigen Seiten nicht nur vom Fleiß des Autors, sondern vermittelt ein tatsächlich so vollständiges Bild von Leben und Werk, wie es sich derzeit erstellen lässt. Niebelschütz war zwar adeliger Herkunft, wuchs aber in bürgerlichen Verhältnissen auf, besuchte Schulpforta, begann anschließend in Wien Geschichte zu stu­die­ren, brach das Studium aber schon bald ab und wurde Journalist in Magdeburg bei jener Zeitung, für die auch sein Vater arbeitet. Neben der journalistischen Arbeit schrieb er Gedichte. Vom aufkommenden Nationalsozialismus hält er sich fern, wenn es auch wohl übertrieben wäre, ihn einen Gegner zu nennen (Riedo verschweigt dabei durchaus nicht die antisemitischen Tendenzen, denen Niebelschütz in dieser Zeit anhängt). Dann wird er zur Wehrmacht eingezogen, wobei er dazu neigt, das Soldatentum einerseits in Gedichten heldisch zu überhöhen, andererseits aber persönlich ziemlich unerträglich zu finden.

Noch während des Krieges beginnt Niebelschütz, angeregt durch die Lektüre eines Hofmannthal-Fragments, mit der Arbeit an seinem ersten großen Roman – zwei Romanversuche zuvor sind nicht zur Druckreife gelangt –, einem im 18. Jahrhundert im fiktiven Mit­tel­meer­in­sel­reich Myrrha spielenden Haupt- und Staatsroman, der nicht nur das Zeitalter des Barock mit seinen Umgangsformen und seinem Lebensgefühl feiert, sondern sich zugleich auch über genau diese Fas­zi­na­tion lustig zu machen versteht. „Der blaue Kammerherr“ erschien 1949 im jungen Suhrkamp Verlag, und es sah zuerst nach dem von Autor und Verleger erhofften Erfolg aus. Doch nach anfangs guten Verkäufen ließ das Interesse rasch und deutlich nach, so dass sich Niebelschütz in den Folgejahren als Vortragsredner und Auftragsautor für die deutsche Industrie verdingen musste. So erschien erst zehn Jahre nach seinem Debüt sein zweiter Roman „Die Kinder der Finsternis“, dem beim Publikum ein nahezu identisches Schicksal beschieden war. Dennoch sind beide Romane nie vollständig vom Buchmarkt verschwunden, und mit den Jahren ist Niebelschütz langsam zu dem Status eines wohlbekannten Geheimtipps gekommen, ein Schicksal, dass er zum Beispiel mit Albert Vigoleis Thelen teilt, was zeigen mag, dass es sich um kein so ganz einmaliges Phänomen in der deutschen Nachkriegsliteratur handelt.

Dominik Riedos Biographie ist eine wissenschaftlich orientierte Gesamtdarstellung, die nicht nur Leben und Werk, sondern auch die Rezeption besonders der beiden Romane umfassend würdigt, sowohl was das Feuilleton als auch was die germanistische Forschung angeht. Da das Buch übersichtlich und der Sache nach klar gegliedert ist, erlaubt es aber auch eine eher biographisch als li­te­ra­tur­wis­sen­­schaft­lich gewichtete Lektüre. Überhaupt muss man Riedo einen sprachlich stets klaren und nahezu immer beispielhaft objektiven Zugriff auf die dargestellte Sache bescheinigen; nur einige wenige im Ton schwär­me­ri­sche Stellen lassen hier und da den Fan durchschimmern.

Zu wünschen wäre eine von diesem Buch ausgehende, kürzere und preiswertere, an ein breiteres Publikum gerichtete Biographie Wolf von Niebelschütz’, die vielleicht eine Chance böte, diesen sprachlich ori­gi­nel­len und inhaltlich spannenden Autor, der sich dem Strom der zeit­ge­nös­si­schen Literatur nur wenig angepasst hat, einer noch größeren Leserschaft bekannt zu machen. Man darf jedenfalls gespannt sein, ob und wie sich die Wahrnehmung von Autor und Werk durch Riedos Biographie verändern wird.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk. Eine Biographie. Bern u.a.: Peter Lang, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 919 Seiten. 133,80 €.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung

O ja, ich war der reine Künstler aus der Romandichtung.

nabokov_werke_03Der letzte der von den Gesammelten Werken so­ge­nann­ten frühen Romanen Nabokovs, 1932 noch in Berlin auf Russisch verfasst, dann vom Autor selbst ins Englische übersetzt und 1965 für eine Neuausgabe noch einmal überarbeitet. Die Fabel bildet ein Kri­mi­nal­ro­man, der nach dem Vorbild eines tatsächlichen Falls von Versicherungsbetrug erfunden ist: Der rus­sisch­stäm­mi­ge Berliner Schokoladenfabrikant Hermann begegnet bei einer Geschäftsreise in Prag zufällig dem Landstreicher Felix, den er für seinen perfekten Doppelgänger hält. Diese – wie sich später erweist – wohl nur von ihm so empfundene Ähnlichkeit bringt ihn auf den Gedanken, er könne den Landstreicher umbringen, dessen Leiche für die seine ausgeben, seine Frau eine Versicherungsprämie kassieren lassen und sie später in Frankreich erneut unter der Identität seines Opfers heiraten.

Der Plan scheitert mustergültig: Nicht nur wird die aufgefundene Leiche nicht für einen Moment für die des Täters gehalten, Hermann ist auch sofort der Hauptverdächtige und hat sich zudem bei der Aus­füh­rung der Tat so dämlich angestellt, dass die Identität des Opfers und damit Hermanns Deck-Identität festgestellt werden und Hermann binnen kurzem in Frankreich festgenommen werden kann.

Diese im Grunde recht banale Handlung wird vom Ich-Erzähler Hermann nicht nur stark literarisch überhöht – der Text ist nicht nur penetrant mit Spiegel-, Traum- und Doppelungsmotiven durchsetzt, sondern weist auch zahlreiche, durchaus witzige poetologische Pas­sa­gen auf, in denen sich der Möchtegernautor Hermann etwa über seine Kollegen Dostojewskij und Turgenjew lustig macht und umfangreiche Überlegungen zum literarischen Schreiben anstellt.

Nabokov selbst macht in seinem Vorwort zur Neuausgabe von 1965 auf die Ver­wandt­schaft Hermanns mit Humbert Humbert aufmerksam: Auch er ist ein Täter, der über seine vergangene Tat schreibt, auch er tut dies aus der nachträglichen Perspektive desjenigen, dessen Tä­ter­schaft entdeckt worden ist, auch er erweist sich als ein unzuverlässiger Erzähler, der den Leser zuerst für sich einnimmt, so dass dem erst peu à peu klar wird, wem er sich eigentlich gegenübersieht. In „Lolita“ ist dies alles allerdings um mehrere Stufen subtiler gemacht; „Ver­zweif­lung“ wirkt für den späteren Leser daher wie ein satirischer Vor­ent­wurf, was es natürlich nicht sein kann, da Nabokov 1932 im besten Falle eine vollständig unbestimmte Ahnung von diesem späteren Meisterstück gehabt haben kann.

Insgesamt ein hübsch gemachter, gut lesbarer Roman, der schon viel vom späteren Meister erahnen lässt.

Vladimir Nabokov: Verzweiflung. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 273 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (73)

Die blassen Organismen literarischer Helden nähren sich unter Aufsicht des Autors vom Herzblut des Lesers und schwellen nach und nach davon an; so daß die Genialität eines Schriftstellers darin bestünde, daß er sie mit der Fähigkeit ausstattet, sich an diese – nicht sehr appetitliche – Speise zu gewöhnen und dabei zu blühen und zu gedeihen, mitunter jahrhundertelang.

Vladimir Nabokov
Verzweiflung

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

goethe-leiden-des-jungen-werther-werther

Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

Allen Lesern ins Stammbuch (70)

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – daß diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; daß Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches

Thomas Nagel: Geist und Kosmos

Im Lichte dessen, wie wenig wir wirklich von der Welt verstehen, würde ich vor allem die Grenzziehung für das ausweiten wollen, was nicht als undenkbar angesehen wird.

Nagel-GeistDen etwas vollmundigen Untertitel dieses umfangreichen Essays, „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“ (der in diesem Fall einmal keine reißerische Zugabe des deutschen Verlages ist), kann der Autor, fast möchte man sagen „natürlich“, nicht einlösen, was die Qualität des Buches aber nur unwesentlich mindert. Der Anspruch des Buches erweist sich denn auch als deutlich bescheidener, als es der Untertitel vorgibt, und entspricht eher dem oben zitierten Motto.

Nagels Argumentation nimmt ihren Ausgang bei der Feststellung, dass die gegenwärtige naturwissenschaftliche Darstellung der Entwicklung des Lebens einige wesentliche Fragen nicht oder zumindest nicht ausreichend beantworten kann: Weder könne die Chemie für die Entstehung des Phänomens Leben überhaupt eine Erklärung, noch die Evolutionstheorie eine genügende Herleitung mentaler Phänomene wie Bewusstsein oder gar Vernunft liefern. Dabei betont Nagel, dass er nicht im geringsten bezweifele, dass die Evolutionstheorie bzw. die naturwissenschaftliche Beschreibung der Welt in allen wesentlichen Belangen korrekt sei. Er ist nur der Auffassung, dass diese Theorien mentale Phänomene nur unzureichend erfassen, und ihm scheint dieser Fehler systematischer Natur zu sein. Nagel sieht sich auch nicht dazu in der Lage, eine konkrete Alternativtheorie zu liefern, sondern er plädiert auf einer hoch abstrakten Ebene dafür, dass sich die naturwissenschaftliche Gemeinschaft wenigstens versuchsweise anderen Paradigmen der (aristotelischen!) Ursachenlehre öffnen solle, um mentale Phänomene angemessener beschreiben zu können. Hierzu bieten sich offensichtlich zwei Wege an: Die Entstehung von Leben im Allgemeinen und von bewusstem bzw. vernünftigem Leben im Speziellen könnten einerseits intentional gesteuert sein (ein Schöpfergott als causa formalis (Nagel verwendet die  spät­aris­to­te­li­schen Termini nicht, sondern nur die entsprechenden Konzepte)) oder sie könnten durch eine spezifische teleologische Verfasstheit der Grundelemente der Materie (Nagel meint im Grunde nichts anderes als den guten alten Substanz-Begriff, vermeidet aber auch ihn) verursacht sein (causa finalis).

Da Nagel Atheist ist, lehnt er die Hypothese von der intentionalen Verursachung durch einen Schöpfergott ab, selbst wenn sie sich nur so darstellen sollte, dass Gott seine Schöpfung zwar anfänglich entsprechend eingerichtet und anschließend aber den ihr inhärenten Kräften ohne weiteres Eingreifen überlassen habe. Bleibt also die These von der grundsätzlich teleologischen Verfasstheit der Natur, die bereits in ihren Grundelementen den Keim zu vernünftigem Leben in sich tragen soll. Reduziert man das umfangreiche philosophische Gerede Nagels auf seinen Kern, so ist alles, was er zu erreichen versucht, die Überwindung der von ihm (und anderen) empfundenen extremen Unwahrscheinlichkeit der Entstehung des Lebens sowie der Entstehung von Bewusstsein und Vernunft. Sowohl das Leben überhaupt, als auch besonders die Existenz des Menschen sollen keine zufälligen Ereignisse in einem blinden, rein materialistischen Prozess eines kalten, gleichgültigen Universums sein, sondern ausgezeichnete Vorkommnisse, um derentwillen der ganze Aufwand des Seins betrieben wird. Dass dies nur eine weitere Variation des anthropozentrischen Fehlschlusses ist, die witzigerweise zugleich versucht, erneut Metaphysik in einem vorkantianischen Sinne zu etablieren, bedarf kaum einer weiteren Erläuterung. Natürlich versucht Nagel keinen Augenblick lang, seinen Vorschlag zur Wiedereinführung der causa finalis in den naturwissenschaftlichen Diskurs wissenschaftstheoretisch oder gar methodologisch einzubinden; es ließe sich auch nicht imaginieren, wie dies auch nur ansatzweise geschehen soll. Die Reduktion der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre auf die causa efficiens als einziger Ursache-Wirkungs-Relation empirischer Erkenntnis ist so fundamental, dass sie nahezu identisch ist mit der Abgrenzung von naturwissenschaftlichen und metaphysischen Weltbeschreibungen.

Neben diesen sehr prinzipiellen Einwänden könnte man zudem noch kritisieren, dass Nagels Darstellung des naturwissenschaftlichen Verständnisses der Entwicklung von Bewusstsein und Vernunft nicht dem Stand der Forschung entspricht. Sicherlich ist es auch heute noch so, dass wir nur über ein fragmentarisches Verständnis dieser Entwicklung verfügen, doch sind diese Phänomene einer evolutionstheoretischen Darstellung bei weitem nicht so unzugänglich, wie Nagels Text das suggeriert. Die bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geleisteten Arbeiten etwa von Gerhard Vollmer („Evolutionäre Erkenntnistheorie“ (1975)) und insbesondere Konrad Lorenz („Die Rückseite des Spiegels“ (1973), das eine im Detail sicherlich überholte, in den Grundlinien aber immer noch zu beachtende Naturgeschichte des Erkenntnisvermögens liefert) scheinen auch heute noch nicht vollständig im Bewusstsein der philosophischen Gemeinschaft angekommen zu sein.

Bleibt zu betonen, dass Nagels Buch trotz all dieser Einwände eine gut lesbare, anregende Lektüre ist, auch wenn sie entgegen der Absicht des Autors eher die Unmöglichkeit des vorgeschlagenen Projektes deutlich macht. Nagel ist auch dort, wo er falsch liegt (und er muss zwangsläufig falsch liegen, denn er ist Philosoph), immer klar, verständlich und argumentativ zurückhaltend, Eigenschaften, die auch anderen sogenannten Philosophen gut zu Gesicht stünden.

Thomas Nagel: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Berlin: Suhrkamp, 2013. Pappband, 187 Seiten. 24,95 €.