Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Auf dem Weg zu Swann

Es ist die Höflichkeit Prousts, dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich für gescheiter zu halten als den Autor.

Theodor W. Adorno

Ich habe mich bislang mit dem Einstieg in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ sehr schwer getan. Seit meiner Studienzeit (in der meine damalige Freundin den gesamten Zyklus in vergleichsweise kurzer Zeit komplett gelesen hat) sind mehrfache Anläufe zur Lektüre immer wieder gescheitert. Ich habe dafür zum einen der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens die Schuld gegeben, mit deren Deutsch ich mich nie recht anfreunden konnte, auch nicht nach der Überarbeitung der Übersetzung durch Luzius Keller; ich habe mich stets bemüht, aber wie der Dichter sagt: „Du hast nun die Antipathie!“ Und nun extra noch Französisch zu lernen, wäre doch ein zu fantastischer Einfall gewesen. Zum anderen bin ich immer erneut an dem mir nur schwer verdaulichen ersten Teil Combray gescheitert, dessen Handlungslosigkeit ich noch tolerieren konnte, dessen selbstverliebte Tendenz zu Klatsch und Tratsch ich aber nicht die ironische Distanz abgewinnen konnte, die Proust vermutlich dem französischen Text mitgegeben hat. Auch hier schien die Übersetzung wenigstens für mich nicht gut genug.

So habe ich es mit großer Freude gesehen, dass bei Reclam seit 2013 mit schöner Regelmäßigkeit die sieben Bände der Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer erschienen. Die ersten Kritiken waren zwar nicht gut, da die meisten Kritiker aber zugleich die mir sprachlich widrige Rechel-Mertens lobten, derweil sie Fischer schmähten, hatte ich den unbelehrten Verdacht, dass diese Kritiken wenigstens an meiner zukünftigen Lektüre würden vorbeigeschrieben sein. Und so habe ich im vergangenen Jahr sehr, sehr langsam begonnen, endlich einen Einstieg in die „Recherche“ zu finden.

Combray

Auch in mir sind viele Dinge zerstört worden, von denen ich geglaubt hatte, sie währten ewiglich, und neue haben sich aufgebaut, die neue Schmerzen und Freuden hervorbrachten, die ich damals nicht hätte erahnen können, ganz so wie mir die alten schwer verständlich geworden sind.

Dieser erste der drei Teile des ersten Bandes liefert sowohl eine poetologische Hin- als auch eine praktische Durchführung des Grundthemas Erinnerung, das den gesamten Zyklus bestimmt. Der vorerst noch namenlose Ich-Erzähler beginnt mit den halb traumhaften Bewusstseins­zuständen beim Einschlafen über der abendlichen Lektüre im Bett, in denen sein Schlafzimmer in Combray, wo er die Sommer seiner Kindheit und Jugend zusammen mit seinen Eltern im Haus seiner Tante Léonie zugebracht hat, eine wiederkehrende Rolle spielt, und kommt dann zu dem berühmten Moment, als ihm der Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine die Erinnerung an die gesamte Zeit in Combray zurückbringt. Die sich anschließende Darstellung dieser Erinnerungen ist, wie bereits gesagt, weitgehend handlungsfrei und kreist um zahlreiche Motive: Klatsch und Tratsch seiner Tante über die Bewohner des Städtchens, die Hypochondrie der Tante, die seit Jahren die meiste Zeit im Bett zubringt, ihre Köchin Françoise und deren Hass-Liebe zur Tante, der Nachbar Swann und seine Tochter Gilberte, die erste Verliebtheit des Erzählers, seine frühen sexuellen Sehnsüchte, seine Lektüre und sommerliches Nichtstun, Spaziergänge in der Umgebung und die damit einhergehende Naturerfahrung, die Bewunderung von Kircharchitektur und -fenstern und auch das Interesse an historischen Figuren und der Sphäre des Adels, die der Erzähler vorerst noch als einen entrückten halb historischen, halb gesellschaftlichen Hintergrund empfindet.

Nun verstehe ich auf einer abstrakten Ebene sehr wohl, warum all das so gestaltet ist, und warum es zwar beliebig erscheint, angesichts des Grundthemas aber nur so sein kann, wie es ist, aber es ist mir bei der aktuellen Lektüre auch klar geworden, dass mein hauptsächliches Problem mit Combray nicht in der Übersetzung wurzelt, sondern dass mich die Figuren zu wenig interessieren. Es wird im letzten Drittel dieses ersten Teils besser, wenn das jugendliche Ich des Erzählers soweit herangereift ist, dass erste Reflexionen zur Natur und vage sexuelle Empfindungen auftauchen, doch das Provinzielle und insbesondere das Personal Combrays ist mir zu fad. Natürlich habe ich den Verdacht, dass dieser erste Teil im Rückblick bzw. bei einem zweiten Durchgang nach der Gesamtlektüre des Zyklus einen komplett anderen Eindruck machen wird. Dennoch stellt Combray für mich eine echte Hürde beim Einstieg in den Romanzyklus dar.

Eine Liebe von Swann

»Er ist ja nicht direkt hässlich, wenn Sie so wollen, aber auf irgendeine Weise lächerlich: dieses Monokel, dieses Toupet, dieses Lächeln!«

Es dürfte bekannt sein, dass es sich bei diesem zweiten Teil des ersten Bandes um einen Roman im Roman handelt: Im Zentrum steht die erste Zeit der Verliebtheit Charles Swanns, den wir aus Combray als alten Bekannten und Nachbarn der Familie des Erzählers kennen, in die junge Odette de Crécy, mit der er in Combray verheiratet ist und eine Tochter hat. Swann selbst ist gesellschaftlich ein Wanderer zwischen den Welten, stammt aus einer reichen jüdischen Familie, verlebt sein Erbe, arbeitet als freier Kunsthistoriker und verkehrt in allen gesellschaftlichen Schichten von Paris bis zu den sogenannten höchsten. Er ist ein Frauenheld, bevorzugt normalerweise junge Frauen aus der Arbeitsschicht, verschaut sich aber in Odette, auch wenn sie eigentlich nicht seinem Frauentyp entspricht.

Um sie regelmäßig sehen zu können, beginnt er im Salon des Ehepaars Verdurin zu verkehren, das sich mit einem kleinen Kreis aus Akademikern und Künstlern umgeben hat, zu dem auch Odette eher zufällig gehört. Odette lässt sich von diversen Männern aushalten und erweist im Gegenzug wohl auch regelmäßig Liebesdienste, was Swann aber für lange Zeit zu ignorieren versteht, bis es zu einer konstanten Quelle der Eifersucht für ihn wird, als er bei Odette aus der Rolle des Favotiten herauszufallen beginnt. Weder nach seinem Bildungsstand noch seinem sonstigen gesellschaftlichen Umgang passt Swann in den Kreis der Verdurins, so dass hier ein distanziertes Portrait des Großbürgertums entsteht. Ergänzt wird dieses gesellschaftliche Bild durch einen Abend bei der Marquise von Saint-Euverte, deren Einladung Swann nur folgt, um sich von seinem Unglück mit Odette abzulenken. Dieser künstlerische Abend – es wird ein junger Pianist vorgeführt – liefert eine bitterböse, detaillierte Satire der Hautevolee.

Die Erzählung – die interessanterweise offenbar ebenfalls vom Erzähler von Combray erzählt wird, der hier quasi als auktorialer Erzähler auftreten muss – endet, ohne dass der innere Konflikt Swanns, der Odette offensichtlich weiterhin liebt und sich zugleich in seiner Eifersucht nicht von ihr lösen kann, während sie längst zu anderen Männern weitergezogen zu sein scheint, aufgelöst wird. Die Leser erfahren nicht, wie es dazu gekommen ist, dass Swann Odette geheiratet hat, was ihn in den Augen seiner Nachbarn in Combray gesellschaftlich ruiniert hat, während Swann in Paris tatsächlich auch weiterhin in den höchstens Kreisen geschätzt wird und dort verkehrt.

Ländliche Namen: Der Name

… wenn eines Tages in diesem meinem allzu wohlbekannten, geringgeschätzten Leben Gilberte die ergebene Dienerin werden würde, eine praktische und bequeme Mitarbeiterin, die mir am Abend bei der Arbeit helfen und in meine Veröffentlichungen die Seitenzahlen eintragen würde.

Der dritte Teil des Romans erzählt in der Hauptsache von der Liebe des etwa 15-jährigen Ich-Erzählers zu Gilberte Swann, die er regelmäßig zu sportlichem Spiel in den Champs-Élysées trifft, während zwischen den beiden Familien der Jugendlichen kein gesellschaftlicher Kontakt mehr besteht. Ergänzt wird dieser Hauptteil durch eine Einleitung, die dem Teil seinen Titel gibt, in dem der Erzähler von seinen frühen Fantasien um Ortsnamen herum (Balbec, Florenz, Venedig) berichtet, und einer Art von Epilog, in dem das Hauptthema Erinnerung wieder aufgenommen wird und der Erzähler einen sentimentalen Blick auf Erinnerung an die Jahre seiner Jugend wirft:

Die Wirklichkeit, die ich gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es genügte schon, dass Madame Swann nicht völlig unverändert im gleichen Augenblick erschien, und die Avenue war eine andere. Die Stätten, die wir gekannt haben, gehören nicht allein der räumlichen Welt an, in die wir sie der Einfachheit halber einbetten. Sie waren nur ein schmales Segment inmitten der zusammenhängenden Eindrücke, die unser damaliges Leben ausmachten; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.

S. 584 f.

Wie schon gesagt ist dieser erste Teil der Recherche extrem handlungsarm; selbst Eine Liebe von Swann, in dem noch am ehesten so etwas wie eine traditionelle chronologische Entwicklung gefunden werden kann, ist zum Großteil gefüllt mit Reflexionen und Schilderungen innerer Zustände. Die Erzählung ist in allen Teilen sowohl inhaltlich als auch formal bewundernswert dicht, wenn auch nicht frei von Redundanzen. Es wird sich zeigen müssen, ob diese Art von Innerlichkeit über alle sieben Bände des Romans tragen wird.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer. Stuttgart: Reclam, 2013. Leinen, Fadenheftung, 2 Lesebändchen, 694 Seiten. 29,95 €.

Wird fortgesetzt …

Larry Niven / Jerry Pournelle: Der Splitter im Auge Gottes

Die ganze Befehlsgeberkaste ist zu Großen Narren geworden, nach meiner Meinung. Sie glauben, sie könnten den Lauf der Zyklen beenden, wenn sie in den Weltraum auswandern und andere Sonnensysteme besiedeln.

Ein weiterer Fund aus der zweiten Reihe: Ein Roman um die erste Begegnung der Menschheit mit einer außerirdischen Intelligenz zu Anfang des 4. Jahrtausends u. Z. Am Rande des Zweiten Galaktischen Imperiums taucht ein Raumschiff mit Lichtsegel auf, das offensichtlich vor langer Zeit von einem Sonnensystem gestartet wurde, das den Namen Der Splitter im Auge Gottes trägt. Aus ihm wird ein asymmetrisch gebautes Alien tot geborgen. Der Kaiser entschließt sich, zwei Kriegsschiffe mithilfe des von der Menschheit seit mehr als 1.000 Jahren benutzten Sprungantriebs zu diesem System zu senden. Dort findet man eine offensichtlich uralte Zivilisation vor, der es aber nie gelungen ist, ihr Sonnensystem zu verlassen, was in der Hauptsache daran liegt, dass das andere Ende des Sprungpunktes in ihrem System innerhalb einer Sonne endet und so alle Schiffe, die die Aliens auf diesen Weg gebracht haben, zerstört worden sind.

Die Menschen stoßen auf eine hoch technisierte Zivilisation, deren Träger sich in mehreren Unterarten entwickelt haben. Es gibt Meister, Vermittler, Techniker, Landarbeiter, Boten, Bastler und – sehr lange vor den Menschen verborgen – auch eine Kaste von Kriegern. Das eigentliche Problem dieser Zivilisation ist, dass die Aliens einen hormonellen Zyklus durchlaufen, indem Geschlechtswechsel und Schwangerschaften notwendig auf­ein­an­der­fol­gen und der nur auf Kosten des individuellen Lebens unterbrochen werden kann. Es herrscht daher ein extremer Bevölkerungsdruck, der regelmäßig zu Kriegen und dem Zusammenbruch der Zivilisation führt. Der einzige Ausweg scheint zu sein, andere Planeten zu besiedeln, also das Splitter-Sonnensystem zu verlassen, was das Ziel der Aliens in den dem ersten Kontakt folgenden Verhandlungen ist. Anbieten können sie im Gegenzug eine Technologie, die in Teilen der der Menschheit weit überlegen ist. Die Autoren haben sich für den daraus entwickelten Konflikt ein überraschendes, wenn auch nicht sehr wahrscheinliches Ende ausgedacht.

Es handelt sich um einen ganz unterhaltsam geschriebenen Aben­teuer­roman, wenn auch besonders das letzte Viertel Längen aufweist, die allerdings auch dazu benutzt werden zu zeigen, dass sich die menschliche und außerirdische Zivilisation so sehr nicht unterscheiden. Die au­ßer­ir­di­sche Zivilisation ist sehr hübsch erfunden und – obwohl immer wieder das Gegenteil behauptet wird – letztlich durchaus verständlich konstruiert. Was mich bei der Wiederlektüre am meisten erstaunt hat, ist, dass dies offensichtlich einmal einer meiner Lieblingsromane war (das vorliegende Exemplar stammt aus dem Jahr 1983, ich habe das Buch aber ganz sicher zuerst in den 70-er Jahren gelesen), während ich es heute eher mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen habe: Ganz nett erfunden, aber zu lang und deutlich zu sehr auf ein eher konventionelles Lesepublikum hin geschrieben.

Larry Niven / Jerry Pournelle: Der Splitter im Auge Gottes. Übersetzt von Yoma Cap. Heyne SF 3531. München: Heyne, 61983. Broschur, 624 Seiten. Derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz

Geschichte von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne ohne das Neue Rom zu schreiben oder lehren zu wollen, ist […] ein aussichtsloses Unterfangen.

Es ist ein höchst seltener Fall, dass sich eine Sachbuchreihe nach ihrem vermeintlichen Abschluss nicht nur noch einmal zu Wort meldet, sondern sich zudem auch noch ins Wort fällt, wenn man so sagen darf. Der sechste Band der Beck’schen Geschichte der Antike hatte die Antike schon vergleichsweise spät mit dem Aufstieg des Islam enden lassen. Sein Nachfolger Preiser-Kapeller liefert nun einen siebten Band der Hexalogie und verlängert mit ihm die Geschichte der Antike mit einigem Recht bis ins Jahr 1453, also bis zum endgültigen Fall von Konstantinopel an die Osmanen. Er weist darauf hin, dass im Selbstverständnis, aber durchaus auch im Verständnis des sogenannten Westens Konstantinopel noch für sehr lange Zeit als zwar beschränkte, aber dennoch ungebrochene Fortsetzung des römischen Kaisertums und seines Reiches empfunden wurde.

Es ist verständlich, dass eine Darstellung von über 1.000 Jahren Historie auf etwas über 300 Seiten in weiten Teilen summarisch sein muss. Besonders die letzten 200 Jahre der Geschichte des „Neuen Rom“, wie der Autor das Byzantinische Reich bevorzugt nennt, sind eine dichte Aneinanderreihung von Haupt- und Staatsaktionen, auch wenn sich Preise-Kapeller redlich bemüht die sozialen und ökonomischen Bedingungen der Menschen unter den römischen Kaisern nicht ganz zu vernachlässigen. Die Darstellung macht viele Verflechtungen zwischen Macht- und Religionspolitik deutlich, wie etwa in der Spätzeit des oströmischen Reiches die Kaiser immer erneut mit dem Pfund einer Kirchenvereinigung wuchern, um Unterstützung aus dem Westen Europas zu erlangen, sich dabei aber notwendig gegen ihre eigene Kirche und die Masse der gläubigen Untertanen wenden müssen. Auch die sowohl auf byzantinischer als auch auf slawischer, mongolischer und islamischer Seite immer erneute Selbstschwächung durch innere Konflikte beim Herrscherwechsel sind eine Konstante der Darstellung, die deutlich macht, wie wenig das Konzept des Einzelherrschers tatsächlich in der Lage ist, eine zuverlässige, stabile und erfolgreiche Ge­sell­schafts­ord­nung über Generationen hinweg zu garantieren. Nicht zuletzt folgt Preiser-Kapeller der Tugend der Gesamtreihe, die grundlegenden Quellen seiner Geschichtsschreibung nicht zur zu benennen, sondern auch immer kritisch auf deren eigene Agenda hin zu befragen.

Man würde sich 150 oder sogar 200 Seiten mehr wünschen, nicht nur um die soziale und intellektuelle Entwicklung des Neuen Rom detaillierter zu verstehen, sondern auch um mehr über die näher und weiter entfernten Feinde des Reiches zu erfahren. So wird etwa die Rolle der Mongolen und der Entwicklung ihres Reiches immer wieder thematisiert, doch bleibt das Bild dieses Volkes und der inneren Struktur seiner Herrschaft leider zwangsläufig schemenhaft. Doch solche Nachforderungen lassen sich natürlich immer und bei jedem Werk gleich welchen Umfangs formulieren.

Insgesamt ein sehr würdiger Abschluss dieser Reihe, die in ihrer Gesamtheit nur einmal mehr empfohlen werden kann.

Johannes Preiser-Kapeller: Byzanz. Das Neue Rom und die Welt des Mittelalters. C. H. Beck Paperback 6535. München: Beck, 2023. Klappenbroschur, 352 Seiten. 22,– €.

Platon: Apologie des Sokrates

Wer mehr als dreimal hintereinander «warum?» sagt, muss entweder Sokrates sein oder ein Idiot.

Ludwig Hohl

Die Platonische „Apologie“ ist wahrscheinlich der meistgelesene philosophische Primärtext überhaupt: Nicht nur wird er seit langem als einer der Einführungstexte in die Philosophie gebraucht, sondern zusätzlich dient er als Lektüre im Unterricht des Altgriechischen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass er bereits in zahlreichen Übersetzungen vorliegt und in regelmäßigen Abständen neu übersetzt wird. So auch hier durch den seit einigen Jahren sehr aktiven Kurt Steinmann für die Manesse Bibliothek.

Wie den meisten Lesern bekannt sein dürfte, handelt es sich bei der „Apologie“ um die Wiedergabe dreier Reden, die Sokrates im Jahr 399 v.u.Z. bei dem gegen ihn geführten Prozess wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend gehalten hat. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Reden von seinem Schüler Plato zwar nicht wörtlich, aber doch weitgehend authentisch aufgezeichnet wurden. Da von einer recht zeitnahen Publikation der platonischen Schrift nach Prozessende ausgegangen werden darf, hätte es zahlreiche direkte Beobachter des Prozesses gegeben, die auf eine grobe Verfälschung der sokratischen Reden hätten hinweisen können.

Die längste Rede ist die erste, direkt gegen die Anklage und die Ankläger gerichtete. Hier findet sich Sokrates berühmteste Auseinandersetzung mit der problematischen Natur menschlichen Wissens, die sich im Volksmund ebenso pauschal wie falsch in dem Pseudo-Zitat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ zusammengefasst findet. Etwas ausführlicher gesagt: Ausgangspunkt ist die Behauptung des Orakels von Delphi, Sokrates sei der Weiseste der Sterblichen, was diesen dazu veranlasst habe, das Wissen seiner Mitmenschen zu prüfen, um das Orakel zu widerlegen. Leider habe nun aber seine Aktivität nur dazu geführt, dass er, bei wem er auch nachgefragt habe, nur auf unzureichendes Wissen gestoßen sei. Daher sei die Aussage des Orakels so zu verstehen sei, dass Sokrates deswegen der Weiseste sei, weil er, obwohl auch er nicht wirklich etwas wisse, sich im Gegensatz zu seinen Mitmenschen nicht einbilde, über wirkliches Wissen zu verfügen. Allerdings habe er sich mit seinem insistierenden Nachfragen viele Feinde geschaffen, er sei sogar zu einer Karikatur in der Komödie des Aristophanes geworden, und dies sei es, was ihm diese Anklage eingebracht habe. Doch diene er mit seiner Suche nach der Wahrheit nur dem Gott und werde das auch in Zukunft so tun.

Streng betrachtet ist die Sokratische Argumentation windig: Natürlich hat ihn der Spruch des Orakels zu nichts verpflichtet; natürlich ist es schlicht Hybris, seinen Zeitgenossen auf dem Markt und anderen öffentlichen Plätzen zum Vergnügen der Umstehenden ihre Inkompetenz oder wenigstens ihre mangelnde Schlagfertigkeit nachzuweisen. Aber ebenso natürlich sollte dies nicht die Grundlage für einen Gerichtsprozess mit einem möglichen Todesurteil als Ergebnis sein.

Es ist in der Rezeptions-Tradition zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es sich Sokrates erst mit der zweiten Rede mit seinen Richtern verdirbt. Nachdem er nach der ersten Rede mit einem recht knappen Ergebnis für schuldig befunden wurde, konnte der Angeklagte in der zweiten Rede zum Strafmaß sprechen. Er macht dabei klar, dass er eine staatlich finanzierte Speisung für die angemessenste Strafe für seine Dienste am Athener Volk halte, er lässt sich aber letztendlich dazu herab, eine Geldstrafe zu beantragen, von der er sagt, seine reichen Freunde hätten zugesagt, sie zu entrichten. Erst diese Rede, so die allgemeine Auffassung, habe die Richter bewogen, das Todesurteil zu verhängen.

Zur Rezeption der „Apologie“ gehören zwei weitere Platonische Dialoge: „Kriton“, in dem die Gründe des Sokrates ausgeführt werden, warum er das Urteil der Richter annimmt und sich der Exekution nicht durch Flucht entzieht und warum es besser ist, Unrecht zu erleiden als auszuüben. Und „Phaidon“, in dem die Hinrichtung Sokrates’ geschildert wird verbunden mit einer Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele und darüber, dass das Leben des Philosophen eines auf den Tod hin sei. Es wäre sehr schön, wenn Kurt Steinmann auch diese beiden Dialoge neu übersetzte und so die kleine Trilogie dieser wichtigen Grundtexte für die europäische Tradition auch in den schönen Ausgaben der Manesse-Bibliothek zu Verfügung stünde.

Wie zu erwarten war, ist Steinmanns Übersetzung tadellos (an einer einzigen Stelle habe ich einen sprachlichen Lapsus gefunden), gut lesbar und in einem modernen, aber durchaus nicht nachlässigem Deutsch verfasst. Die Anmerkungen zum Text sind vereinzelt etwas überflüssig, da sie nur das paraphrasieren, was ohnehin im Text steht, insgesamt aber durchaus hilfreich für den Leser, der sich ohne Kenntnisse der kulturellen und juristischen Voraussetzungen des Prozesses an die Lektüre macht. Das Nachwort hat man mit Otto Schily einen Juristen schreiben lassen, was angesichts des philosophischen Sumpfes keine schlechte Idee ist, aber nur dazu führt, dass Schily die zu diskutieren Kernfrage „Was ist Wahrheit?“ (Pontius Pilatus) zwar anspricht, sich aber gleich anschließend den üblichen Ausreden zuwendet. Hier wäre eventuell eine Einordnung durch einen Althistoriker oder Philologen glücklicher gewesen.

Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzt von Kurt Steinbach. Manesse Bibliothek. Zürich: Manesse, 2023. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 182 Seiten. 24,– €.

Dennis Pausch: Virtuose Niedertracht

Erklärter Witz ist nicht mehr spitz.

Volksmund

Beim großen Herbert Rosendorfer heißt es über umständliche Witze:

Auf der Fahrt erzählte er Schnurren aus dem Berufsradrennfahrer-Leben, wobei die Pointe meist allerdings darin bestand, daß irgendjemand, den zwar Onkel Jeremy gut kannte, der aber seinen Zuhörern fremd war, bei irgendeiner Gelegenheit – deren Komik, da aus dem Radrennfahrer-Leben gegriffen, ausführlicher Erläuterungen bedurfte – irgend etwas sagte, wobei Onkel Jeremy, um die Pointe verständlich zu machen, erklären mußte, was man von dem Betreffenden eigentlich gesagt erwartet hätte.
– Eines, sagte Arthur Saingral später, ist gut, wenn einer recht umständliche Witze erzählt: er kann nicht viele erzählen.

Herbert Rosendorfer: Der Ruinenbaumeister. München: Nymphenburger, 1980. S. 262.

Dennis Pausch hat ein ganzes Buch solch umständlicher Witze geschrieben. Nicht, dass es uninteressant geraten wäre. Im Gegenteil: Für jemanden, der sich in der Antike, besonders auch in der antiken Rhetorik auskennt, handelt es sich um eine sehr vergnügliche und exzellent ausgewählte Sammlung von Beispielen dafür, was besonders in römischer Zeit an gehobenen und geschliffenen Beleidigungen ausgetauscht worden ist. Nach einer kurzen begrifflichen und systematischen Einführung besteht der Großteil des Buches aus einer thematisch gegliederten Anthologie. Vorgeführt werden Majestätsbeleidigungen, Politiker beschimpfen Politiker, Schriftsteller beschimpfen Schriftsteller usw. usf. Alle Beispiel werden in den historischen Kontext eingestellt und prägnant erläutert, wobei deutlich wird, dass die Römer in Sachen öffentlicher Beleidigung weit weniger zimperlich waren als ihre christlichen Nachfahren. Eine gewisse Gewandtheit in der Kunst der Beleidigung wurde von einem öffentlichen Redner sogar erwartet, genauso wie ein dickes Fell, wenn einem die Komplimente zurückgegeben wurden. Dennoch dürfte sich der oben beschriebene Effekt bei den meisten Lesern leider notwendig einstellen.

Nur zu empfehlen für Freunde der römischen Literatur oder solche, die es werden wollen, diesen aber unbedingt.

Dennis Pausch: Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike. München: Beck, 2021. Pappband, 223 Seiten. 22,– €

Allen Lesern ins Stammbuch (141)

Viele, ihr jungen Leute, sind einer Täuschung darüber erlegen, was ein Gedicht ist. Denn sobald einer einen Vers rhythmisch konstruiert und einen subtileren Gedanken in ein Gefüge von Worten eingeworben hat, meint er sofort, er sei auf dem Helikon angelangt. So hat mancher, der sich in den rhetorischen Pflichten der Gerichtsrede abgemüht hat, zur Ruhe der Dichtung wie zu einem glücklichen Hafen Zuflucht genommen, in dem Glauben, ein Gedicht lasse sich leichter bauen als eine juristische Streitrede, die mit sentenziöser Effekthascherei gespickt ist. Im Übrigen hält ein edlerer kreativer Kopf nichts von hohlem Geschwätz, auch kann der Geist nichts empfangen oder hervorbringen, wenn er nicht von einem gewaltigen Strom an literarischer Bildung durchflutet ist.

Petron
Satyrica

Ernst Robert Curtius: Marcel Proust

Nur aus der sorgsamen Sammlung und Vergleichung solcher Einzelzüge kann in immer erneuter und ausgeweiteter Betrachtung und Besinnung das Gesamtbild erarbeitet, kann die Intuition geklärt werden.

Es ist immer gut, wenn ein Text von Ernst Robert Curtius neu gedruckt wird. Das vor allem muss man im Gedächtnis halten!

Ernst Robert Curtius (1886–1956) war ein bedeutender deutscher Romanist und akademischer Lehrer. Er hat mit seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) einen Neuansatz der philologischen Beschäftigung mit den Traditionslinien der Literaturvermittlung zwischen Antike und Neuzeit geschaffen. Was aber viel wichtiger ist: Er war einer der wenigen außergewöhnlichen Leser der Literatur der Moderen. Curtius war nicht nur in der Lage, den Joyceschen Ulysses unmittelbar nach dem Erscheinen angemessen zu rezipieren, sondern er hat auch einen Essay über das Buch geschrieben, der für Jahrzehnte alles überragte, was von Deutschen über dieses Buch geschrieben wurde. Ebenso ist es mit Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, über das bereits 1925 ein umfangreicher Essay von Curtius erschienen ist, also noch bevor die beiden letzten Bände aus dem Proustschen Nachlass herausgegeben wurden. Zu diesem Zeitpunkt war Proust in Deutschland noch nahezu unbekannt. Diesen Text – oder beinahe diesen Text – drucken Schöffling & Co. nun wieder nach.

Curtius beschäftigt sich nur en passant inhaltlich mit den Romanen; stattdessen nähert er sich unter verschiedenen Schlagwörtern immer weiter der schriftstellerischen Arbeit und der Weltsicht Prousts an. Man sollte also weder eine Einführung noch eine biografische Studie erwarten, sondern hier schreibt ein Literaturwissenschaftler für akademische Leser über die Bedeutung des Proustschen Werks für die moderne Literatur und unsere Verständnis von Kunst überhaupt. Es ist eines von den Büchern, die man, selbst wenn man einzelnen Gedanken nicht zustimmen mag oder sich Details als obsolet erweisen, dennoch mit großem Gewinn und Vergnügen liest; das gilt auch für jemanden wie mich, der einen kompletten Durchgang durch den Romanzyklus trotz mehrerer Anläufe bisher nicht geschafft hat.1

Der philologische Leser sollte allerdings wissen, dass Schöffling & Co. sich dazu entschlossen haben, in den Text insoweit einzugreifen, als die Passagen aus den Schriften Prousts, die bei Curtius selbstverständlich in der Originalsprache zitiert wurden, im laufenden Text durch Übersetzungen von Michael Kleeberg ersetzt werden; die Original-Zitate werden im Anhang mitgeliefert, so dass nichts wirklich verloren geht außer dem Text, den Curtius verfasst hat. Das wird die meisten Leser des Bandes nicht stören und wahrscheinlich auch die Anzahl der Käufer des Bandes deutlich erhöhen. Aber es ist eben auch die Art von Entscheidung, die vor dem imaginierten Publikum und den sogenannten Gesetzen des Marktes kapituliert, noch bevor es zur eigentlichen Auseinandersetzung gekommen ist. Und über das Nachwort Kleebergs möchte ich lieber ganz schweigen.

Wer Curtius noch nicht kennt, findet hier die Gelegenheit, einen der ganz großen Leser des 20. Jahrhunderts zu entdecken. Es ist ein Einstieg in eine ganz eigene, originelle Lesewelt.

Ernst Robert Curtius: Marcel Proust. Frankfurt/M.: Schöffling & Co., 2021. Pappband, Lesebändchen, 200 Seiten. 24,– €.


1 Ich hoffe immer noch darauf, dass mein zentrales Problem durch die Neuübersetzung von Bernd-Jürgen Fischer behoben wurde, da für mich das Deutsch von Eva Rechel-Mertens auch in der überarbeiteten Neufassung gänzlich unverdaulich ist.

Anthony Powell: A Question of Upbringing / Eine Frage der Erziehung

Human relationships flourish and decay, quickly and silently, so that those concerned scarcely know how brittle, or how inflexible, the ties that bind them have become.

Ein etwas ziellos und anekdotisch erzählter Roman, der den Auftakt eines Zyklus von 12 Romanen bildet, die mit zusammen etwa 3.000 Seiten zwischen 1951 und 1975 erschienen sind. Powell ist in Groß­bri­tan­nien ein bekannter Autor mit einer bedeutenden Leserschaft, konnte sich aber bislang in Deutschland nur als Geheimtipp durchsetzen. Der Zyklus mit dem Gesamttitel A Dance to the Music of Time ist in­zwi­schen aber komplett übersetzt und bis auf den letzten Band inzwischen auch im Taschenbuch erschienen.

Die Handlung beginnt im Jahr 1921, als der Ich-Erzähler Nicolas Jenkins das letzte Jahr seiner Schullaufbahn hinter sich bringt. Erzählt wird von einem kleinen Freundeskreises von Schülern, der sich im Laufe der Zeit langsam auflöst. Stringham und Templer sind etwas älter als der Erzähler und bilden zusammen mit ihm eine eingeschworene Gemeinschaft. Während Templer die Schule früher verlässt, um in der Finanzwelt Londons eine Stelle anzutreten, treffen sich Stringham und Jenkins nach einer Zwischenzeit, in der Stringham seinen Vater in Kenia besucht und Jenkins in einer französischen Pension seine Sprachkenntnisse verbessert, auf der Universität wieder. Aber auch Stringham verschwindet bald aus dem Blick des Erzählers, als er eine Stelle als Privatsekretär eines Industriellen antritt.

Die Erzählung konzentriert sich wesentlich auf einen kleinen Kreis von Figuren und ihre Beziehungen untereinander: Neben Stringham und Templer ist es der Mitschüler Widmerpool, der hier nur als Nebenfigur auftritt, aber offensichtlich auf eine größere Rolle im Zyklus angelegt ist, ein Onkel von Jenkins – der einzige Verwandte des Erzählers, der einigermaßen prominent vorkommt–, daneben ein Universitätsdozent, die Familien Templers und Stringhams, ein Geschäftsfreund der Templers und noch einige andere, bei denen man nicht absehen kann, welche Rolle sie im weiteren spielen werden. Ansonsten ist der Roman merkwürdig weltarm: Weder bekommt man einen wirklichen Eindruck von den Örtlichkeiten, noch spielen im Schul- oder Universitätsleben irgendwelche akademischen Inhalte eine Rolle. Dass Jenkins etwa Geschichte studiert, erfahren wir nur beiläufig in einem Nebensatz, und es hat auch keinerlei Bedeutung für den Roman.

Ich habe das Buch alternierend im Original und der Übersetzung gelesen. Die deutsche Fassung tut sich etwas schwer mit dem lakonischen und ironischen Ton des Originals, der einem deutschen Leser wahrscheinlich auch etwas blasiert erscheint, doch muss man dem Übersetzer zustimmen, dass es schwierig ist, das im Deutschen adäquat nachzubilden. Wer kann, sollte also zum Original greifen. Einige wenige Passagen sind explizit humoristisch angelegt, aber im Großen und Ganzen lebt der Roman von der staunenden, ein wenig naiven Verwunderung des Erzählers, die die ironische Distanz zum Erzählten herstellt.

Wird fortgesetzt …

Anthony Powell: A Question of Upbringing. In: A Dance to the Music of Time. Vol. 1: Spring. London: Arrow Books, 1997. Kindle eBook, 736 Seiten. 7,66 €.

Anthony Powell: Eine Frage der Erziehung. Aus dem Englischen von Heinz Feldmann. dtv 14594. München: dtv, 22018. Klappenbroschur, 258 Seiten. 10,90 €.

Aus meinem Poesiealbum (XXV) – Sex im Alter

Ich will dir, Sokrates, versetzte er, bei Gott sagen, wie es mir vorkommt. Oftmals kommen unser mehrere zusammen, die in gleichem Alter stehen, das alte Sprichwort in Ehren haltend. Bei diesen Zusammenkünften nun jammern die meisten von uns, indem sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und der Liebesgenüsse gedenken und der Trinkgelage und Schmause und was es sonst noch ähnliches gibt, und sind verdrießlich, weil sie etwas Großes verloren und damals ein glückliches Leben geführt haben, jetzt aber eigentlich gar keines. Einige beklagen auch die Misshandlungen des Alters durch die Angehörigen und stimmen deshalb über das Alter ein Lied an, was es ihnen alles für Unglück bringe. Mir scheint aber, Sokrates, als würden diese nicht den wahren Schuldigen beschuldigen, denn wäre das Alter schuldig, so müsste auch ich um seinetwillen dieselbe Erfahrung gemacht haben, und die übrigen alle, welche diese Lebensstufe erreicht haben. Nun aber habe ich auch schon andere getroffen, bei denen es nicht so war; namentlich war ich einmal dabei, wie jemand an den Dichter Sophokles die Frage richtete: „Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Vermagst du noch einem Weibe beizuwohnen?“ Der antwortete: „Nimm deine Zunge in acht, Mensch; bin ich doch herzlich froh, dass ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist!“ Schon damals dünkte mir das wohlgesprochen und auch jetzt nicht minder […].

Plato: Politeia (Der Staat) I

Petron: Satyrica

Petrons Episodenroman, wahrscheinlich aus Neronischer Zeit (zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts), ist leider nur fragmentarisch überliefert. Die zeitliche Einordnung und die Verfasserfrage sind nicht ganz sicher zu klären, aber als wahrscheinlichste Variante gilt immer noch, dass der aus dem Umfeld Neros bekannte Titus Petronius Arbiter das Buch geschrieben hat. Es ist offensichtlich als Parodie auf die Homerische Odyssee angelegt; sein Erzähler Enkolp durchläuft eine lockere Folge von sozialen, intellektuellen, sexuellen, kulinarischen und handgreiflichen Abenteuern, die ein zugespitztes Panorama des Lebens der römischen Unterschicht liefern.

An einigen Stellen ist der Humor des Buches für den heutigen Leser wahrscheinlich etwas zu behäbig, an anderen Stellen zu grob, doch wenn man sich auf es einlässt, ist das Buch eine durchweg vergnügliche Lektüre. Leider macht sich der fragmentarische Charakter der Überlieferung an zu vielen Stellen bemerkbar, doch dem lässt sich nicht aufhelfen.

Die Neuübersetzung durch Karl-Wilhelm Weeber, der für eine ganze Flut von Büchern über römische Kultur und insbesondere römisches Alltagsleben verantwortlich zeichnet, ist sehr flott zu lesen, ohne dass sie sich, soweit ich das erkennen kann, vom Original entfernt. Im Gegenteil bildet Weeber zahlreiche grammatikalische Verwerfungen, die dazu dienen, sich über die Bildung diverser Figuren lustig zu machen, getreulich ab. Seine Übersetzung trifft auf jeden Fall den Tenor des Buches besser als so mancher der philologisch disziplinierteren Vorläufer.

Petron: Satyrica. Aus dem Lateinischen von Karl-Wilhelm Weeber. RUB 19553. Stuttgart: Reclam, 2018. Broschur, 297 Seiten. 7.– €.