Friedhelm Rathjen: Joyce

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Es gibt einige Autoren, bei denen es sinnvoll ist, sich einer Art von Reiseführer zu bedienen, um ihr Werk zu erkunden; Joyce gehört sicherlich zu ihnen. Joyce hatte von Anfang an und je länger je mehr eine besondere Auffassung von der Funktion poetischer Sprache, ein Bewusstsein dafür, dass Sprache in gewisser Weise unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt und die Verwendung eines bestimmtem Stils – sei er etwa romantisch, idealistisch oder realistisch – einen ebenso bestimmten Blick auf die Welt zu erzeugen vermag. Er selbst fand in sich eine Souveränität in der Verfügung über diese Stile und Stilebenen vor, ein Verfügen über die Sprache und Sprachen, und so schrieb er sein vermutlich wichtigstes Buch Ulysses von diesem Standpunkt der sprachlichen Vielfalt aus: Der Inhalt des Buches hatte sich der Sprache des bzw. den Sprachen der Erzähler anzupassen, nicht umgekehrt, und das große Kunststück war es, dennoch einen Roman daraus entstehen zu lassen.

Da die meisten Leser von diesem Verfahren wenig ahnen, wenn sie beginnen, den Ulysses zu lesen, scheitern die meisten; sehr oft im dritten Kapitel, in dem Stephen Dedalus am Strand spazieren geht und über die unumgehbare Visualität der Welt philosophiert – ihm ist am Tag zuvor seine Brille zerbrochen, aber das erführe der Leser erst viel, viel später im Buch, wenn er denn nicht hier und jetzt aufgeben würde –, und der unbedarfte Leser weder begreift, was er da liest (was auch gar nicht so wichtig ist; wichtig ist viel mehr, Stephen als einen studierten Philosophen vorzuführen, der auf konkrete Probleme mit sehr abstrakten Gedanken zu reagieren neigt) geschweige denn, warum er das lesen soll.

Nun ist Joyce keiner jener freundlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die ihre Leser an der Hand nehmen und durch den Roman führen, sie auf dies aufmerksam machen, ihnen jenes erklären, ihnen bei einem Dritten nahelegen, es sich gut zu merken, denn er werde es später noch einmal gebrauchen können. Bei Joyce stürzt der Roman auf uns ein wie eine neue Welt, vieles kommt gleichzeitig und das meiste fügt sich erst sehr viel später zu einem sinnvollen Gebilde. Und aus all diesen Gründen ist es nützlich, sich vor der Lektüre der Joyceschen Werke zuerst einmal eine kurze Einführung einzuführen.

Eine dieser Einführungen hat der Joyce-Kenner und -Übersetzer Friedhelm Rathjen nun erneut im eigenen Verlag aufgelegt. Das Buch ist eine Überarbeitung der im Jahr 2004 bei Rowohlt erscheinen Bild-Monographie mit dem Vorteil, dass die Neuausgabe die Lebensbeschreibung und die Einführung ins Werk entzerrt und sie auf diese Weise leichter einer gezielten Lektüre dienen kann. Nach einer für den Einstieg vollständig ausreichenden Biographie, die zugleich auch die Entwicklung der Joyceschen Ästhetik nachzeichnet, folgen Kapitel zu einzelnen Werken, wobei auch eher unbekannten wie dem frühen Gedichtband Kammermusik oder auch dem Text Giacomo Joyce eigene Abschnitte gewidmet sind. Dabei ist allen Werkbesprechungen zu eigen, dass sie nur behutsame Hinweise geben, ohne einer selbstständigen Lektüre im Weg zu stehen.

Allen, die einen ersten Überblick über Joyce gewinnen wollen, bevor sie sich in das Abenteuer der Lektüre dieses Weltautors stürzen, sei der Band anempfohlen.

Friedhelm Rathjen: Joyce. Einführung in Leben und Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2023. Bedruckte Broschur, 152 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik

Im Jahr 2014 erschien zum 100. Geburtstag Arno Schmidts im Bargfelder Boten eine erste Fassung von Friedhelm Rathjens Arno-Schmidt-Chronik, die soeben in erweiterter und korrigierter Neuauflage in Rathjens eigenem Verlag, der Edition Rejoyce, wieder aufgelegt worden ist. Zumindest bis zum Erscheinen der Arno-Schmidt-Biographie von Sven Hanuschek, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus ist dies die zuverlässigste kompakte Quelle für Informationen zum Leben Arno Schmidts. Die Neufassung ist ergänzt um vier Register (Werke Schmidts, Orte, Personen sowie Verlage, Medien, Nachschlagewerke), die es möglich machen, auch thematische Querbezüge herzustellen.

Rathjen verweist im Vorwort darauf, dass Schmidts Werk starke dynamische Veränderungen durch diverse Einflussfaktoren aufweist; Schmidts Lebensumstände waren selbstverständlich einer davon. Von daher liefert eine solche Chronologie eines der Gerüste, an denen entlang die Entwicklung von Schmidts Werk verständlich wird.

Aber das Buch kann nicht nur als Datenquelle benutzt werden, es ist durchaus auch von Anfang bis Ende als dichter biographischer Essay lesbar. Sicherlich werden sich dabei Leser, die Schmidts Werk schon ein wenig kennen, leichter tun als jene, die erst einen Zugang zu Schmidts literarischer Welt suchen.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik. Daten zu Leben & Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2021. Bedruckter Pappband, 186 Seiten. 30,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen!

Rathjen-Arno-Schmidt-lesenArno Schmidt ist für viele Leser wohl weniger ein deutscher Autor des 20. Jahrhunderts als vielmehr ein Schreckgespenst von Schwierigkeit und Unzugänglichkeit. Die Gerüchte, die über ihn umgehen, sind zwar nicht vollständig unbegründet, aber sie zeichnen doch ein sehr übertriebenes Bild dieses Autors und seines Werks. Ich zitiere nicht gern Günter Grass, aber wenn er in seiner Laudatio auf Arno Schmidt von 1964 feststellte, man könne „ihn in der Küche schmökern wie Gullivers Reisen“, so trifft das eine wichtige Eigenschaft der Bücher Schmidts: Schmidt zu lesen macht Spaß.

Natürlich ist es so, dass es Aspekte seiner Bücher gibt, die sich erst einer sehr gründlichen und wahrscheinlich wiederholten Lektüre eröffnen. Auch kann es sein, dass sich eher bequeme oder wenig flexible Leser vom äußeren Erscheinungsbild der Texte abgestoßen fühlen. Doch all das kann man erst einmal getrost beiseite lassen: Weder muss man Schmidts Texte auf Anhieb vollständig verstehen (es gibt Seiten im Werk, von denen ich vermute, dass sie bis heute noch niemand auf der Welt wirklich verstanden hat), noch muss man begreifen, warum der Autor Wert darauf gelegt hat, seine Texte in einer etwas seltsamen äußeren Erscheinungsform drucken zu lassen. Zu allererst kann und soll man Arno Schmidt einfach nur lesen.

In den meisten Fällen stößt der Leser dann auf eine recht konventionelle Liebesgeschichte, die in einer merkwürdigen Mischung aus innerlicher Zart- und äußerlicher Grobheit erzählt wird. Besonders in seinen frühen Veröffentlichungen liefert Schmidt zugleich ein sehr reiches Zeitbild, das von den 30er bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts reicht. Hier und da entdeckt man vielleicht auch einen Zukunftsroman (Schmidt schrieb eher Utopien, weniger Science Fiction), der Schmidts ganz eigene und immer originelle Sicht auf seine Lebenswelt widerspiegelt. Immer aber wird man einen Autor von ungewöhnlichem Humor finden. Ob man sich schließlich an das Spätwerk Schmidts machen wird, hängt sicherlich von ganz vielen Umständen ab, auch davon, wieviel Zeit man bereit ist, in diesen durch und durch originären Autor zu investieren.

Wer aber meint, nach einer ersten Bekanntschaft mit Arno Schmidts Büchern doch von dem einen oder anderen Hinweis eines Kenners profitieren zu können, hat derzeit nicht so sehr viele Möglichkeiten, sich über den Autor allgemein und gut lesbar zu informieren. Meine eigene Einführung in das erzählerische Werk ist inzwischen mehr als 10 Jahre alt und nicht mehr im Druck, die Rowohlt-Biographie von Wolfgang Martynkewicz ist auch seit langem vergriffen und wird bis auf weiteres wohl nicht ersetzt werden, und andere aktuelle biographische Veröffentlichungen – wie etwa Joachim Kerstens „Arno Schmidt in Hamburg“ – konzentrieren sich nur auf Teilaspekte der Biographie.

Nun legt mit Friedhelm Rathjen einer der besten Arno-Schmidt-Kenner einen ebenso kurzen wie umfassenden „Wegweiser“ zu Arno Schmidt vor. Der knapp 170 Seiten umfassende Band enthält eine Darstellung des kompletten Werks Arno Schmidts einschließlich der Nachlass-Veröffentlichungen; sogar die bis dato veröffentlichten Bände der Briefwechsel werden besprochen. Grundlage des Bandes sind zum einen lexikalische Einträge, die für den Reclam Verlag verfasst wurden, zum zweiten überarbeitete und erweiterte Zeitungsrezensionen und zum letzten Artikel, die eigens für diesen Band verfasst wurden. Zahlreiche der kurzen Artikel sind ergänzt um ein ausführliches Verzeichnis von Sekundärliteratur, wobei sich auch hier Rathjens Kennerschaft zeigt: Es handelt sich durchaus nicht um eine unkritische Ansammlung der existierenden Forschung, sondern um eine mit Bedacht vorgenommene kritische Auswahl.

Und so ist Rathejns Buch für jeden Leser Arno Schmidts geeignet: Schmidt-Einsteiger finden anhand der knappen und präzisen Artikel rasch Orientierung zu Einzeltexten oder dem Gesamtwerk; wer sich schon „am Haken“ findet, kann sich einen umfassenden Überblick verschaffen; der Kenner schließlich findet konzise und zuverlässige Bibliographien, die das Auf- und Wiederfinden bestimmter Sekundärtexte ermöglichen bzw. erleichtern.

Für jeden an Schmidt Interessierten rundum zu empfehlen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2014. Bedruckte Broschur, 168 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979

BB-375-377Nachdem nun wohl die seit vielen Jahren angekündigte Biographie Arno Schmidts aus der Feder von Bernd Rauschenbach auf unbestimmte Zeit vertagt worden ist, liefert Friedhelm Rathjen, der Herausgeber des Zentralorgans der Arno-Schmidt-Forschung, des Bargfelder Botens, in einer Dreifach-Nummer eine 90 Seiten starke „Chronik von Leben und Werk“ des berühmten Bargfelder Autors. Es handelt sich, soweit ich sehe, um die bislang umfassendste Sammlung von Daten zu Leben und Werk Schmidts, wobei Rathjen bis auf die unumgängliche Fundierung interpretierende Zugriffe weitgehend vermeidet. Da die kurze Rowohlt-Bildmonographie von Wolfgang Martynkewicz (1992) inzwischen nicht mehr im Druck ist, wird Rathjens Chronik wohl für längere Zeit die einzige Grundlage für eine biographische Annäherungen an Schmidt sein.

En passant beerdigt Rathjen durch Nichterwähnung den von Schmidt selbst in die Nachkriegswelt gesetzten Mythos seines Studiums (wahlweise der Mathematik und/oder der Astronomie), den Schmidt einerseits dazu benutzte, seine autodidaktisch erworbene Kompetenz in ein bürgerlicheres Licht zu setzen, andererseits benötigte, um eine biographische Lücke zu füllen, die entstanden war, als er sich in englischer Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter machte, wahrscheinlich um dem Einsatz als Zwangsarbeiter zu entgehen. Zudem verwendete Schmidt diesen Mythos dazu, sich zu einem Opfer des Nationalsozialismus zu stilisieren:

Da seine Schwester einen jüdischen Kaufmann geheiratet hatte, brach er 33 – ganz bewußt, um vor pseudoheroischen Komplikationen in selbstgewählte Unscheinbarkeit auszuweichen – sein Studium ab. [BA, Suppl. 1, S. 329]

Diese Fiktion hält er auch 1957, als eine Korrektur des Geburtsjahres in seinen Papieren längst erfolgt ist, weiterhin aufrecht:

Versuch des Mathematikstudiums vereitelt durch Zusammenstoß mit Hitlerei. [BA, Suppl. 1, S. 336]

Offenbar hat sich Schmidt keine ausreichenden Gedanken darüber gemacht, was die Aneignung einer solchen Opferrolle bedeutet. Dieser dunkle Teil der autobiographischen Selbststilisierung Schmidts bleibt bei Rathjen leider unerwähnt. Zudem ordnet Rathjen die Postkarte Schmidts vom 25.11.1933 an seinen Freund Heinz Jerofsky, auf der er behauptet, er habe sich zur SS melden wollen und an einem entsprechenden Schulungsabend teilgenommen, ausdrücklich als Scherz ein. Dies ist wohl nicht die einzige Einschätzung, die sich anbietet. Womit nicht gemeint ist, Schmidt sei zu irgendeinem Zeitpunkt ein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen, doch hätte ihn 1933 sein naives, weitgehend apolitisches oder auch antipolitisches Weltbild, wie es uns aus den Frühschriften entgegentritt, wohl kaum vor einem solch fatalen Schritt nach dem Motto „wenn schon Militär, dann wenigstens Elite“ bewahrt. Es steht zu befürchten, dass diese und ähnliche Fragen noch lange, wenn nicht für immer ein Desiderat bleiben werden.

Ansonsten trägt Rathjens Chronik nicht nur lückenlos die bereits bekannten Daten zusammenzutragen, sondern hier und da blitzen einzelne Neuigkeiten und zumindest von mir so noch nicht realisierte Zusammenhänge auf. Für alle enthusiastischen Schmidt-Leser ein Muss, für alle Interessierten die derzeit umfangreichste Grundlage für einen biographischen Überblick. Bleibt zu hoffen, dass sich in absehbarer Zeit doch einmal eine oder einer der undankbaren Aufgabe unterzieht, eine umfangreiche, geschlossene Biographie Arno Schmidts vorzulegen.

Friedhelm Rathjen: Arno Schmidt 1914–1979. Chronik von Leben und Werk. Bargfelder Bote Lfg. 375–377. München: edition text und kritik, 2014. Broschur, 97 Seiten. Bei Einzelbezug: 15,– €.

Friedhelm Rathjen: Rejoyce!

Rathjen-RejoyceSamuel Beckett soll auf die Frage, wie es komme, dass das kleine Irland eine so beeindruckende Zahl guter Schriftsteller hervorgebracht habe und hervorbringe, geantwortet haben:

Wenn man im hinterletzten Graben liegt, was bleibt einem da anderes übrig, als zu singen.1

Friedhelm Rathjen, der zuletzt auf der Buchmesse den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzung verliehen bekommen hat, arbeitet nicht nur als Sprachferge, sondern ist auch Rezensent, Literaturwissenschaftler (Fachmann unter anderem für James Joyce, Samuel Beckett und Arno Schmidt) und belletristischer Autor. Er hat zudem bereits vor zehn Jahren den wahrscheinlich weisen Beschluss gefasst, sich zumindest für die Veröffentlichung seiner eigenen Bücher aus der Abhängigkeit von anderen Verleger zu lösen und sich als Autor nunmehr selbst auszubeuten. Entstanden ist damals die Ǝdition RejoycE, in der Anfang 2004 als erster Band „Rejoyce!“ erschienen ist, ein „kleiner Leitfaden durch die irische Literatur“. Zur Feier des 10-jährigen Bestehens des Verlages ist nun eine stark erweiterte Neuauflage des Bandes erschienen, der jetzt 108 Bücher von 48 irischen Autoren der letzten 120 Jahre bespricht.

Die Spannbreite der Rezensionen reicht von der klassischen Föjetong-Kritik über das Übersetzungs-Bashing (so habe ich mit großem Genuss Rathjens Demontage von Dieter H. Stündels sogenannter „Finnegans Wake“-Übersetzung wiedergelesen) bis zu Autoren-Porträts, in denen Rathjen einzelne Autoren konsequent von Buch zu Buch begleitet. Wer nicht selbst ein guter Kenner der irischen Literatur ist, findet hier nicht nur eine irische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts en détail, sondern auch eine reiche Fundgrube kompetenter Lektüre-Hinweise. Ein Kompendium fürs Leseleben!

Friedhelm Rathjen: Rejoyce! Kleiner Leitfaden durch die irische Literatur. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2013. Bedruckter Pappband, 305 Seiten. 40,– €. Bestellungen per E-Mail direkt an den Verlag.

1. Deirdre Bair: Samuel Beckett. rororo 12850. Reinbek: Rowohlt, 1994. S. 622.