Raoul Schrott: Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit

Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Immanuel Kant

Cover

Die Veröffentlichungen Raoul Schrotts begleite ich seit dem Erscheinen von „Finis Terrae“ vor knapp 30 Jahren. Von daher ist es eher verwunderlich, dass er hier bislang nur einmal als Übersetzer aufgetaucht ist. Nun aber ist ein Buch von ihm erschienen, an dem der Nachtwächter nicht vorübergehen kann:

Jeder an Astronomie interessierte Mensch hat sicherlich schon einmal den Gedanken gehabt, dass man das eigene willkürliche System der Sternbilder, das man notwendig erlernt, um sich wenigstens grob am Himmel orientieren zu können – einige wenige Sternbilder über den Tierkreis hinaus kennt wahrscheinlich jeder, wenn er sie auch nicht immer gleich am Himmel auffinden kann –, zumindest einmal mit dem einer anderen Kultur vergleichen sollte, nicht nur um die Willkür konkret werden zu lassen, sondern einfach auch, um den Reichtum an Gestalten kennenzulernen, den verschiedene Kulturen in den objektiv gestaltlosen Himmel hineinerfunden haben.

Einer gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem halben Dutzend deutscher Männer hat immer Astronomie ein wenig gründlicher getrieben als die übrigen und weiß Auskunft zu gehen, Namen zu nennen und mit seinem Stabe zu deuten, wo die andern vorübergehend in der schauerlichen Pracht des Weltalls verlorengehen und kopfschüttelnd sagen: Es ist großartig.

Wilhelm Raabe

Aber natürlich bedeutet es einen ungeheuerlichen Aufwand, sich auch nur annähernd einen Überblick darüber zu verschaffen, wie der Himmel in anderen Kulturen aufgeteilt und Verstand und Gedächtnis zugänglich gemacht worden ist. Raoul Schrott hat diesen Aufwand nun gleich mehrfach auf sich genommen: Sein „Atlas der Sternenhimmel“ präsentiert 17 astronomische Systeme im Zusammenhang mit den Schöpfungs- und weiteren Mythen, aus denen sich die himmlischen Gestalten speisen. Zusammengekommen sind beinahe 1.300 großformatige Seiten (25 × 30 cm), die jeweils ungefähr 4 Normalseiten an Text enthalten dürften. Ein unauslesbares mythologisches Kompendium, ein Buch, das man nun wirklich auf die berühmte einsame Insel mitnehmen könnte. Ergänzt wird der Band mit acht großformatigen Himmelskarten, die auf Vorder- und Rückseite jeweils eine der astronomischen Nomenklaturen im Zusammenhang darstellen.

Wer sich einen Eindruck von diesem Atlas verschaffen will, ohne ihn gleich kaufen zu müssen, kann auf der Sonderseite des Hanser Verlages eine ausführliche Leseprobe anschauen. Für alle, die auch nur eine Winzigkeit der von Kant heraufbeschworenen Bewunderung und Ehrfurcht empfinden, eine unbedingte Empfehlung: Ein Buch für den Rest des Lebens! Ganz und gar großartig!

Raoul Schrott: Atlas der Sternenhimmel und Schöpfungsmythen der Menschheit. Mit Sternbildern von Heidi Sorg. München: Hanser, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1278 Seiten (25 × 30 cm). Bis zum 31.01.2025 148,– €, danach 178,– €.

Bram Stoker: Das Geheimnis der See

Augen, die in der Lage sind, die Oberfläche der Dinge zu durchdringen, können vielleicht auch sehen, was dahinter vorgeht.

Abbildung Schuber

Bram Stoker ist als Schriftsteller das, was in der Musikbrache ein „One Hit Wonder“ genannt wird. Wie es um seinen Rang als Schriftsteller bestellt ist, zeigt, dass mehr als eine Biographie über ihn gleich in der Titelei auf seinen Roman „Dracula“ hinweist, damit der Käufer den Namen auch sicher einordnen kann. Und es kann ganz eindeutig festgestellt werden, dass Stoker heute, wie so viele Unterhaltungsschriftsteller seiner Generation, komplett vergessen wäre, wenn er nicht in diesem einen Buch zufällig auf einen Archetyp des kindlichen Gruselns gestoßen wäre.

Nun hat sich der mare Verlag, der auf Bücher über das Meer ein wenig spezialisiert ist, entschlossen, Stokers „Das Geheimnis der See“ von 1902 herauszugeben; ich vermute fast, dass es sich um die Erstübersetzung des Romans handelt – und so ist er denn auch. Das Buch stellt nach dem Motto des Goetheschen Theaterdirektors „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ eine Melange aus allen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert populären Formen der Unterhaltungsliteratur dar: ein wenig Schauerroman mit Geistern und 2. Gesicht, ein wenig Liebesroman mit einer reichen amerikanischen Erbin, ein wenig historischer Roman um die Spanische Armada (die reiche Erbin heißt auch noch absichtlich Drake mit Nachnamen), ein wenig politischer Roman um den Spanisch-Amerikanischen Krieg, ein wenig Verschwörungsroman, in dem die Spanier versuchen, Miss Drake umzubringen, die sich mit ihrem Geld in den Krieg eingemischt hat, ein wenig Schatzsuche nach einem verlorenen spanisch-katholischen Schatz, der von einem Spanier in Schottland versteckt worden ist, ein wenig Detektiv-Roman, in dem ein äußerst schwieriger Code geknackt werden muss, um den Ort des Schatzes herausfinden zu können (zum Glück oder Unglück geht das offenbar nicht mit dem schon erwähnten 2. Gesicht!), ein wenig Abenteuer-Roman, denn der Schatz kann natürlich nur unter den größten Gefahren für die beiden Liebenden gehoben werden.

Nun könnte sowas eventuell gelingen, wenn es ein souveräner Schriftsteller mit der nötigen Ironie versuchen würde, aber leider ist Bram Stoker genau das nicht. Alle Details des Romans tauchen genau an der Stelle auf, an der sie gebraucht werden; nicht einmal seine aus äußerster Not zu rettende Herzensdame darf der Ich-Erzähler wenigstens 20 Seiten vor der Rettung etwa aus einer Kutsche steigen sehen. Und dass sich der Erzähler als Kind mit Kryptographie die Zeit vertrieben hat, erfahren wir keine einzige Zeile früher, als er mit seiner Meisterleistung des Codeknackens beginnt, die selbst dann völlig im Allgemeinen bleibt – so kann jeder Protagonist ein Sherlock Holmes sein. Auch die Dialoge werden über Seiten hin ohne jegliche Voraussicht vor sich hin erfunden und sind entsprechend belanglos. Da wundert es dann auch nicht (wenigstens mich nicht), dass Stoker zu faul war, in den Kalender von 1897 zu schauen und deshalb in der Nacht zum 1. August einen Vollmond scheinen lässt. Kurz: Das Ding ist eine flüchtig hingesudelte Scharteke, wie es sie zu jeder Zeit gegeben hat, und wäre besser vergessen geblieben.

Einzig zu loben ist die Ausstattung des Bandes: Der bedruckte Leinenband mit Fadenheftung nimmt die Gestaltung der englischen Erstausgabe auf und liegt gut in der Hand. Wenn nur der Rest danach wäre!

Bram Stoker: Das Geheimnis der See. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Hamburg: Mare, 2024. Bedruckter Leinenband im Schuber, Fadenheftung, Lesebändchen, 539 Seiten. 48,– €.

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler

Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.

Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassische Griechenland

Als ich 2015 und 2016 die ersten fünf Bände der C. H. Beckschen „Geschichte der Antike“ gelesen und hier besprochen habe, war der sechste Band gerade noch nicht erschienen. Er wurde dann zwar nachgekauft, gelesen habe ich ihn aber erst jetzt, als eher überraschend noch ein siebter Band „Byzanz“ erschienen ist, der in Kürze ebenfalls hier vorgestellt werden wird. Schmidt-Hofners Band schließt die Lücke zwischen „Das archaische Griechenland“ und dem Anschlussband zur römischen Geschichte „Der Hellenismus“. Zwar liefert das Schlagwort vom klassischen Griechenland den Titel des Buches, allerdings spielt ein Konzept von Klassik bei der Darstellung keine Rolle; nur der Epilog geht auf wenigen Seiten relativierend auf dieses Klischee ein, das die allgemeine Wahrnehmung der Hochzeit der griechischen Antike immer noch weitgehend bestimmen dürfte.

Entscheidend sind für Schmidt-Hofners Auffassung dieser Zeit die beiden im Untertitel genannten Begriffe von Krieg und Freiheit. Seine Erzählung umfasst die Zeit von den sogenannten Perserkriegen über die zahlreichen innergriechischen Verwerfungen und Auseinandersetzungen bis hin zum Aufstieg Makedoniens als Führungsmacht und dem Übergang zum nächsten Perserkrieg unter Alexander III. Dabei nehmen die Schilderungen der Konflikte einen breiten Raum ein, wobei Schmidt-Hofner nicht nur stets klar macht, aus welchen Quellen er schöpft, sondern auch immer eine kritisch reflektierenden Abstand zu diesen Quellen und ihren tradierten Interpretationen einnimmt. Daraus ergibt sich notwendig, dass die griechische Lebenswelt und Kultur im engeren Sinne etwas zu kurz kommen – auf Skulptur und Malerei etwa geht das Buch nur ganz am Ende ein, um klar zu machen, dass dem Autor dieses Manko durchaus bewusst ist –, wobei allerdings Schwerpunkte gesetzt werden, die deutlich machen, dass hier noch ein weiter Hallraum zu entdecken wäre. Es sollte aber betont werden, dass sich Schmidt-Hofner in Sprache und Dichte der Darstellung deutlich an ein akademisches Publikum wendet; für den interessierten Laien ohne Vorkenntnisse dürfte der Band eine eher anspruchsvolle Lektüre bilden.

In einzelnen Details ist man als halber Fachmann immer anderer Meinung, aber alles in allem ist die Aufgabe, die hochkomplexe Zeit des 5. und 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung kompakt auf 350 Seiten zu portraitieren, exzellent gelöst. Der Band reiht sich so ungebrochen in diese überaus empfehlenswerte Reihe ein.

Sebastian Schmidt-Hofner: Das klassischen Griechenland. Der Krieg und die Freiheit. C. H. Beck Paperback 6152. München: Beck, 2016. Klappenbroschur, 368 Seiten. 16,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (152)

Er sprach mit uns auch von seinen Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten von Männern und Frauen erzählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen seien, und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt haben. Er sagte, daß in anderen das enthalten sei, was die Menschen in vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde, sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische Dinge hegen.

Adalbert Stifter
Der Nachsommer

Adalbert Stifter: Der Nachsommer

Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.

Friedrich Hebbel

Von Stifter kannte ich bislang nur einige Erzählungen, die zwar etwas konstruiert, aber sonst ganz angängig zu sein schienen. Seine beiden Romane hatte ich – unter dem Vorurteil der Verrisse Arno Schmidts stehend – gemieden. Doch Ende des letzten Jahres war ich im Bücherschrank durch Zufall in die Nähe der kleinen Werkausgabe geraten und hatte, aufgrund des schlechten Gewissens wegen meines schlecht begründeten Vorbehalts, den Band mit Der Nachsommer herausgezogen und auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe mich nun durch den ersten Band hindurchgequält und dann die Lektüre aufgegeben. Kurz gesagt: Es ist fürchterlich!

STIFTER’s ›Nachsommer‹ liest sich, zumal im Dialog der ›Gestalten‹, so steiff, als sei das Buch von einem schlechten Übersetzer, um 1850, nach einem nicht guten Original übertragen: Deine Tochter, mein Freund, hat eine schöne Stirn. (Tja, man müßte ihn tatsächlich übersetzen. Stell’n Sie sich ma vor: ›STIFTER, ›Nachsommer‹, Deutsch von Arno Schmidt‹ – capitaler Einfall; ich lach’ jetz schon!)

Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. BA IV/4, S. 49

Das Ding will einen Entwicklungsroman nach Goethescher Manier vorstellen und übersteigert dabei die abstrakte Prosa des Weimarer Meisters aufs Äußerste. Beinahe alles bleibt im Allgemeinen stecken (ich gebe zu: Hier und da werden einige Blumen und Bäume konkret benannt):

Mein alter Gastfreund saß in einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige, was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die Grunderscheinung oder das Gesetz dar.

S. 190

Wenigstens an einem einzigen konkreten Beispiel wünschte man sich diese Unterrichtsmethode vorgeführt, aber nichts dergleichen ist zu erwarten.

Der Erzähler ergeht sich in zeilenschindenden Wiederholungen, als rede er zu einer Versammlung von Deppen:

Wir stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei, und daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: »Das ist die Wiese, die ich Euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. […]«

S. 121

Und dann der gesellige Umgang der Figuren miteinander:

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

S. 215

Mit Inhalten oder gar verschiedenen Meinungen zu einer konkreten Sache werden wir nicht behelligt; überhaupt sind in den meisten Fällen alle Pappkameraden des Romans einer einzigen, ganz und gar vernünftigen Meinung. Dass es eine andere bei anderen geben könne, ist ihnen wohl als Möglichkeit bewusst, aber solcher Leute Erwähnung zu tun, würde eine Zumutung und Störung darstellen, die weder den Figuren noch dem Leser zugemutet werden kann.

Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren.

S. 222

Man denke nur, sie hätte sich an Orte begeben, die unwichtig waren! Der Roman wäre sogleich in Stücke gesprungen.

Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.
Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte.

S. 215

Wohlgemerkt: Die Teller wurden wirklich (!) der Reihe nach (!) mit Suppe gefüllt! Kein Wunder, dass dem Erzähler dies bislang gefehlt hatte.

Und so geht es in einem fort: Ein sinnloses Durch- und Nacheinander von überflüssigen Details und abstraktester Ungegenständlichkeit, von sinnlosestem Durch-die-Gegend-Laufen, um wenigstens so etwas wie den Anschein einer Handlung zu simulieren, und anderen bei der Arbeit zuschauen. Dann fährt man irgendwelche Nachbarn besuchen, die ebensolche Abziehbilder darstellen wie die bisherigen Figuren und die in der Hauptsache dazu dienen, einen Kontrast zu dem höchst idealen Haushalt des alten Gastfreundes zu liefern. Und das alles wird geschildert, ohne eine einzige erzählerische Mine zu verziehen, vollständig ironie- und humorfrei.

Ich habe mich aus der Literarhistorie schlau gemacht, was in den beiden nachfolgenden Bänden noch als Handlung herhalten muss; lesen muss ich das nicht. Und wahrscheinlich auch niemand sonst.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Zürich: Ex Libris, o. J. [1978]. Lizenzausgabe der Ausgabe beim Winkler Verlag, 1949. Kunstleder, Fadenheftung, Lesebändchen, 766 Seiten Dünndruck. In dieser Ausgabe selbstverständlich nicht mehr lieferbar.

Zwei antike Dramen: Medea und Philoktet

In Neuübersetzungen Kurt Steinmanns sind in diesem Herbst gleich zwei antike Tragödien erschienen: Die Medea des Euripides bei Manesse in einem großformatigen, zweisprachigen Prachtband und der Philoktet des Sophokles bei Diogenes. Obwohl inhaltlich auf den ersten Blick sehr unterschiedlich, haben beide Stücke ein ganz ähnliches dramaturgisches Problem, nämlich die extreme Position ihrer Protagonisten in einer von Rationalität und Pragmatismus geprägten Welt wahrscheinlich erscheinen zu lassen.

Cover Philoktet

Philoktet ist ein spätes Drama von Sophokles. Der Titelheld wird in der Ilias am Rande erwähnt, zugleich aber deutet Homer an, dass er bei der Eroberung und Zerstörung Trojas eine entscheidende Rolle spielen wird. Allerdings befindet er sich in dem Zeitraum, den die Ilias schildert, nicht vor Troja; er wurde, da er an einer unheilbaren Fußwunde leidet, von den Anführern der Griechen auf der unbewohnten Insel Lemnos ausgesetzt. Dort lebt er seit vielen Jahren ein kärgliches und schmerzerfülltes Leben und kann sich überhaupt nur deshalb am Leben erhalten, weil er den wundertätigen Bogen des Herakles besitzt. Die Griechen vor Troja sehen sich nun aber aufgrund einer Weissagung genötigt, Philoktet nach Troja zu holen, denn nur mit Hilfe seiner Bogenkünste soll angeblich der Fall Trojas zu bewerkstelligen sein.

Man schickt nun ausgerechnet Odysseus, gegen den Philoktet einen besonderen Hass hegt, zusammen mit Neoptolemos, dem Sohn des inzwischen gefallenen Achill, aus, um Philoktet, ob mit, ob gegen seinen Willen nach Troja zu schaffen. Neoptolemos und Odysseus sind dabei nur bedingt einig, wie das zu geschehen habe: Der notorische Lügner und Täuscher Odysseus entwickelt einen Plan, wie sie Philoktet durch eine Lüge aufs Schiff bringen können, wo er keine Wahl mehr hat, ihnen nach Troja zu folgen, während Neoptolemos sich innerlich gegen diese Täuschung sträubt, letztlich aber dem Drängen Odysseus’ nachgibt. Hinzukommt, dass Neoptolemos selbst gute Gründe hat, Odysseus zu misstrauen, denn als man ihn nach dem Tod seines Vaters nach Troja geholt hat, erweist es sich, dass man dessen Rüstung bereits Odysseus zugesprochen hat, der sich durchaus weigert, sie dem Sohn auszuhändigen.

Der Hauptteil des Dramas besteht nun darin, dass Neoptolemos Philoktet davon überzeugt, dass er ihn nach Griechenland bringen werde, so dieser nur bereit sein, seine Insel zu verlassen und in sein Schiff zu steigen. Je mehr er Philoktet aber versichert und ihm schwört, ihn nicht zu verraten, desto mehr entfernt er sich vom Plan der Täuschung und erkennt, dass die Instrumentalisierung des Philoktet nicht rechtens sein kann. Als der ursprüngliche Plan zu scheitern droht, tritt Odysseus selbst auf, enthüllt die wahren Ziele der Mission, und als sich Philoktet weigert, ihm nach Troja zu folgen und eher den Tod vorziehen würde, als Odysseus und den Griechen zu Willen zu sein, beraubt man ihn seines Bogens und überlässt ihn dem sicheren Tod durch Verhungern. Nachdem so das größtmögliche Elend über Philoktet hereingebrochen ist, kehrt überraschend Neoptolemos zurück und gibt ihm seinen Bogen zurück, was den vorherigen Konflikt aber nur erneuert. Aufgelöst wird die ausweglos erscheinende Lage durch einen Deus ex machina: Herakles selbst erscheint über der Bühne, gibt Philoktet den göttlichen Befehl, Odysseus zu folgen – was der in seiner Frömmigkeit sofort befolgt –, und verspricht ihm Heilung vor Troja durch die Söhne des Asklepios.

Gemessen an modernen Ansprüchen an Dramen und Dramaturgie ist das Stück – sagen wir es höflich – schwierig: Der vorgebliche Protagonist erscheint nahezu vollständig statisch, so dass er sich schon nach kurzer Zeit nur noch selbst reproduziert, und die Lösung des Konflikts entsteht nicht aus der Entwicklung des Dramas heraus, sondern ist vollständig aufgesetzt, nachdem der Autor seine Figuren in eine absolute Aporie geführt zu haben scheint. Wer tatsächlich eine Entwicklung durchläuft ist Neoptolemos, wobei diese Entwicklung sich nicht organisch aus seinem Konflikt mit Odysseus ergibt, sondern ebenfalls weitgehend unorganisch und spontan gesetzt wird. Wie in zahlreichen anderen griechischen Dramen erweist sich der verarbeitete Mythos als widerständisch gegen die Absichten des Autors, der einmal mehr die Ehrung göttlicher Gebote gegen die Verfolgung politischer Absichten ausspielt; um den Mythos so zu deuten, muss allerdings vernachlässigt werden, dass der Ursprung der Mission des Odysseus selbst eine Prophezeiung ist, also hier – wie überhaupt in der Ilias – widerstreitende göttliche Motive einander unversöhnlich gegenüberstehen.

Mag dem aus moderner Sicht sein, wie es wolle, das ursprüngliche Publikum scheinen solche intellektuellen Einwände wenig gestört zu haben, denn wir wissen, dass der alternde Dichter 409 v.u.Z. den Wettstreit beim Athener Dionysosfest mit diesem Stück gewinnen konnte. Der unmittelbare Eindruck des leidenden Philoktet scheint alle anderen Erwägungen aus dem Feld geschlagen zu haben.

Auch die Medea des Euripides (431 v.u.Z.) hat im Zentrum eine von starken Emotionen getriebene Titelfigur: Medea befindet sich in Korinth in der misslichen Lage, ein Flüchtling zu sein. Sie hat Iason geholfen, ihrem Vater das berühmte Goldene Flies zu rauben und die beiden haben zusammen mit ihren beiden noch jungen Söhnen in Korinth Asyl gefunden. Dort hat sich Iason allerdings der Königstochter Glauke verbunden und seine Ehefrau verlassen. Er weiß diese Untreue recht gut rational zu rechtfertigen, denn er weist darauf hin, dass seine Verbindung mit dem Königshaus nicht nur für ihn, sondern auch für Medea und die Söhne eine Sicherung ihres Status als Fremde in Korinth bedeutet. In ihrem Zorn gegen Iason und Glauke aber wütet Medea und schwört öffentlich Rache. Da sie als Zauberin gefürchtet ist, will Kreon, der König Korinths, sie mit den Kindern aus dem Land verbannen; auch weist es sich, dass der König von Athen, der zufällig des Weges kommt, Medea eine neue Heimstatt anbietet, so dass sie nur von ihrem Hass zu lassen bräuchte, um vergleichsweise unbeschadet der misslichen Lage, in der sie sich befindet, zu entkommen.

Die Tragödie wäre keine, wenn Medea diesen Ausweg wählen würde. Doch sie stellt sich im Gegenteil verständig, erbittet von Kreon einen Tag Aufschub und zeigt sich ihrem Mann gegenüber scheinbar einsichtig, schickt dann aber Glauke als Geschenk ein vergiftetes Kleid, an dem nicht nur die Königstochter, sondern auch der König selbst sterben. Im Anschluss tötet sie ihre beiden Söhne, um sich an Iason zu rächen und sein Geschlecht zum Ende zu bringen und kann sich dann auf einem zauberischen Drachenwagen, der von ihrem Großvater, dem Gott Helios, stammt, der drohenden Bestrafung durch die Korinther entziehen. Auf ihrer Flucht entführt sie noch die Leichen ihrer beiden Söhne, um selbst diese noch Iason zu entziehen.

Dieses Drama steht und fällt mit der Überzeugungskraft des Zorns Medeas. Auch hier steht eine Einzelne, die auf dem Recht ihrer Verletztheit und ihres Leidens beharrt, gegen eine pragmatische und rationale Gesellschaft, die von ihr erwartet, sich zu ihrem eigenen und dem Vorteil ihrer Söhne mit den widrigen Umständen abzufinden. Medea ist sicherlich eines der bis heute wirkungsmächtigsten antiken Dramen, gerade weil es sich über jede schlichte, eingängige und rationale Moralisierung hinwegsetzt: Niemand bezweifelt, dass Medea jegliche Grenze der griechischen Moral überschreitet, als sie ihre eigenen Kinder tötet; die Ermordung ihrer Rivalin und des ihr feindlich gesinnten Königs ließe sich noch diskutieren, doch die Ermordung der eigenen Kinder liegt jenseits dessen, was sich im griechischen Denken noch rechtfertigen ließe. Und dennoch entzieht Euripides seine Protagonistin einer Bestrafung und lässt auf der Bühne eine zer- und verstörte Gesellschaft zurück.

Es ist nicht ohne Reiz diese beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Tragödien, die beide entgegen dem allgemeinen Vorurteil nicht mit dem Tod ihrer/s Titelheldi/en enden, nebeneinander zu lesen. Die absolute Setzung des Individuums gegen die durchaus vertretbaren Ansprüche der Gesellschaft an sie schafft eine unerwartete Verbindung zwischen beiden.

Kurt Steinmanns Übersetzungen bewähren sich einmal mehr: Trotz seiner strengen formalen Voraussetzung, die Struktur des griechischen Originals weitgehend in der Übersetzung abzubilden, sind zwei sehr gut lesbare Texte entstanden, die sich dem heutigen Deutsch anschmiegen ohne dabei den Charakter der Bühnensprache aufzugeben. Zwei spannende Gelegenheiten, sich dem antiken Theater anzunähern.

  • Euripides: Medea. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Griechischen von Kurt Steinmann.  München: Manesse, 2022. Leinen, Fadenheftung, 240 Seiten (17×24 cm) mit acht farbigen Abbildungen. 60,– €.
    Von diesem Titel existiert auch eine limitierte Vorzugsausgabe.
  • Sophokles: Philoktet. Aus dem Altgriechischen von Kurt Steinmann. Zürich: Diogenes, 2022. Leinen, 138 Seiten. 25,– €.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt

„er habe […] aber nicht alles verstanden“1

ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß !

BA III/4, S. 80
cover

Solch einen Satz lassen sich Autor und Verlag natürlich nicht entgehen, wenn sie noch vor der geforderten Zeitspanne die erste umfangreiche Lebensbeschreibung gerade dieses Schriftstellers vorlegen können. Dass es dagegen nicht gelungen ist, diesen Satz fehlerfrei aus dem Original auf den Buchumschlag zu bringen,2 ist leider nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Symptom.

Es dürfte unter jenen, die sich intensiver mit Arno Schmidt und seinem Werk beschäftigen, gleichgültig ob nur als Leserinnen3 oder auch als Forscherinnen, Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine umfangreiche und detaillierte Biografie ein dringendes Erfordernis war. Jahrelang hatte man auf die Ankündigung Bernd Rauschenbachs hin auf ein sozusagen offizielles Lebensbild von Seiten der Stiftung gewartet; nachdem Rauschenbach sein Projekt schließlich auch öffentlich aufgegeben hatte, wurde hier und da die dadurch verlorene Zeit bedauert, aber nun liegt endlich ein Buch vor, das auf knapp 880 Seiten den Versuch unternimmt, Leben und Werk Arno Schmidts in einem einzigen großen Durchgang darzustellen.

Eine solche erste große Biografie wendet sich in der Hauptsache an gleich zwei Gruppen von Rezipientinnen, was seine Konzeption nicht eben einfacher macht. Da sind zum einen interessierte Leserinnen, die ihr Wissen um den Autor erweitern und Verständnis der Texte vertiefen möchten; zum anderen handelt es sich um aktuelle und zukünftige Forscherinnen, denen eine solche Biografie zur Grundlage der Forschung wird als eine Zusammenführung früherer Arbeiten und Erkenntnisse, die nun nicht mehr an zum Teil entlegenen Orten gesucht, sondern an einem zentralen Locus gefunden werden können.

Um dem Anspruch der ersten Gruppe zu genügen, ist es wichtig, aus den zum Teil disparaten Elementen der Lebensgeschichte eine wenigstens einigermaßen kohärente Erzählung zu entwickeln. Beim Verbiografieren von Schriftstellerinnen ergibt sich oft als Vorteil, dass diese in ihren Schriften schon eine Selbstdeutung vorgeben und ihr eigenes Leben und Denken mit mehr oder weniger Notwendigkeit ins Werk eingegangen ist und sie so ihren Leserinnen bereits ein Lebensbild mitgegeben haben, auf das die Biografie dann aufbauen kann. Nun ist es eine wichtige Maxime beim Verfassen von Biografien, zu diesen Selbstdeutungen der Autorinnen bewusst einen kritischen Abstand einzunehmen, um aus der Distanz heraus die Selbstdeutungen nicht nur hinterfragen, sondern auch in ein umfassenderes Bild der Zeit und der Zeitgenossen einordnen zu können. Darüber hinaus hat die Verfasserin einer Lebensbeschreibung mit den allgemeinen Zweifeln am Gelingen eines solches Vorhabens aufgrund der systematischen Beschränkungen des Genres zu kämpfen, steht sie doch unter dem Verdacht, sowohl aus psychischen als auch aus erzählerischen Gründen ihren Gegenstand notorisch zu verfälschen und zu beschönigen. Man ahnt die Schwierigkeit.

Doch solche eher allgemeinen Bedenken haben keinen wirklich tiefgreifenden Einfluss auf das Genre der Biografie genommen. Eher im Gegenteil werden ungebrochen Lebensbeschreibungen verfasst, die ein Bewusstsein der genrebedingten Schwierigkeiten zwar vor sich hertragen, sich aber im Vollzug von derartigen Zweifeln beim Vordringen in das Feld der Untersuchung nicht hemmen lassen. So auch wir.

Betrachten wir das Buch zuerst aus der Perspektive der Laienlektüre (der Ausdruck möge mir verziehen werden): Schmidt selbst hat seinen Leserinnen ein sowohl breites als auch vielfältiges Selbstbild in seinen Schriften hinterlassen, das einen nicht unwesentlichen Anteil der Faszination seiner Schriften ausmacht: Der autodidaktische, bibliophile Universalbelehrende, der sicheren Urteils die Bücherwelt durchpflügt, Gutes von Minderwertigem zu scheiden weiß, ein hohes aufklärerisches Pathos verkörpert, sowohl für den Fortschritt in der Literatur als auch für die Wertschätzung der Tradition steht, der letzte Vertreter der Französischen Revolution im Geiste Marats und der Erste an der Spitze der literarischen Avantgarde, der als „Topograph der horizontalen Höllenstürze […] nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert“ [BA Bfe. II, S. 8] und zugleich „ein Bild der Zeit“ [BA II/2, S. 63] hinterlässt, in dem sich die Zeit mit Scham wiedererkennen muss. All das erwächst aus einer unglücklichen Kindheit, aus dem erzwungenen Schweigen des Schriftstellers unter den Nationalsozialisten, im Widerstand gegen den Geschmack des breiten Publikums der Nachkriegszeit, die boshafte Verfolgung durch politisch Andersdenkende und die beständigen Störungen der Arbeit durch die, die glauben, es gut mit dem Autor zu meinen. Ein Einzelkämpfer gegen eine Welt von Plagen, wie er im Buche steht.

Selbst wenn hiervon der offensichtlichste pathetische Unfug abgezogen wird, bleibt immer noch das Bild einer erstaunlichen Persönlichkeit, die den Beruf des Schriftstellers auf sich genommen hat, weil er die beste Möglichkeit zu bieten schien, sich von der Gesellschaft der Mitmenschen weitgehend zurückzuziehen und in einer symbiotischen Partnerschaft mit einer Frau soweit es geht nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, die sie selbst anerkannte oder sogar setzen konnte. Schmidt war ein Misanthrop, und er hat sich insoweit mit dieser Haltung durchgesetzt, als es ihm durch seine Berufswahl gelungen ist, Bedingungen zu schaffen, die eine weitgehende Isolation erlaubten. Dafür haben seine Frau und er für lange Jahre ein ärmliches und erbärmliches Leben auf sich genommen, im Dienst der Kunst, wie er behauptete, wohl eher aber, weil ihm ein Leben unter den „groben Leute[n]“ [BA I/1, S. 434] nicht möglich gewesen wäre.

Wie man hier leicht sieht, kann bei der Lebensbeschreibung Schmidts grundsätzlich eine von zwei Richtungen eingeschlagen werden: Es kann der Heldenerzählung gefolgt werden, die Schmidt als Selbstinszenierung in seinem Werk hinterlegt hat, oder es kann der Versuch unternommen werden, sich tatsächlich einmal den „defekten Rest“ [BA I/1, S. 395] anzuschauen, der übrig bleiben soll, falls der Künstler die Wahl trifft, „als Werk“ [BA I/1, S. 395] zu existieren.

Hanuschek ist im Wesentlichen der ersten Linie gefolgt und hat damit eine Biografie vorgelegt, die dem Bedürfnis der meisten Leserinnen Arno Schmidts entgegenkommen dürfte. Das bedeutet nicht, dass er blind wäre für den „defekten Rest“, nur ist er nirgends bereit, sich auch nur für einen Augenblick der Frage zu stellen, ob das Opfer, das Schmidt nicht nur sich, sondern auch seiner Frau abverlangt hat, tatsächlich eine notwendige Bedingung war für das Werk, das für all das über die Jahre und mit den Jahren immer mehr als Rechtfertigung herhalten muss. Die Heldenerzählung überstrahlt alles.

Dabei ist es Hanuschek als Verdienst anzurechnen, dass seine Darstellung die zentrale Rolle von Alice Schmidt bei der Herstellung dieser Lebensbedingungen herausarbeitet: Immer wieder ist es Alice, die die schwere soziale Behinderung ihres Mannes – seine Wut und Überheblichkeit, seinen Größenwahn – im Zaum und im Haus halten kann, die die zerstörerischen Tendenzen ihres Mannes abfängt, ihm zwar zugleich zustimmt, dass man ihn ungerecht und schlecht behandelt, aber dennoch einen Weg findet, mit Verlagen und Verlegern einen professionellen Umgang zu pflegen und so Schmidt zu ermöglichen, wenigstens zu Zeiten das Schneckenhausleben zu führen, das seinen Neurosen entspricht. Und bei aller Bewunderung für den Autor ist es für ihn nur zu verständlich, dass Alice in späteren Jahren gern so eine Art von Dichtergattin geworden wäre, ein wenig vom sich nun doch einstellenden Erfolg und Ruhm genossen hätte, anstatt auf einem Dorf in der Heide zu sitzen und langsam aber sicher von ihrem monomanischen Gatten als Letzte auch noch aus seinem Leben herausgedrängt zu werden. Den Absprung hat sie verpasst; aber das muss ihre Biografie thematisieren, nicht seine.

Am Ende ist es natürlich eine Frage des Geschmacks, aber ich hätte mir für eine erste Biografie Arno Schmidts ein wenig von dem kritischen Abstand gewünscht, den Hanuschek auf den wenigen Seiten (714–717) aufbringt, in denen er ein kurzes Porträt Hans Wollschlägers liefert. Anlass hätte es genug gegeben, so etwa xeno- und homophobische Äußerungen Schmidts, die zwar dokumentiert, nicht aber kommentiert werden. Es hätte dem Buch und auch den Leserinnen Schmidts gutgetan.

Kommen wir zum Forschungsaspekt des Buchs: Eine Arno-Schmidt-Forscherin stellt, wie schon gesagt, andere Ansprüche an eine Biografie. Für sie müssen neue Fakten und Interpretationen geliefert werden, es müssen offene und kontrovers diskutierte Fragen der Forschung entschieden oder wenigstens einer Klärung nähergebracht werden, es muss Relevantes von Obsoletem und Abstrusem geschieden werden.

Auch hier ist zuerst festzustellen, dass Hanuschek durchaus Neues bringt: Besonders was die Familiengeschichte Schmidts angeht, ist seine Darstellung detailreich und geht – soweit ich sehe – über die bisherige Forschung hinaus. Auch folgt er zwar weitgehend der Selberlebensbeschreibung Schmidts, formuliert aber immer wieder berechtigte Zweifel an den Selbstdeutungen des Autors. Wir bekommen etwa kein wirklich geschlossenes Bild von Schmidts Vater geliefert, aber wir bleiben auch nicht bei der extrem negativen Beurteilung durch den Sohn stehen. Hier liefert Hanuschek einen deutlichen Fortschritt.

Was die Einschätzung des Werks und seine Interpretation angeht, schwächelt das Buch auf weiten Strecken. Hanuschek scheint, bei aller Bewusstheit für die romantischen Wurzeln Schmidts, grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei Schmidt um einen realistischen Autor gehandelt habe. Hanuschek begreift darunter das Ziel, die sogenannte Wirklichkeit im Text abzubilden, hat aber an zahlreichen Stellen Schwierigkeiten mit diesem Textzugriff – er greift dann zum Terminus „Wirklichkeitskonstitution“ (S. 152, 402 u. ö.). So wird ihm etwa der Gärtner Auen in Brand’s Haide zu einem Problem:

Natürlich kann man sagen, alle diese ›phantastischen Stellen‹ seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: Der gute ›Schmidt‹ [die Erzählerfigur von Brand’s Haide] spinnt, er hat zuviel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu platte Auflösung; für mich stecken hier zwei Möglichkeiten. Zum einen: Brand’s Haide erzählt eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht wieder geöffnet wird.

S.350

Das „zum anderen“ wird uns nicht geliefert! Die hier ausinterpretierte Spannung kennt der Text aber gar nicht. Zum einen (!) ist die Geisterexistenz dieser Figur mit voller Absicht im Text so versteckt, dass nur eine sehr exakte Lektüre sie überhaupt als wirklichkeitskonstituierendes Element an den Tag bringt, zum anderen (!) behauptet Schmidt zwar in seiner Poetologie, ein Realist zu sein, die Praxis seiner Texte weiß aber überhaupt nichts von einem solchen Dogma. Wenn sich etwas an Schmidts Texten begreifen lässt, dann dies, dass sie weitgehend autonom konstituiert sind und sich an keinerlei vorgegebene Konzepte, seien sie realistisch oder romantisch, halten. Schmidt ist nur insoweit ein Realist, als ihm Realien wichtig sind (warum das so ist, hätte Hanuschek diskutieren müssen, er nimmt es aber als selbstverständlich hin), aber er ist in keiner Weise durch sie verpflichtet oder beschränkt. Schmidt ist weder ein Epigone der Romantik (wovon das Frühwerk noch geprägt ist) noch ein Autor des Realismus. Künstlerisch souverän ist sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk mit Sicherheit gerade darin, den scheinbaren Gegensatz von „Wirklichkeitskonstitution“ und Phantastik mit leichter Hand einzuebnen.

Neben diesem grundsätzlichen Missverständnis weist das Buch als Forschungsbeitrag zahlreiche Mängel auf, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Pars pro toto sei die Entstehungszeit von Pharos genannt:

  • Eine erste Datierung wird auf Seite 136 vorgenommen: „(ca. 1945)“.
  • S. 174 wird es nach dem Achamoth-Fragment terminiert, das von Schmidt selbst in die Zeit nach Weihnachten 1944 gesetzt wurde.
  • Die hauptsächliche Behandlung des Pharos findet dann zu Anfang des Abschnitts über den Zeitraum 1946–1948 (S. 215 ff.) statt.
  • S. 225 wird der Zeitraum der Entstehung zwischen März 1942 und Januar 1944 verortet,
  • was S. 226 noch einmal auf den Zeitraum zwischen November 1943 und Januar 1944 eingegrenzt wird.4

So etwas muss selbstverständlich vermieden werden, und es lässt sich auch durch Autor oder Lektorat problemlos vermeiden, wenn man denn sein eigenes Buch mit jener Gründlichkeit gelesen hätte, mit der man vorgibt, das Werk Arno Schmidts gelesen zu haben.

Es bleibt mir nur noch eine einzige Stelle zu zitieren, die mir die Lektüre dieses Buches letztendlich durch und durch verdorben hat. Auf S. 844 heißt es über Ann’Ev’ – deren Name im Buch übrigens gleich drei Mal falsch geschrieben wird –: „trotz ihrer Herzkrankheit ist sie offensichtlich nicht ganz von dieser Welt“. Wer so etwas schreiben kann, hat bei Schmidt etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Ann’Ev’ ist nicht „trotz“ ihrer Herzkrankheit nicht ganz von dieser Welt, sondern weil sie immer auch von dieser Welt sein muss, ist sie herzkrank. Und wer dabei nicht an Line Hübner denken muss, der gehört, so leid es mir tut, auch unter die „groben Leute“.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. München: Hanser, 2022. Pappband, Lesebändchen, 990 Seiten. 45,– €.

geschrieben für den Bargfelder Boten
Nr. 479–480, S. 30–34


1 – Sven Hanuschek: Arno Schmidt. S. 124

2 – Die Fassung des Hanser-Verlags liest sich so: „Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß!“

3 – Dieser Text benutzt ausschließlich zum Zwecke der Provokation das sogenannte generische Femininum.

4 – Mit Dank an Günter Jürgensmeier, der auf diese kleine Bonanza auf Twitter hingewiesen hat: https://twitter.com/Arnotationen/status/1522094272350146562.

Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien

Als 1794 die Zusammenarbeit Goethes und Schillers beginnt, befinden sich beide in einer Art von Isolation vom und Opposition zum literarischen Leben der Zeit: Schiller hatte drei Jahre lang von einem Stipendium gelebt und suchte im Anschluss daran nun eine Möglichkeit, seine Familie und sich mit der Herausgabe einer anspruchsvollen literarischen Zeitschrift – Die Horen – zu finanzieren, stand aber in einer gewissen Spannung zu der jungen Generation von Schriftstellern, die gerade in Mode war. Auch hatte er selbst zuletzt neben einem historischen Werk hauptsächlich theoretische Texte zur Literatur veröffentlicht. Sein Ruhm als einer der jungen Feuerköpfe der Literatur gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Von daher war der in der Nachbarschaft lebende Goethe, dem ebenfalls der Ruf anhaftete, eine gewesenes Genie zu sein, eine natürliche Wahl als Mitstreiter für das neue Projekt. Auch Goethe hatte nach seiner Rückkehr aus Italien Schwierigkeiten, wieder ans gesellschaftliche und literarische Leben anzuknüpfen. Es ist daher nur zu verständlich, dass er sich für Schillers Vorschlag zur Mitarbeit an den Horen begeistern konnte: Es bestand die Aussicht, auf diesem Weg wieder innovative Akzente setzen und sich damit zurück in die literarische Diskussion der Zeit bringen zu können.

Diese Interessengemeinschaft wird im Laufe des Jahres 1795 zu einer Art Kampfbündnis und schließlich zu der Arbeitsgemeinschaft, über deren mehr als zehnjähriges Bestehen dann der Briefwechsel eine so umfassende Dokumentation liefern wird. Als erstes echtes Gemeinschaftsprojekt entstehen ab Dezember 1795 während eines knappen Jahres etwa 1.000 Distichen („Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein; [/] Im Pentameter drauf läßt er ihn wieder heraus“ wird Matthias Claudius spöttisch dichten), zuerst als satirische Kurzkritiken anderer Zeitschriften vorgeschlagen, dann aber zu einem Rundumschlag werdend gegen Schriftsteller und andere Zeitgenossen, literarische Tendenzen und Moden, poetologische Theorien und schließlich beinahe alles und jedes.

Peterskirche

Suchst Du das Unermeßliche hier? Du hast dich geirret,
Meine Größe ist die, größer zu machen dich selbst.

537

Die Zusammenarbeit ist dabei so eng, dass sich bei zahlreichen dieser sogenannten Xenien (wörtlich: „Gastgeschenke“, nach den Epigrammen Martials) auch heute nicht bestimmen lässt, wer der eigentliche Autor der einzelnen Verse ist. So werden die Xenien für gewöhnlich vollständig sowohl in die Werke Goethes als auch Schillers eingereiht.

Die Xenien waren übrigens ein vollständiger Erfolg, was ihre Wirkung angeht: Sie waren der literarische Skandal der Jahreswende 1796/1797, nachdem 400 von ihnen anonym bei Cotta im Musen-Almanach für das Jahr 1797 erschienen waren. Es fühlten sich über den Kreis der Gemeinten hinaus zahlreiche andere Autoren getroffen und das allgemeine Palaver war vollkommen. Die beiden Weimarer Klassiker hatte einmal mehr bewiesen, dass sie noch dazu in der Lage waren, die literarische Welt aufzumischen.

Die jetzt von Reclam vorgelegte Ausgabe ist leider eine Enttäuschung: Nicht nur enthält sie nur eine Auswahl der Xenien, sondern sie bringt auch nur eine minimale Kommentierung dieser Texte, die bereits für die Zeitgenossen nicht immer leicht zu entschlüsseln waren. Das knappe Nachwort ist zwar inhaltlich untadelig, schafft es aber auf dem wenigen Raum, den es einnimmt, problemlos, sich zu wiederholen. Hier hätte man sich eine dem heutigen Leser weiter entgegenkommende Aufbereitung dieser oft kryptischen Verse gewünscht. Auch ist die vorgenommene Auswahl zwar durchaus nachvollziehbar, aber was einer vollständigen Ausgabe entgegensteht, will sich wenigstens mir auf Anhieb nicht eröffnen: Wenn sich schon jemand für die Xenien interessiert und sie nicht ohnehin als Teil eines umfassenden Werkausgabe besitzt, warum sollte der nicht eine vollständige und umfangreich kommentierte Ausgabe wünschen statt dieser konsequenten Halbheit? Am Preis kann es in diesem Fall wirklich nicht liegen.

Johann Wolfgang Goethe / Friedrich Schiller: Xenien. Eine Auswahl. Hg. v. Frieder von Ammon u. Marcel Lepper. RUB 14250. Stuttgart: Reclam, 2022. Broschur, 96 Seiten. 6,– €.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.