In einer beispiellosen autobiographisch-erzählerisch-essayistischen Mischform, einer Art Ruinenbaumeisterei, stößt er zu einer neuen, multiperspektivischen Form von Literatur vor und entkommt mit ihr selbst dem Scheitern, indem er es akzeptiert.
Die Auseinandersetzung mit Friedrich Dürrenmatts Werk ist heute alles andere als simpel. Sie scheint gespannt zu sein zwischen zwei Polen: Einerseits ist ein Teil seines Werks offenbar obsolet geworden: »Die Physiker« etwa hat sich thematisch überlebt und ist dramaturgisch zu geradlinig, um außerhalb der Schullektüre noch Spannung zu erzeugen. Das Thema der christlichen Stücke – »Die Wiedertäufer«, »Der Blinde« oder »Ein Engel kommt nach Babylon« – ist zumindest in Europa sehr an den Rand der öffentlichen Diskussion geraten. Anderseits erscheint ein anderer, größerer Teil des Werks vielen Lesern nicht zu Unrecht esoterisch, philosophisch und schwer zugänglich. Einzig die Kriminalromane dürften sich noch einiger, ungebrochener Beliebtheit erfreuen. Dementsprechend dünn fällt die essayistische und germanistische Beschäftigung mit Dürrenmatt aus.
Vor diesem Hintergrund muss Peter Rüedis Buch über Dürrenmatt gelesen werden, das vom Verlag wohl aus Hilflosigkeit mit dem phantasielosen Etikett Biographie gekennzeichnet worden ist, die damit verbundenen Erwartungen aber nur unvollkommen erfüllt. Sicherlich handelt es sich auch um eine – unvollständig bleibende – Biographie, vielmehr ist es aber ein weit ausholender Essay über Dürrenmatts Werk, der in der bisherigen Literatur über den Autor, wenigstens soweit ich sehe, völlig einzig dasteht. Für Rüedis Lektüre der Werke sind zwei Aspekte zentral: Er analysiert das Werk in weiten Teilen als das eines Christen, der sich Zeit seines Lebens mit dem Glauben seines Vaters auseinandergesetzt hat, und er liest Dürrenmatt wesentlich von der Selbstreflexion der späten »Stoffe« her. Während der erste Aspekt in der Literatur zu Dürrenmatt traditionell breit vertreten ist, scheint der zweite, besonders so, wie er bei Rüedi erscheint, die Möglichkeit einer grundsätzlichen Neuentdeckung und -bewertung Dürrenmatts zu eröffnen. Wenn Dürrenmatt als deutschsprachiger Autor überhaupt eine Zukunft – im Sinne eines Klassiker des 20. Jahrhunderts – hat, so wird sie hier begründet. In diesem Sinn ist Rüedis Buch wahrscheinlich der wichtigste Text der überhaupt bislang über Dürrenmatt geschrieben wurde.
Trotz dieser im Gesamturteil überwiegenden positiven Einschätzung sollen die schwerwiegenden Schwächen des Textes nicht unterschlagen werden: Das Buch macht einen durch und durch unfertigen Eindruck. Rüedi scheint nicht die Kraft oder Übersicht gehabt zu haben, die mehr als 730 Textseiten zu irgendeiner Form von Abrundung oder zu einem Abschluss zu bringen. Der biographische Anteil bleibt wesentlich in den 50er Jahren stecken; zwar werden auch die späteren Jahre erwähnt, aber ihre Behandlung bleibt im Gegensatz zu den ersten gut fünfzehn Nachkriegsjahren flüchtig und oberflächlich, fast als handele es sich um den ersten Teil einer deutlich umfangreicher konzipierten Biographie, die dann unter dem Druck der Ökonomie oder auch der Zeit gewaltsam zu einem Ende gebracht wurde.
Auch beim essayistischen Gehalt bleiben wesentliche Desiderate: Bestimmte Stücke werden gar nicht oder nur marginal behandelt, so etwa »Frank der Fünfte«, zu dem nur das Schlagwort Shakespeare fällt, oder das wichtige, späte »Achterloo«, mit dem Dürrenmatt entgegen seinen Plänen doch noch einmal zur Bühne zurückkehrt und die Irrenhaus-Metapher, die sich durch das gesamte Werk zieht, einmal mehr durchspielt. Was die Dramaturgie angeht, ist es schade, dass »Das Sterben der Pythia« offenbar unterschätzt wird. In diesem einen Stück hätte Rüedi viele wichtige Themen, Motive und Vorbilder der Dürrenmattschen Dramaturgie beieinander gehabt: Shakespeare, Wedekind und Brecht, die Gegenbildlichkeit von Tragödie und Komödie, die Dramaturgien vom Stoff und von der Idee her, sie alle lassen sich an diesem kurzen Stück Prosa exemplarisch vorführen und analysieren.
Was vollständig fehlt, ist ein literarhistorischer Horizont: Zwar gibt es Auseinandersetzungen mit Frisch – dessen schwieriges Verhältnis mit Dürrenmatt Rüedi bereits an anderer Stelle ausführlich gewürdigt hat – und Brecht, aber es findet sich auch nicht der kleinste Ansatz, Dürrenmatt in den Kanon der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Nirgends wird zum Beispiel »Der Tunnels« mit den Romanen des französischen Existenzialismus in Beziehung gesetzt, obwohl hier wie dort die Wirkung Kierkegaards und Nietzsches mit Händen zu greifen ist. Nirgends werden Dürrenmatts Stücke in der Geschichte des deutschen oder gar des europäischen Dramas (Sartre, Ionesco, Beckett) verortet. Auch die sehr spezifische Sprache der Bühnenfiguren Dürrenmatts, ihr verknapptes,karges, emotionales und zugleich distanziertes Sprechen wird nur an einer Stelle kurz erwähnt, der Versuch einer Analyse unterbleibt aber. Das alles mag vielleicht verzeihlich erscheinen, da Rüedi offensichtlich ohnehin zu viel für die ihm zur Verfügung stehenden Seiten zu sagen hatte, ein Mangel bleibt es dennoch.
Doch auch entgegen allen Einwänden ist zu betonen, dass dies wahrscheinlich das Wichtigste Buch über Dürrenmatt ist, das bislang erschienen ist, und es steht zu befürchten, dass dies auch lange so bleiben wird. Ein Muss für jeden, der sich ernsthaft mit der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt.
Peter Rüedi: Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen. Zürich: Diogenes, 2011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 960 Seiten. 28,90 €.