Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.
En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:
Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]
Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:
Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]
Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.
Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.
Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.
Samuel Beckett soll auf die Frage, wie es komme, dass das kleine Irland eine so beeindruckende Zahl guter Schriftsteller hervorgebracht habe und hervorbringe, geantwortet haben:
Wenn man im hinterletzten Graben liegt, was bleibt einem da anderes übrig, als zu singen.1
Friedhelm Rathjen, der zuletzt auf der Buchmesse den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzung verliehen bekommen hat, arbeitet nicht nur als Sprachferge, sondern ist auch Rezensent, Literaturwissenschaftler (Fachmann unter anderem für James Joyce, Samuel Beckett und Arno Schmidt) und belletristischer Autor. Er hat zudem bereits vor zehn Jahren den wahrscheinlich weisen Beschluss gefasst, sich zumindest für die Veröffentlichung seiner eigenen Bücher aus der Abhängigkeit von anderen Verleger zu lösen und sich als Autor nunmehr selbst auszubeuten. Entstanden ist damals die Ǝdition RejoycE, in der Anfang 2004 als erster Band „Rejoyce!“ erschienen ist, ein „kleiner Leitfaden durch die irische Literatur“. Zur Feier des 10-jährigen Bestehens des Verlages ist nun eine stark erweiterte Neuauflage des Bandes erschienen, der jetzt 108 Bücher von 48 irischen Autoren der letzten 120 Jahre bespricht.
Die Spannbreite der Rezensionen reicht von der klassischen Föjetong-Kritik über das Übersetzungs-Bashing (so habe ich mit großem Genuss Rathjens Demontage von Dieter H. Stündels sogenannter „Finnegans Wake“-Übersetzung wiedergelesen) bis zu Autoren-Porträts, in denen Rathjen einzelne Autoren konsequent von Buch zu Buch begleitet. Wer nicht selbst ein guter Kenner der irischen Literatur ist, findet hier nicht nur eine irische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts en détail, sondern auch eine reiche Fundgrube kompetenter Lektüre-Hinweise. Ein Kompendium fürs Leseleben!
Friedhelm Rathjen: Rejoyce! Kleiner Leitfaden durch die irische Literatur. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2013. Bedruckter Pappband, 305 Seiten. 40,– €. Bestellungen per E-Mail direkt an den Verlag.
↑ 1. Deirdre Bair: Samuel Beckett. rororo 12850. Reinbek: Rowohlt, 1994. S. 622.
Die ganze Welt ist voll gelahrter Männer, hochbelesener Lehrer, voll reichbegabter Büchersäl, und dünket mich daß eine solche Bequemlichkeit der Studien wie man itzo siehet, weder zu Plato noch Cicero Zeiten, noch Papiniani gewesen sey. Und wird sich künftig in Gesellschaft gar keiner mehr herfürtraun dürfen, der nicht in der Minerva Werkstatt recht aus dem Grund poliret ist. Ich seh, es sind die Strassenräuber, Stallbuben, Waghäls und Henkersknecht itzund gescheiter als die Doctoren und Prediger zu meiner Zeit.
Ich finde dieses Buch unerträglich, das ist ein unerträgliches Buch! Es ist – ich spüre es, da ist was Poetisches, was Balladeskes, was Bemühtes. Es sind lauter Mythen, die da konstruiert, zitiert und erfunden werden, mit Frauen, aus denen Pferde werden, mit der großen Einsamkeit und dem einsamen Dorf im Norden. Es wird immer gesagt, 1.100 Kilometer nördlich von Stockholm. Mir ist das vollkommen fremd! Es lässt mich ganz kalt! Es langweilt mich! Ich spüre, das ist keine schlechte Literatur, aber es ist mir gänzlich fremd.
Besides, besides, why bother to write that kind of stuff down? Has it not been done—and done? Do they need me too to scratch my name on the Wailing Wall? For me the books count—my own included—where the writer incriminates himself. Otherwise, why bother?
Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.
Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.
»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.
Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.
Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:
Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …
Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]
Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:
Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]
Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.
And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.
Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.
In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.
Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.
Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.
Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschlussan diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.
People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.
Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.
Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.
Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:
Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«
Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.
Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.
Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?
Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.
Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.
Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge
Philip Roth ist der einzige lebende Autor, dessen erzählerische Werke in einer Edition der Library of America herausgegeben wurden und der so in gewisser Weise schon zu Lebzeiten offiziell zu einem Klassiker der US-amerikanischen Literatur geworden ist.
Enthalten sind in den nun neun Bänden alle erzählerischen Buchveröffentlichungen des Autors; was fehlt, sind einige Erzählungen, die nur in Zeitschriften veröffentlicht wurden, zudem ein Einakter von 1965 und seine Essays und Besprechungen. Da Roth bekanntlich seine Karriere als Schriftsteller beendet hat, dürfte die Ausgabe der LoA für lange Zeit die Referenzausgabe des erzählerischen Werks von Philip Roth bleiben. Ich werde, nachdem mein Zola-Projekt nun unmittelbar vor dem Abschluss steht, in den nächsten Jahren diese Ausgabe chronologisch lesen und natürlich hier besprechen.
Die Bände kosten, je nach Bezugsquelle und Seitenzahl, zwischen 23,– und 30,– €. Dafür erhält man Leinenbände im Umfang zwischen 450 und 850 Seiten, auf gutem Papier gedruckt, fadengeheftet und mit Lesebändchen versehen. Alle Bände der LoA sind für eine lebenslange Lektüre geeignet.
Deutlich zu lang geratener Erstlingsroman von Philip Roth, erschienen 1962. Erzählt wird in der Hauptsache die Geschichte Gabe Wallachs und seiner vielfältigen Verstrickungen in die Probleme des Ehepaars Paul und Libby Herz. Gabe lernt das Ehepaar im Herbst 1953 kennen, als er selbst noch Student an der Universität von Iowa ist. Paul scheint der einzige interessante Kommilitone zu sein, und Gabe nötigt ihm einen Roman von Henry James als Leihgabe förmlich auf, um mit ihm in Kontakt zu kommen. Wenig später stellt er fest, dass er den letzten Brief seiner verstorbenen Mutter an ihn im Buch hat liegenlassen, und mit dem Versuch, den Brief zurückzubekommen, beginnt seine Teilhabe am Schicksal der Herzens.
Libby, die sich ein wenig in Gabe verliebt, ist eine hoch neurotische Person, deren einziger Herzenswunsch zu sein scheint, ein Kind zu bekommen. Da sie aufgrund eines Nierenleidens – das wohl Folge einer früheren Abtreibung ist, die unter dramatischen Umständen in der ersten Ehezeit der Herzens stattgefunden hat – nicht schwanger werden darf, wollen Herzens ein Baby adoptieren, und weil eine Kollegin von Gabes derzeitiger Freundin ungewollt schwanger geworden ist, wird Gabe zum Vermittler einer privaten Adoption, deren Durchführung ihn letztlich zum körperlichen Zusammenbruch bringt.
Gefüllt wird dieses erzählerische Gerüst in der Hauptsache mit Dialogen, in denen die Sprechenden mit großer Konsequenz aneinander vorbeireden oder sich auch schlicht gar nicht verständlich machen können, was aber nur in den wenigsten Fällen dazu führt, dass die Personen mit dem Reden aufhören. Wenn man Tom Lehrer glauben darf, war die Unfähigkeit der Menschen, miteinander zu kommunizieren, eines der Hauptthemen der Literatur der 60er Jahre. Und nach der Lektüre von »Letting Go« ist man sehr geneigt, Lehrers zusammenfassendem Urteil zuzustimmen:
If a person can’t communicate, the very least he can do is to shut up!
Eine deutsche Übersetzung durch den in der Regel unsäglich schlechten Paul Baudisch (»Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!«, meinte schon Tucholsky über ihn) hat es bereits 1965 unter dem Titel »Anderer Leute Sorgen« gegeben; sie scheint aber inzwischen seit längerem nicht mehr lieferbar zu sein. Eine Neuübersetzung wird es wohl nur geben, falls Roth wider Erwarten doch noch den Literatur-Nobelpreis erhält.
Philip Roth: Letting Go. In: Novels & Stories 1959–1962. New York: Library of America, 2005. S. 227–894. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
Prinz Garibald zählte. Er zählte nicht Fliegen, Fenster, Autos oder was immer; er zählte abstrakt. Er hatte sich, als er achtzehn Jahre alt war, zur Lebensaufgabe gestellt, zu zählen. Das war 1922 gewesen. Er zählte manchmal laut, manchmal zählte er nur innerlich für sich; meist zählte er ganz leise und bewegte dabei ein wenig die Lippen. Aber immer zählte er gewissenhaft. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er, mit welcher Zahl er aufgehört hatte. Am nächsten Tag (genauer gesagt: am nächsten Werktag) fing er mit der darauffolgenden Zahl weiterzuzählen an. Er habe keine anderen Interessen und Neigungen, sagte der Prinz. Zum militärischen oder geistlichen Stand fühle er keine Berufung. Wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung langweile ihn. Die Jagd sei ihm zu unbequem. Das Zählen fülle ihn aus.