Zu den üblichen Anwärtern auf den Posten im Zentrum der Kultur zählen Religion, Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Wäre ich gezwungen, zwischen diesen vier Alternativen zu wählen, entschiede ich mich für die Kunst – allerdings nur deshalb, weil der Begriff »Kunst« unter diesen vieren der vagste und daher am wenigsten einschränkende ist. Es wäre aber besser, überhaupt nicht wählen zu müssen. Die beste Art von Kultur wäre eine, deren Schwerpunkt ständig wechselte, je nachdem, welche Person oder Personengruppe zuletzt etwas Anregendes, Originelles und Nützliches geleistet hat. Dies wäre eine Kultur, in der es gar nicht lohnend erschiene, eine Auseinandersetzung über die Frage zu führen, ob eine bestimmte neuartige Errungenschaft als »Kunst« oder als »Philosophie« zu gelten habe.
»Eine Kultur ohne Zentrum«
Kategorie: R
Martin Rowson’s Tristram Shandy
Angeregt durch die »Verfilmung« von Sternes »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« habe ich wieder mal Martin Rowsons Tristram-Shandy-Comic aus dem Jahr 1996 aus dem Bücherschrank gezogen. Rowsons schwarz-weißer Comic ist eine höchst originelle und eigenständige Aneignung des Romans, die weit über den Status einer reinen Illustration oder bildlichen Umsetzung hinausgeht. Dabei fängt das Buch noch einigermaßen konventionell an, indem Rowson Tristram Shandy als Erzähler seines Lebens auftreten lässt, der – eine Leserin und einen Leser im Schlepptau – durch den Anfang des Romans führt, den er wortwörtlich im Munde führt. Dementsprechend ist die erste Episode dem Weg des Homunkulus zu seiner neunmonatigen Ruhestätte gewidmet.
Aber sehr bald tritt auch Rowson selbst in seinem Werk auf, immer begleitet von seinem treuen Hund Pete, der das ganze Unternehmen aber zum großen Teil schlicht für lästigen Humbug hält. Dem Zeichner verschärft sich bald das bekannte Problem Shandys, der ja sein Leben und seine Ansichten derart ausschweifend erzählt, dass er mit dem Erzählen dem Leben immer mehr hinterherhinkt, da Rowsons Fassung zum Teil so detailliert ist, dass er nach 126 (von insgesamt 182) Seiten erst am Ende von Buch III angelangt ist und schließlich nur 20 Seiten für die Bücher V bis IX übrig hat, so dass – zu seiner eigenen Überraschung – die Bücher VI und VIII komplett ausfallen müssen, damit es sein Buch gerade noch so schafft, das Ende von Buch IX des »Tristram Shandy« unterzubringen.
Rowsons bildliche Einfälle können nur als kongenial bezeichnet werden: Nicht nur zitiert er ständig zeitgenössische Illustratoren und Illustrationen, die Geschichte des Hafen Slawkenbergius aus Buch IV etwa wird in eine Reihe von Großbildern umgesetzt, die vom frühen Holzschnitt über einen Dürer-Stich, eine Hogarth-Doppelseite bis hin zu Aubrey Beardsley und George Grosz reicht. Und bei den bildlichen Einfällen bleibt es nicht: So gerät z. B. eine Fahrt in dem Segelwagen des Stevinus (Buch II) unter anderem auch in ein Kino, in dem eine kurze Szene aus »Oliver Stone’s ›Tritram Shandy‹« mit der Tagline »From a Place Called Namur to Hell and Back« zu sehen ist, mit Robert De Niro als Walter Shandy, Tom Cruise als Onkel Toby und Meryl Streep in der Rolle des Korporals Trim. Leider können wir nur raten, in welcher Rolle Danny DeVito zu sehen ist.
Rowsons »Tristram Shandy« ist sicherlich nur etwas für echte Liebhaber und Kenner des Buches; die aber werden es nicht mehr missen wollen, nachdem sie es einmal in die Hand genommen haben. Darf in keinem Bücherschrank eines echten Shandyisten fehlen!
Martin Rowson: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Woodstock: The Overlook Press, 1997. Leinenrücken, fadengeheftet, 182 unpaginierte Seiten. Preis ca. 20,– $.
Es existiert auch eine broschierte Ausgabe! Die bei amazon.de angebotenen Exemplare sind leider gänzlich überteuert (> 50,– €).
Eine weitere Literaturgeschichte
Wie vor einiger Zeit schon einmal festgestellt, scheint es derzeit eine ungewöhnliche Nachfrage nach kurzgefassten Literaturgeschichten zu geben. So versuchen sich auch kleinere Verlage daran, von diesem Bedarf zu profitieren. Der im Januar 2006 gegründete merus verlag legt mit »50 Klassiker der Weltliteratur« von Thomas Rommel einen entsprechenden Titel vor. Der Autor ist Literaturprofessor an der Jacobs University in Bremen, einer privaten Universität, die 1999 gegründet wurde.
Positiv überrascht erst einmal die Auswahl an Werken, die Rommel bespricht. Natürlich fehlen Standards wie Goethes »Faust« (hier nur der Tragödie erster Teil) oder Shakespeares »Hamlet« nicht, aber mit Stanislaw Lems »Solaris« oder auch Bernard Mandevilles »Die Bienenfabel« beweist der Autor Originalität. Außerdem erlaubt er sich bei den ausgewählten Werken hier und da ungewöhnliche Zugriffe, wenn er etwa bei Schiller »Das Lied von der Glocke« bespricht oder Heinrich von Kleist mit seinem am wenigstens originellen Stück »Amphitryon« vorstellt. Alle Beiträge haben eine Länge von etwa 2½ Seiten, wobei einige durch umfangreichere Zitat aufgefüllt zu sein scheinen.
So weit, so gut. Leider ist damit auch alles Positive bereits gesagt. Stichproben in den einzelnen Artikeln fördern schnell Oberflächlichkeiten, Fehler und falsche Zugriffe zutage. Einige Beispiele: Bei der Besprechenung von James Joyces »Ulysses« schreibt Rommel:
Der Roman ist wie Homers Odyssee in 18 Kapitel unterteilt […]. (S. 77)
Da hätte Herr Rommel besser einmal einen Blick in sein eigenes Buch geworfen, denn im Artikel zu Homers »Odyssee« steht ganz richtig:
In 24 Büchern oder Gesängen, die in etwa verbundenen Kapiteln entsprechen, werden die Abenteuer des Königs Odysseus beschrieben. (S. 69)
Und diese Zahl ist natürlich alles andere als zufällig, denn Homers »Odyssee« ebenso wie seine »Ilias« haben so viele Gesänge wie das klassische griechische Alphabet Buchstaben. Hier zeigt sich die ordnende Hand späterer Editoren.
Aber solche Fehler sind natürlich Kleinigkeiten. Schon etwas peinlicher sind Stilblüten dieser Art:
Starbuck, der amerikanische Maat, der Harpunier Queequeg, der am ganzen Körper tätowiert ist, und von dem es heißt, er sein ein Kannibale, Tubb von der amerikanischen Ostküste, der Indianer Tashtego und Daggoo, ein schwarzer Hüne von unbändiger Kraft; sie alle sehen in Ahab einen Menschen, der sein Schicksal herausfordert. Und das führt am Ende des Buches zum Untergang – […]. (S. 112)
Nein, es ist Ahabs Besessenheit, die die Pequod schließlich in die Katastrophe führt, nicht die Einschätzung seiner Person durch seine Schiffskameraden. Auch das überflüssige Komma weist darauf hin, dass dem Buch ein gründliches Lektorat gut getan hätte.
Wirklich schlimm aber wird es, wenn sich Rommel der älteren Literatur zuwendet: Seine Darstellung von Sophokles’ »König Ödipus« etwa zeigt sowohl ein umfassendes Unverständnis des Stücks als auch Unkenntnis der Umstände, unter denen es entstanden ist. Rommel bespricht das Stück, als sei es von einem modernen Autor für ein modernes, mit den antiken Mythen nur mäßig vertrautes Publikum geschrieben: »Das Stück beginnt wie ein Krimi« (S. 143). Er glaubt daher auch, das Stück enthalte
Andeutungen […] und versteckte Hinweise […], die das Publikum sehr schnell in die Lage versetzen, den tragischen Ausgang des Geschehens zu erahnen. […] Spätestens jetzt ahnt das Publikum, dass Ödipus, der mächtige König von Theben, ein tragischer Held ist. (S. 142)
Sophokles’ Publikum musste natürlich nichts dergleichen »erahnen«, es kannte schlicht den Mythos und seinen Ausgang. Es war auch nicht gespannt, wer denn wohl der Mörder des alten Königs Laios sein könnte, weswegen das Stück eben auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem Krimi hat. Und so hätte Sophokles wahrscheinlich auch nicht die Meinung Rommels geteilt, »dass die Götter sein [Ödipus’] Schicksal zynisch gegen ihn gerichtet haben« (S. 144), sondern im Gegenteil wohl die Auffassung vertreten, dass Ödipus sich der Hybris schuldig machte, als er glaubte, er könne durch seine Entscheidungen und Handlungen seinem Schicksal entgehen. Einmal ganz abgesehen davon, dass es in Sophokles’ Stück einen unheimlichen Moment gibt, indem das gesamte Gedankenkonstrukt, auf dem die Schicksalstragödie basiert, infrage gestellt wird, als nämlich Iokaste darauf verweist, dass sich der alte Spruch des Orakels von Delphi, der Laios seinen Tod durch die Hand seines Sohnes vorhergesagt hatte, gar nicht erfüllt habe.
Apollons Spruch blieb also unerfüllt: Der Sohn
ermordete den Vater nicht, und Laïos
fand nicht den Tod von Sohneshand, vor dem ihm bangte.
Das war der Inhalt des Orakels, darum brauchst
du keine Sorgen dir zu machen. Will ein Gott
erfüllen einen Zweck, vollbringt die Tat er offen.
An dieser Stelle steht die Tragödie konzeptionell auf Messers Schneide. Ödipus könnte sich hier beruhigen mit der Auskunft seiner Frau, dass sich Orakelsprüche eben auch nicht erfüllen können und sich der Mensch keine Sorgen machen solle, da die Götter ohnehin handeln, wie es ihnen beliebt. Und gerade an dieser Stelle zeigt sich Ödipus tief erschüttert, ohne dass er wissen kann, was ihn ergreift.
OIDIPUS.
Was ich jetzt eben hören mußte, Iokaste,
versetzt mich in Verwirrung, regt mich schrecklich auf.
IOKASTE.
Welch eine Sorge kann dich denn so stark erregen?
Aber das ist in seinen Konsequenzen natürlich bei weitem zu komplex für eine solche kurze Literaturgeschichte. Es soll damit bloß angedeutet werden, dass der Horizont, in den Sophokles sein Stück eingestellt hat, ein gänzlich anderer ist als der, den Rommels moderner Krimi-Ansatz anbietet.
Resümierend muss festgestellt werden, dass das Inhaltsverzeichnis des schmalen Bändchens leider schon das Beste an ihm ist. Hinzu kommt der für 160 broschierte Seiten horrende Preis von 14,90 €.
Thomas Rommel: 50 Klassiker der Weltliteratur. Bücher lesen und verstehen. Hamburg: merus verlag, 2006. Broschur, 160 Seiten. 14,90 €.
Deutsche Geschichte
Die Digitale Bibliothek hat ihr ohnehin schon breites Angebot an elektronischen Werken zur Geschichte um die 10 grundlegenden Bände der »Deutschen Geschichte« aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ergänzt. Diese Bände gehören seit Jahrzehnten zur studentischen Grundaustattung der meisten Historiker und decken die deutsche Geschichte von den Anfängen bis zum Jahr 1945 ab. Die CD-ROM enthält die vollständigen Texte aller Bände mit zusammen etwa 2.500 Buchseiten in den aktuellen, derzeit lieferbaren Auflagen zu einem unschlagbaren Preis.
Highlight der Buchreihe war und ist mit Sicherheit Band 9, Hans-Ulrich Wehlers »Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918«, der für das historische Verständnis dieser Zeit Maßstäbe gesetzt hat:
Über zwei Jahrzehnte lang hieß es an historischen Seminaren deutscher Universitäten ehrführchtig nur ›das blaue Buch‹. Niemand, der sich auf akademische Weise mit neuerer deutscher Vergangenheit beschäftigen wollte, kam daran vorbei. […] Mit dem ›blauen Buch‹ vollzog Wehler den vielleicht folgenreichsten Paradigmenwechsel in der (alt-)bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft […].
Sven Felix Kellerhoff, Die Welt
Zu dem Preisvorteil von knapp 80,– € kommen die üblichen Vorteile von Ausgaben der Digitalen Bibliothek hinzu: Eine ausgereifte, professionelle Software, die Volltextsuche, Paste & Copy auch längerer Passagen (mit exakter Seitenreferenz zur gedruckten Ausgabe), Lesezeichen, farbliche Textmarkierungen, das Ablegen von Notizen und Ausdrucke in individueller Formatierung erlaubt; dies ermöglicht ein intensives und zeitsparendes Arbeiten mit den Texten. Zusätzlich verfügt die elektronische Ausgabe über ein Gesamtregister der in allen Bänden verwendeten Abkürzungen. Diese CD-ROM ist auch geeignet, um eventuell bereits vorhandene Einzelbände der Reihe zu ergänzen.
Deutsche Geschichte. Hg. v. Joachim Leuschner. Digitale Bibliothek Band 151. Berlin: Directmedia Publishing in Kooperation mit Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.
Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.
Rosendorfers »Deutsche Geschichte« (Bände 1–5)
Das Erscheinen des fünften Bandes von Herbert Rosendorfers »Deutsche Geschichte. Ein Versuch« habe ich zum Anlass genommen, auch die vorhergehenden Bände noch einmal zu lesen und mir so einen Überblick über den Stand des Projektes zu verschaffen. Mit bislang über 1.300 Seiten dürfte Rosendorfers »Deutsche Geschichte« der anspruchsvollste Versuch eines historischen Laien sein, eine Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte für historische Laien zu schreiben.
Der erste Band erschien 1998 und umfasst die Zeit von den historisch nur ungenau zu fassenden Anfängen der deutschen Geschichte bis zum Wormser Konkordat (1122), der derzeit letzte Band treibt die Erzählung bis ins Jahr 1740, in dem Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der »Soldatenkönig«, und Kaiser Karl VI. sterben. Dabei ist der Ausdruck ›Erzählung‹ nicht zufällig gewählt. Rosendorfer betont in seinen Nachworten, dass er ausdrücklich nicht den Anspruch habe, ein Geschichtsbuch im traditionellen Verständnis zu schreiben, sondern eine Erzählung der deutsche Geschichte. Das hat für die Leser in aller erster Linie den Vorteil, dass sie von Fußnoten und Quellenzitaten weitgehend verschont bleiben. Die Bücher erfüllen tatsächlich in weiten Teilen den Ansatz, dass sich einer die Mühe macht, uns den Gang der Geschichte zu erzählen, Personen wie Figuren einzuführen, die Ereignisse als Stoff zu betrachten, der von sich aus Interesse verdient und nicht erst durch das Einbinden in ein Geschichtsverständnis interessant wird.
Dabei konzentriert sich Rosendorfer durchaus nicht nur auf die Geschichte im engeren Sinne, sondern zu nahezu jeder Epoche gibt er auch einen Überblick über die kulturelle Entwicklung, den Stand von Kunst und Wissenschaften, und er thematisiert vom ersten Band an auch die Lage jener, die in der ›großen Geschichte‹ gewöhnlich nicht vorkommen, der sogenannten kleinen Leute. Dabei ist ihm durchaus klar, dass seine Sympathie für den ›kleinen Mann‹ anachronistsch ist und den Personen seiner Haupterzählung wesentlich fremd. Überhaupt zeigt Rosendorfer nicht häufig Sympathie für eine der historischen Personen seiner Erzählung; die allermeisten kommen schlecht weg im Urteil des Autors. Rosendorfer neigt zu einem Geschichtspessimissmus, nicht ideologischer Natur, sondern aus einem insgesamt zum Pessimistischen tendierenden Menschenbild heraus. Unbedingt erwähnt werden müssen auch seine massiven und immer präsenten Vorbehalte gegen die katholische Kirche – weniger gegen das Christentum –, später auch gegen bestimmte Zweige der protestantischen Richtung und eine ungewöhnlich scharfe allgemeine Ablehung des Islam, die besonders im letzten Band hinzugekommen ist. Dies wird die Lektüre für bestimmte Personen über Strecken wahrscheinlich etwas mühsam machen. Wenn man, wie ich, das alles in einem Zug liest, verspürt man irgendwann die Neigung, dem Autor ein »Ja, ja, schon gut« an den Rand zu schreiben.
Entscheidend für Rosendorfers Zugriff auf die deutsche Geschichte dürfte aber sein, dass er sich keiner Geschichtstheorie verschreibt, weder was das Große und Ganze angeht noch bei der Darstellung der Details und der einzelnen historischen Person. Rosendorfer glaubt offenbar nicht, dass sich das geschichtliche Geschehen einem systematischen Zugriff öffnet oder das sich Ereignisse oder Entscheidungen besser verstehen lassen, wenn sie streng unter ein psychologisches, ökonomisches, soziologisches oder sonstiges Theoriegerüst gezwungen werden. Das bedeutet nicht, dass Rosendorfer nicht alle diese Aspekte heranziehen würde, wenn es ihm sinnvoll erscheint, aber die Zugriffe bleiben eklektizistisch und immer eng orientiert am jeweiligen Ereignis. Eine solche Grundhaltung gibt dem Autor auf der einen Seite eine große Freiheit der Gewichtung der diversen Aspekte, auf der anderen Seite bringt es die Gefahr mit sich, dass seine Erzählung ins Beliebige und Anekdotische abgleitet. Dies mag auch hier und da tatsächlich geschehen, bleibt aber mit Blick auf das Ganze unerheblich.
Resümierend muss man den Büchern sicherlich die Einmaligkeit des Projektes zugute halten. Jeder Leser, der nicht ganz unbeleckt in Geschichte und Kultur der Deutschen ist, wird in jedem Band schnell auf Punkte stoßen, an denen er nicht einverstanden ist mit Darstellung und Urteil des Autors, aber dem steht auf der anderen Seite die alles in allem gelungene Darstellung der deutschen Geschichte als interessanter und spannender Prozess gegenüber, dessen einzige wirkliche Konstante seine stetige und unberechenbare Veränderung ist. Rosendorfers »Deutsche Geschichte« macht Lust auf mehr Geschichte, auf die Lektüre der einen oder anderen Biografie oder auf eine tiefergehende Beschäftigung mit der einen Epoche oder dem anderen Aspekt. Als historisches Lesebuch scheint es mir konkurrenzlos gelungen zu sein. Es an der Anzahl seiner vermeintlichen Fehler oder Schwächen zu messen, erscheint kleinlich angesichts dessen, was hier gelungen ist.
Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Ein Versuch.
- I – Von den Anfängen bis zum Wormser Konkordat. Nymphenburger, 1998. Pappband, 253 Seiten. 18,90 €. Auch dtv 12817. 9,– €.
- II – Von der Stauferzeit bis zu König Wenzel dem Faulen. Nymphenburger, 2001. Pappband, 319 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13152. 9,50 €.
- III – Vom Morgendämmern der Neuzeit bis zu den Bauernkriegen. Nymphenburger, 2002. Pappband, 351 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13282. 9,50 €.
- IV – Der Dreißigjährige Krieg. Nymphenburger, 2004. Pappband, 191 Seiten. 19,90 €. Auch dtv 13484. 9,50 €.
- V – Das Jahrhundert des Prinzen Eugen. Nymphenburger, 2006. Pappband, 312 Seiten. 22,90 €.
Das Unheil, das in den Kulissen wartet
Spätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.
Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.
Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.
Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.
Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.
Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.
Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«
Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.
Wilhelm Raabe (1831–1910)
Wilhelm Raabe war einer der wichtigsten und berühmtesten deutschen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Theodor Fontane schrieb über ihn: »Hätte Raabe mehr Kritik, so wäre er absolut Nr. 1.« Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Arno Schmidt schätzten ihn, aber heute droht er, langsam vergessen zu werden.
Dabei war Wilhelm Raabe in seinen letzten Lebensjahren, in denen er wieder in Brauschweig lebte, ein berühmter Mann. Erst spät im 19. Jahrhundert hatte eine neue Generation von Lesern besonders Raabes frühe Romane und Erzählungen wiederentdeckt, und Raabe wurde eine berühmte Persönlichkeit. Es lag für Raabe selbst ein wenig Bitterkeit in diesem Ruhm, denn er selbst schätzte sein oft süßliches und harmloses Frühwerk nicht mehr besonders, hatte sich als Schriftsteller unter großer Anstrengung weiterentwickelt, und fühlte sich durch den späten Ruhm zugleich geschmeichelt und mißverstanden.
So ist es denn heute besonders sein Spätwerk, das Leser schätzen und in dem sie den »wahren« Raabe finden: »Stopfkuchen« (1891) und »Die Akten des Vogelsangs« (1896) gehören zu den großartigsten Büchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit »Pfisters Mühle« (1884) entstand der erste deutsche Roman, der die systematische Zerstörung der Umwelt durch die Industrialisierung ins Zentrum stellt, und in»Odfeld« (1888) schildert Raabe eine überwältigende Rabenschlacht.
Raabes Bücher sind voll hintergründigem Humor, er ist ein Meister der ironischen Anspielungen und er vermag es, ganz wundervolle Sätze zu schreiben:
Einer gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem halben Dutzend deutscher Männer hat immer Astronomie ein wenig gründlicher getrieben als die übrigen und weiß Auskunft zu gehen, Namen zu nennen und mit seinem Stabe zu deuten, wo die andern vorübergehend in der schauerlichen Pracht des Weltalls verlorengehen und kopfschüttelnd sagen: Es ist großartig.
Den Nachlass Raabes verwaltet heute die Raabe-Foschungsstelle an der Stadtbibliothek Braunschweig. Die Mehrung von Raabes Nachruhm und Koordination der Raabe-Forschung hat sich die Raabe-Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben.
Viele Texte Raabes sind als Taschenbuchausgaben bei Reclam in der gelben Universal-Bibliothek leicht und preiswert zu erreichen. Und bei dtv gibt es als Begleitlektüre eine empfehlenswerte Biographie von Werner Fuld.
Werner Fuld: Wilhelm Raabe
Wilhelm Raabe kann man heute zu den beinahe vergessenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts zählen. Zwar existiert noch eine umfassende Werkausgabe – die »Braunschweiger Ausgabe« –, und es sind noch erstaunlich zahlreiche Titel in Reclams Universal-Bibliothek lieferbar, aber einen Klassiker-Status hat Raabe nie wirklich erlangt. Vielleser schwärmen einander dann und wann von einem Titel aus dem Spätwerk vor – der »Stopfkuchen« und »Die Akten des Vogelsangs« nehmen hier eine hervorragende Stellung ein –, aber dennoch bleibt Raabe eine Randfigur. Dabei hat Thomas Mann noch viel von ihm gelernt – ohne die »Akten« wäre der »Doktor Faustus« wahrscheinlich ein ganz anderes Buch geworden – und Kurt Tucholsky soll die 18-bändige Raabe-Ausgabe bei Hermann Klemm in seinem Marschgepäck mit in den Großen Krieg geschleppt haben, der damals noch nicht Erster Weltkrieg hieß. Aber auch das scheint nicht wirklich geholfen zu haben.
Die Biographie von Werner Fuld steht, soweit ich sehe, allein auf weiter Flur. Sie ist jetzt 13 Jahre alt, und es scheint nicht so, als würde sie in Kürze Konkurrenz bekommen. Fuld Lebensbeschreibung ist sorgfältig und basiert auf einer gründlichen Quellenarbeit. Was die Faktenlage und die grundsätzliche Darstellung von Leben und Werk angeht, scheint sie mir tadellos zu sein. Der strenggläubige Germanist könnte kritisieren, dass Fuld etwas zu oft dazu neigt, Figurenäußerungen aus Büchern Raabes als Selbstaussagen des Autors zu lesen, da sich aber alles in allem ein geschlossenes Gesamtbild ergibt, könnte diese Kritik auch schlicht ins Leere laufen. Bei all dem muss ich allerdings betonen, dass ich selbst alles andere als ein Raabe-Kenner bin.
Spannend ist Fulds These, der junge Raabe habe unter einer latenten Schizophrenie gelitten, die er mit Hilfe seines Schreibens therapiert habe. Fulds Belege dafür sind dünn, und wenn er in der weiteren Lebensbeschreibung immer wieder den inneren Zwiespalt Raabes zwischen seiner bürgerlichen Existenz und seinen künstlerischen Ansprüchen mit der These von der Raabeschen Schizophrenie in Zusammenhang bringt, handelt es sich dabei wohl um eine ein wenig leichtfertige Vermischung von sozialen und pathologischen Kategorien. Aber diese These steht keineswegs im Zentrum von Fulds Raabe-Biographie und kann vom Leser getrost ruhen gelassen werden.
Ein lesenswertes Buch und eine solide Einführung in das schriftstellerische Werk Wilhelm Raabes.
Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Hanser Verlag, 1993. Leinen, fadengeheftet; 383 Seiten.
Lieferbare Ausgabe: dtv, 2006. ISBN: 3-423-34324-9. 15,00 €.
James Risen: State of War
Ein recht oberflächlich informierendes Buch, dem es hauptsächlich darum geht, sogenannte Sensationen über die Unfähigkeit der Regierung Bush und des CIA zu versammeln. Das Buch ist flüchtig und daher schlecht übersetzt, aber es hat sich im Laufe der Lektüre in mir der Eindruck verfestigt, dass es auch schon flüchtig und schlecht geschrieben wurde. Risen kann – aus verständlichen Gründen – seine Quellen nicht benennen und ist in vielen Details auf Einschätzungen von ungenannten Insidern angewiesen, deren Urteilsfähigkeit und Einsicht in die Sache man nicht einschätzen kann. So bleibt das allermeiste auf der Ebene des Hörensagens. Der durchweg journalistische Stil, der mehr Vorgängen als deren Analyse verpflichtet ist, tut ein Übriges.
Einige wenige Geschichten sind interessant, so etwa der Versuch der CIA sich über familiäre Kontaktpersonen Informationen über das Programm des Irak zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu verschaffen, was durchweg zu dem Ergebnis geführt hat, dass ein solches Programm bereits vor langer Zeit aufgegeben wurde und aufgrund der internationalen Boykott-Maßnahmen gegen den Irak auch nicht wieder würde aufgenommen werden können. Diese Informationslage wurde aber laut Risen der Regierung Bushs nie zur Kenntnis gebracht, da sich die CIA darüber im Klaren war, dass derartige Einschätzungen dort nicht erwünscht waren.
Empfehlenswert für diejenigen, die sich ihre antiamerikanischen Ressentiments bestätigen wollen; zur soliden Information kaum geeignet.
Risen, James: State of War. Deutsch von Norbert Juraschitz, Friedrich Pflüger und Heike Schlatterer.
Hoffmann und Campe, 2006. ISBN 3-455-09522-4
Gebunden – 180 Seiten – 19,95 Eur[D]
Herbert Rosendorfer: Mitteilungen aus dem poetischen Chaos
Acht kurze Erzählungen, die alle in Rom spielen und – mehr oder weniger – von Rom handeln. Stofflich sind sie von recht unterschiedlichem Gehalt: Von der gesellschaftlichen Anekdote, einer Kriminalerzählung mit kindlichem Detektiv, über zum absurden tendierenden Reflektionen zu Glanz und Elend der vatikanischen Welt und touristische Satirestücke bis hin zu einem Entwurf zu einem Lenbach-Roman, dessen fiktiven Autor der Erzähler bei einer Vernissage kennenlernt und dem Leben und Roman ebenso aus den Fugen geraten wie seinem noch fiktiveren Romanhelden Franz von Lenbach, spannt sich der Bogen. Zusammengehalten wird er durch einen Erzähler, dessen Liebe zu Rom sich in jedem Stück aufs Neue widerspiegelt und mit dem man selbst gern einmal das Frühstück im Caffè Greco einehmen würde.
Die Sammlung zeigt einmal mehr die routinierte Erzählweise Rosendorfers, der offenbar auch den zwischenzeitlichen Ruhm der »Briefe in die chinesische Vergangenheit« gut überstanden hat und weiterhin mit schöner Regelmäßigkeit seine Bücher produziert, um von der breiteren Öffentlichkeit weitgehend ignoriert zu werden. Sein »Kirchenführer Rom« ist derzeit allerdings schon in der dritten Auflage, was zumindest eine gewisse Popularität beweist, wenn man ihm auch bislang nicht die fragwürdige Ehre Gesammelter Werke hat angedeihen lassen – zum Ausgleich dafür wird er aber wahrscheinlich tatsächlich gelesen –, und vielleicht schreibt er ja, wenn er mit seiner »Deutschen Geschichte« fertig ist, eine Fortsetzung des Gregorovius, etwa vom Barock bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Zuzutrauen wäre es diesem erstaunlichen Stilisten allemal.
Die hier angezeigte Taschenbuchausgabe von 1993 (bibliographischer Nachweis) scheint nicht mehr lieferbar zu sein. Dafür ist es aber immer noch die zwei Jahre ältere Originalausgabe:
Rosendorfer, Herbert: Mitteilungen aus dem poetischen Chaos. Römische Geschichten
Kiepenheuer & Witsch, 1991. ISBN 3-462-02098-6
Gebunden – 156 Seiten – 14,90 Eur[D]