Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«

978-3-548-60784-9Sogenannte autorisierte Biografie Marlen Haushofers, was auch in diesem Fall wenig anderes bedeutet, als dass sich die Verfasserin von der Nachlassverwaltung einen Maulkorb hat umhängen lassen müssen, um wenigstens an irgendein Material heranzukommen. Inwieweit die Biografie korrekt ist, lässt sich nicht beurteilen, da sie derzeit allein auf weiter Flur steht. Angesichts der naiven Laienanalyse, zu der Daniela Strigl neigt, bin ich eher geneigt, ihr nicht weit über die blanken Fakten und Daten hinauszutrauen; doch ist hier – wie gesagt – kein solider Grund zu gewinnen.

Was das Leben Marlen Haushofers angeht, so sind ihre »originellen« Lösungen bestimmter Lebenslagen zu bewundern: Als sie von ihrem ersten Verlobten ungewollt schwanger wird, heiratet sie ihn etwa nicht – was der Reflex der Zeit gewesen ist –, sondern löst die Verlobung und bekommt das Kind heimlich, wahrscheinlich um ihrer streng katholischen Mutter gegenüber den vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht eingestehen zu müssen. Auch als ihre spätere Ehe in eine scharfe Krise gerät, bewährt sich ihr Sinn für überraschende Lösungen: Die Eheleute lassen sich scheiden, verraten es aber niemandem und leben auch weiterhin in einem gemeinsamen Haushalt. Man gibt sich also nach innen hin gegenseitig die »Freiheit«, hält aber nach außen hin die bürgerliche Fassade aufrecht.

Daniela Strigl: »Wahrscheinlich bin ich verrückt …«. Marlen Haushofer – die Biografie. List Taschenbuch 60784. Berlin: List, 32009. 406 Seiten. 9,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (34)

Allgemein habe er dann noch kritisiert, wie das – seiner Ansicht nach wichtigste – Problem überhaupt nicht berührt worden sei: »’s Honno=rar natürlich! Das’ss ooch so was, was die Verleger nie lern’n: wenn se 3 Tausnd Mark für ’ne Übersetzunk blechn, kriegn se ’ne 3=Tausnd=Mark= Übersetzunk; wenn se 6 Tausnd schmeißn, eene für 6 Tausnd: dann kann ich neemlich de doppelte Zeit dran wendn!«. Auf das vorsichtige Bedenken seines – verständlicherweise ungenannt bleiben wollenden – Bekannten: daß die meisten ‹Künstler› unter sotanen Umständen dann eben wohl doch nur die für 3 herstellen, und für die übrigen 3 schlicht faulenzen würden: ob die Gefahr nicht nahe läge?, habe er kaltblütig erwidert: die läge freilich verdammt nahe.

Arno Schmidt
Piporakemes!

Benjamin Stein: Die Leinwand

978-3-406-59841-8-1Einer der ungewöhnlichsten Romane der letzten Jahre. Es beginnt damit, dass es sich bei diesem Buch um einen sogenannten Zwillingsband oder ein Dos-à-dos handelt, also ein Buch, das zwei Texte enthält, die Rücken an Rücken einen Einband teilen. Das Buch hat daher zwei vordere Buchdeckel, zwei Titelblätter etc.; aus Sicht des einen Textes steht der jeweils andere auf dem Kopf. Durch diese ungewöhnliche Präsentation der beiden Texte, die sich zu einem Roman fügen, erscheinen beide tatsächlich gleichberechtigt, und der Autor überlässt es dem Leser ausdrücklich, wo er mit dem Lesen anfängt, ja auch, ob er zuerst den einen Text zur Gänze und dann den anderen oder ob er seiner Lektüre sonst eine (Un-)Ordnung zugrunde legen will.1 Natürlich hält man dergleichen auf den ersten Blick für einen Manierismus des Autors (was es in vielen ähnlich gelagerten Fällen auch ist), doch leuchtet es nach der Lektüre ein, dass kaum eine andere Form dem Roman angemessen wäre.

978-3-406-59841-8-2Die bedeutendste Schwierigkeit für eine Rezension scheint mir zu sein, die Fabel auch nur andeutungsweise nachzuerzählen, ohne dem Leser einen Teil des Spaßes an der Lektüre zu nehmen. Vielleicht nur soviel: Der Roman erzählt das Leben zweier Juden nach, die sehr unterschiedliche Biographien haben, deren Leben aber durch die Bekanntschaft mit einer dritten Person unlösbar miteinander verschränkt werden. Amnon Zichroni stammt aus Israel, zieht aber als Jugendlicher zu einem Nenn-Onkel nach Zürich, der für seine Ausbildung sorgt. Zichroni hat die ungewöhnliche Gabe, Erinnerungen anderer Menschen durchleben zu können. In der Absicht, diese Fähigkeit zum Wohle anderer einzusetzen, wird er Psychoanalytiker. Jan Wechsler dagegen ist zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin aufgewachsen und ein mehr oder weniger erfolgreicher Schriftsteller geworden. Wie schon gesagt, ist beider Leben durch ihre Bekanntschaft mit einer dritten Person verbunden, über die man am besten vorweg so wenig wie möglich erzählt.

Das zentrale Thema des Romans ist die Frage nach der Identität: Wie konstituiert sich ein Mensch, wenn seine Erinnerungen nicht ihm zu gehören scheinen bzw. den sogenannten Tatsachen seines Lebens widersprechen. Wann und wie hört jemand auf, er selbst zu sein? Ist er in der Lage, seine Erinnerungen angesichts dieser Tatsachen aufrecht zu erhalten oder wird er sie aufgeben und akzeptieren, dass er nicht ist, wen er zu erinnern glaubt? Diese Fragen scheinen sehr abstrakt zu sein, und es ist kein kleines Kunststück, einen Roman zu erfinden, in dem sie sich in eine wirklichkeitsnahe und überzeugende Fabel einfügen.

Es beweist die Stärke von Steins Roman, dass er die Antworten, nach denen seine Erzählung verlangt, nicht auszubuchstabieren braucht, sondern dass er es sich leisten kann, vieles – wenigstens dem Anschein nach – offen zu lassen. Das Buch mündet in ein sorgfältig konstruiertes Rätsel, dessen Lösung zu entdecken der Autor ganz bewusst seinen Lesern überlässt. Was der Autor ausdrücklich nicht erzählt, gehört mit zum Interessantesten an diesem Buch.

Eine der überraschendsten und intelligentesten Lektüren seit langem – jedem ambitionierten Leser unbedingt empfohlen!

Benjamin Stein: Die Leinwand. München: C.H. Beck, 2010. Pappband, 416 Seiten. 19,95 €.

1: Es sei hier nur ganz am Rand und sehr leise und entgegen der Intention des Autors empfohlen, zuerst der Geschichte Amnon Zichronis zu folgen und dann erst die Jan Wechslers zu lesen.

Johannes Willms: Stendhal

978-3-446-23419-2Wie schon bei seiner Balzac-Biografie liefert Johannes Willms auch für Stendhal in der Hauptsache die biografischen Daten und nur wenig zum Werk. Das ist in diesem Fall um so bedauerlicher, weil ein Großteil des Lebens von Stendhal ein sich wiederholendes Muster aufweist, das mit geringer Variationsbreite immer erneut abgearbeitet wird: Stendhal verliebt sich unglücklich, belagert das »obskure Objekt der Begierde« eine längere Weile, kommt mehr oder weniger zum Erfolg und wechselt dann das Objekt, kaum aber sein Empfinden oder seine Methoden. Natürlich kann man seinem Biografen nicht vorwerfen, dass dies auch weite Teile der Lebensbeschreibung ziemlich eintönig macht.

Erst relativ spät tauchen in Stendhals Leben einige andere interessante Leute auf, und wir erfahren etwas über die literarische Kultur und die Salons in Paris im frühen 19. Jahrhundert. Aber schon muss Stendhal wieder fort nach Italien, um im provinziellen Civitavecchia den Posten eines Konsuls zu bekleiden. Nach der Lektüre des Buches musste wenigstens ich feststellen, dass die Romane Stendhals unvergleichlich viel interessanter sind als sein Leben. Von daher ist es ein wenig Schade, dass sich Johannes Willms nur vergleichsweise knapp mit der literarischen Produktion Stendhals auseinandersetzt, zum Ausgleich aber sehr ausführlich mit dessen narzisstischer Veranlagung.

Johannes Willms: Stendhal. München: Hanser, 2010. Pappband, 333 Seiten. 24,90 €.

Shel Silverstein: Lafcadio

978-3-596-85140-9Ein Kinderbuch, das beinahe so alt ist wie ich und das es bereits 1987 einmal auf Deutsch gab. Dann wurde es 2004 von Fischer in seiner »Schatzinsel« noch einmal aufgelegt und hätte es verdient, viel bekannter zu sein. Shel Silverstein erzählt die Geschichte eines jungen Löwen, der nicht wie alle seine Artgenossen vor den Jägern wegläuft, sondern einem von ihnen kurzerhand das Gewehr abnimmt und ihn frisst. Mit dem Gewehr bildet er sich selbst zum Scharfschützen aus und wird daraufhin von einem Zirkusdirektor angeworben und mit dem Versprechen, ihn mit Marshmallows zu füttern, in die Stadt gelockt.

Dort bekommt der Löwe den Namen »Der große Lafcadio« und wird berühmt und ein echter Salonlöwe. Seine Einführung in die gute Gesellschaft verdankt er der zufälligen Begegnung mit dem Erzähler Onkel Shelby, der sein erster und bester Freund wird. Natürlich erweist es sich, dass das Leben in menschlicher Gesellschaft auch einen Löwen auf Dauer nicht glücklich macht. Da kommt es gerade recht, dass der Direktor einen Jagdausflug nach Afrika vorschlägt …

Shel Silverstein: Lafcadio. Ein Löwe schießt zurück. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 112 Seiten (unnummeriert) mit zahlreichen, schwarz-weißen Illustrationen. 11,90 €.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise …

978-3-86971-014-3 … durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick

Ganz selten hat man heute noch das Vergnügen, ein solches Büchlein in die Hand zu bekommen: Flexibler, bedruckter Leineneinband, abgerundete Ecken, Lesebändchen, exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen, ein informatives, illustriertes Nachwort. Wenn das Bändchen auch noch fadengeheftet wäre, wäre es vollkommen.

Michael Walter hat seiner ambitionierten Übersetzung des »Tristram Shandy« nun auch eine Übertragung von Sternes zweitem Roman an die Seite gestellt. Leider sind von der »Empfindsamen Reise« nur zwei Bände fertig geworden, bevor Sterne 1768 starb. Und so bleibt der empfindsame Ich-Erzähler Yorick, den der Leser bereits aus dem »Tristram Shandy« kennen konnte, nördlich von Lyon in einem Gasthaus stecken und erreicht nie das im Titel angekündigte Italien.

Das Büchlein war ein beinahe noch größerer Erfolg als der »Tristram Shandy« und besonders in Deutschland einflussreich, da von ihm eine kleine Literaturepoche, die Empfindsamkeit, angeregt wurde. Das Wörtchen »empfindsam« wurde übrigens von Lessing zur Übersetzung des englischen Neologismus »sentimental« erfunden; wer mehr dazu und zu der Geschichte der deutschen Übersetzungen erfahren möchte, lese das wohlgeratene Nachwort.

Auch bei dieser Sterne-Übersetzung wird betont, die Waltersche Neuübersetzung mache die erotische Unterfütterung des Textes deutlicher als alle vorangehenden. Das soll hier nicht bestritten werden, nur möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor die sexuellen Beiklänge hier weit gemäßigter gehandhabt hat als in einigen Passagen des »Tristram Shandy«. An dieser Neuübersetzung scheint mir weit interessanter zu sein, wie souverän Michael Walter den Sterneschen Stil insgesamt nachzubilden versteht und dabei einen skurrilen und durch und durch originellen deutschen Text erschafft, der in keinem Moment vergessen lässt, dass wir hier ein Buch vor uns haben, das bereits im 18. Jahrhundert aus der Masse des literarischen Marktes herausgeragt hat.

Wer zuvor noch nichts von Sterne gelesen hat, sei ein wenig vorgewarnt: Es braucht einige Seiten, bis man sich eingelesen hat. Man bringe etwas Geduld mit, denn man wird reichlich dafür belohnt.

Dieses Bändchen ist sicherlich eines der Bücher des Jahres 2010, auch wenn das Jahr noch recht jung ist.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2010. Flexibler, bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 359 Seiten. 24,95 €.

»Zettel’s Traum« lesen

Zur Herbstmesse wird als Abschluss der IV. Werkgruppe der Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts die gesetzte Neuausgabe von »Zettel’s Traum« erscheinen. Ich habe mir vorgenommen, das Buch in dieser Neuausgabe zum dritten und wohl letzten Mal zu lesen. Ich werde diese Lektüre mit einem Blog begleiten, das seit vorgestern online ist. Einige einleitende Gedanken und Vorabmeldungen sind dort bereits zu finden. Die Seite wird bis zum Herbst langsam wachsen; es lohnt sich also vielleicht, dort von Zeit zu Zeit vorbeizuschauen.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen

Populäre, oberflächlich bleibende Biografie Luises von Preußen als »Königin der Herzen«, wie sie der Untertitel bezeichnet. Der Ausdruck wurde übrigens von August Wilhelm Schlegel in einem Gedicht anlässlich der Berliner Huldigungsfeier für Friedrich III. geprägt. Die Biografie dokumentiert umfangreich die Kleidung der Prinzessin und späteren Königin, auch erfährt man viel über die Inneneinrichtung der von ihr bewohnten Schlösser. Darüber hinaus ist zu lesen, dass Ende des 18. Jahrhunderts »außerhalb der Stadt [Berlin] ländliche Gegenden« lagen (S. 95) und »im Inneren der Stadtmauern […] etwa 170 000 Menschen« lebten (S. 96). Ähnlich überraschend dürfte sein, dass Friedrich Wilhelm II. »eine enge Beziehung mit seiner langjährigen Mätresse« (S. 91) hatte. Überhaupt die Sexualität im 18. Jahrhundert:

Was sich hinter den geschlossenen Türen vollzog, darüber schweigen sich die Quellen aus. Angesichts des Fehlens einer sexuellen Erziehung muss man sich, auch wenn die Prinzen eventuell Erfahrungen mit Mätressen haben konnten, wohl eher ungelenke Versuche vorstellen. Doch erst durch den «Vollzug» galt die Eheschließung als unauflöslich. Abgesehen davon musste sich so bald wie möglich Nachwuchs einstellen, denn das war ja der Hauptzweck der Heirat. Lassen wir also Luise und Friedrich Wilhelm in diesem Moment allein. Ob ihre Hochzeitsnacht schüchtern oder stürmisch, innig oder kühl, albern oder ehrfürchtig war, das kann kein Historiker wissen. Denn auch wenn die Urtriebe des Menschen bleiben, die Masken des Begehrens ändern sich mit den Jahrhunderten. Tatsache ist allerdings, dass kaum zehn Monate nach der Hochzeitsnacht das erste Kind des Kronprinzenpaares zur Welt kam. [S. 85]

Oh goldene Zeiten, in denen sich die Quellen noch ausschwiegen! Und noch andere intime Tätigkeiten gab es:

Auch wenn aufwändige Staatsakte unweigerlich zum Königsein gehörten, war das eigentliche Regieren eine zurückgezogene, ja nahezu geheime Tätigkeit. Selbst Luise dürfte ihren Schwiegervater wohl nie dabei beobachtet haben. Der König hatte keinen dauerhaften Arbeitsplatz, sondern er regierte immer in der Residenz, wo er sich gerade aufhielt. [S. 89]

Man denke: Obwohl der Schwiegerkönig immer in all den Residenzen herumregierte, durfte selbst Luise nie dabei zusehen! Potztausend! Möglicherweise hat sie auch sonst nicht bei allem dabei sein dürfen?

Es ist doch bedauerlich, dass ein Verlag wie C. H. Beck anlässlich des 200. Todestages der Luise von Preußen nichts besseres als diesen Schmonzes auf den Markt zu bringen versteht.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen. Königin der Herzen. München: C. H. Beck, 2010. Leinen, 286 Seiten mit gut 30 Abbildungen. 19,95 €.

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand

978-3-458-17452-3 Worauf man sich wahrscheinlich mit den meisten ernsthaften Shakespeare-Lesern würde einigen können, ist, dass uns die Person des Stratforder Kaufmanns, der angeblich der Autor von Shakespeares Werken sein soll, nicht wirklich überzeugt. Andererseits werden die meisten im selben Atemzug einwenden, dass es um die anderen Kandidaten nicht so sehr viel besser bestellt ist.

Allerdings wird seit etwa 90 Jahren ein möglicher Autor von Shakespeares Werken diskutiert, der alle Eigenschaften in sich vereint, die uns notwendig erscheinen, um das Genie Shakespeares zu erklären: Er ist Adeliger und Höfling, er hat eine breite höhere Bildung genossen, er hat Frankreich und – was wichtiger ist – Italien bereist, in seiner Bibliothek fanden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit all jene Bücher, die Shakespeare gelesen haben sollte etc. pp. Es handelt sich um Edward de Vere, den 17. Earl of Oxford, geboren 1550, gestorben 1604, Lebemann, Frauenheld, stets tief verschuldet, lange Zeit in London und am Hofe Elizabeth I. lebend und nachweislich Autor diverser Gedichte, die er unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte. Auch war er fraglos der Theaterwelt seiner Zeit verbunden – nur, ob er der Autor von Shakespeares Werken war, scheint fraglich.

Kurt Kreiler, der sich seit längerem darum bemüht, den Autor Edward de Vere dem deutschen Publikum nahe zu bringen, hat nun die erste umfangreiche deutschsprachige Biografie über ihn vorgelegt. Das Buch muss in zweierlei Hinsichten betrachtet werden: Zum einen als Biografie eines elisabethanischen Autors, zum anderen als Kampfschrift zur Shakespeare-Frage. Was die biografische Seite angeht, so ist Kreiler zu attestieren, dass er ein beeindruckender Kenner des Lebens und der Lebensumstände de Veres ist. Wie auch im Falle des Stratforder Shakespeares ist die Quellenlage gemessen an heutigen Vorstellungen eher dünn. So greift auch Kreiler zu dem üblichen Trick der Biografen, fehlende persönliche Details durch allgemeine Historie zu ersetzen. Dabei wird unvermeidlich vieles erzählt, was man eventuell bereits anderswo gelesen hat. Andererseits finden sich bei Kreiler auch immer wieder interessante Einzelheiten. Nur als Biografie betrachtet ist das Buch verdienstvoll und lesenswert.

Natürlich würden sich nur sehr wenige Leser für Edward de Vere interessieren, wenn nicht die These im Raum stünde, er habe Shakespeares Werke verfasst. Kreiler vertritt diese These geschickt, indem er deutlich macht, dass der Autor der »italienischen Stücke« seine Kenntnisse nicht aus einer auch noch so breiten Lektüre gewonnen haben kann, sondern höchstwahrscheinlich Italien bereist haben muss. Da sich eine solche Reise nicht in das Leben des Stratforder Kaufmanns hinein konstruieren lässt, erscheint er schlicht als unzureichende Persönlichkeit. De Vere dagegen hat die Vorzüge, die wir Shakespeare zuschreiben möchten: Er hat Italien selbst besucht, kennt die meisten Orte, an denen die Stücke spielen, aus eigener Anschauung, könnte all jene Kenntnisse, die Shakespeare nicht aus den Büchern seiner Zeit hätte extrahieren können, vor Ort in sich aufgenommen haben usw.

Das Bild ist verführerisch, nur ist es eben ein Bild und kein Beweis und sei es nur einer mittels Indizien. Denn leider ist die uns suggerierte Alternative zwischen einem Stratforder Stubenhocker einer- und einem weltmännischen Earl andererseits künstlich. Warum sollte ein Shakespeare allein auf Lektüre angewiesen sein, um die entsprechenden Kenntnisse zu erwerben? Was hinderte ihn daran, sich mit Italienreisenden, wenn nicht sogar mit Italienern selbst zu unterhalten? Das Problem der Shakespeare-Frage besteht nicht darin, den Unbekannten aus Stratford durch einen attraktiveren Autor zu ersetzen, sondern darin, dass wir über die Person Shakespeares und seine Arbeitsweise kaum konkretes, durch Quellen belegtes Wissen haben. Daher kann jeder das Bild malen, das zu seiner eigenen Theorie am besten passt.

So verweist Kreiler etwa auf das Stück The Jew, das bereits 1579 von Stephen Gosson erwähnt wird. Kreiler schreibt:

Gossons Beschreibung läßt aufhorchen: »Es handelt von der Gier derer, die Weltliches wählen, und von der blutdürstigen Gesinnung der Wucherer.« […]

Kein Zweifel: Gosson bezieht sich mit dem Wort »the greedinesse of wordly chusers« auf die Kästchen-Szene und mit »bloody minders of Usurers« auf die blutdürstige Gesinnung Shylocks in The merchant of Venice. [S. 214]

Kein Zweifel? Gleich im nächsten Absatz formuliert Kreiler selbst den ersten Zweifel, in dem er einräumt, es könne zu Shakespeares Der Kaufmann von Venedig ein Vorläufer-Stück gegeben haben, auf das sich Gosson bezieht und von dem das Shakespeare-Stück eine Bearbeitung darstellt. Das wäre zu Shakespeares Zeit kein ungewöhnliches Vorgehen und ist auch schon für andere Stücke unterstellt worden. Und geht es denn bei Shakespeare tatsächlich um das, was Gosson behauptet oder ist dessen Beschreibung nicht eher sehr oberflächlich? Und stammt diese Oberflächlichkeit daher, dass Gosson das Stück nur unvollständig verstanden hat oder gar nur vom Hörensagen her kannte, oder daran, dass es sich eben nicht um Shakespeares Stück handelt, sondern nur um eine uns nicht überlieferte Vorlage? Kein Zweifel? Ich wenigstens habe da noch erhebliche, ganz zu schweigen von Kreilers im Anschluss vorgenommener sogenannter Datierung von Shakespeares Stück, in der er ohne weiteres Portia mit Elizabeth I. gleichsetzt, um anschließend einfach Portias Freier mit denen Elizabeth’ zu identifizieren. Da wird der »neapolitanische Prinz« des Stücks als Don Juan d’Austria identifiziert, da der sich als Admiral in Neapel aufgehalten habe, was an sich schon fabelhaft genug wäre, was aber völlig unsinnig wird (und Kreiler weiß dies auch), wenn man sich Don Juan d’Austria als Bewerber um die Hand der Königin vorstellen soll. Derartige Holzwege der Spekulation sind leider typisch für alle Alternativtheorien und eben auch für Kreilers Buch.

Dass man mich richtig versteht: Edward de Vere ist eindeutig der beste Kandidat, der bislang als Autor für Shakespeares Stücke vorgeschlagen wurde. Er wäre eine sehr elegante und in vielen Einzelheiten passende Lösung der Shakespeare-Frage, so viel eleganter und passender als der Stratforder Kaufmann, dass das allein zu genügen scheint, die These stark zu machen. Nur ist das allein eben noch kein Beweis der Tatsache, sondern höchstens die Grundlage für eine Glaubensgemeinschaft.

Schauen wir uns noch kurz an, was gegen die de-Vere-These spricht und wie Kreiler damit umgeht: Was Kreiler selbstverständlich nicht lösen kann, ist die Frage, warum alle Zeitgenossen de Veres, die wussten, wer sich hinter dem Pseudonym Shakespeare versteckte, geschwiegen haben bzw. sich einzig in Anspielungen ergingen, die nur mit detektivischem Spürsinn zu enträtseln sind. Während man Freunden und Angehörigen de Veres noch als Motiv unterstellen kann, dass sie das für sie Offensichtliche aus Gründen der Standesehre verschwiegen haben, bestand für die Gegner und Feinde de Veres – und solche hatte er hinreichend – keinerlei Grund für eine solche Zurückhaltung. Aber selbst nach de Veres Tod findet sich keine einzige Quelle, die Shakespeare und de Vere eindeutig und klar miteinander identifiziert. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass alle derartigen Quellen verloren gegangen sind – was immer noch wahrscheinlicher ist als die Annahme, sie hätten niemals existiert –, aber glaubhaft ist das nicht. Hier ist der Punkt, wo die de-Vere-These an Verschwörungstheorien grenzt, was eher gegen als für sie spricht. Natürlich kann Kreiler diesen Eindruck nur abzuschwächen versuchen, aufheben kann er ihn nicht.

Das größere Problem stellt aber der Tod de Veres im Jahr 1604 dar. Da die akademische Shakespeare-Forschung ihren Autor noch mindestens acht, wenn nicht gar zehn Jahre nach diesem Datum aktiv sein lässt, muss Kreiler eine weitgehend veränderte Chronologie der Stücke entwickeln. Nach dem Motto »Wo gehobelt wird, fallen Späne« wird dabei einmal mehr Perikles, Fürst von Tyrus für unecht erklärt; Cymbeline und Das Wintermärchen werden aufgrund dünner Indizien deutlich vordatiert. Die eigentliche Crux stellt aber Der Sturm dar: Hier geht die Forschung davon aus, dass das Schiffsunglück zu Anfang des Stücks angeregt wurde von den Berichten über das Scheitern der Sea-Adventurer auf den Bermudas im Jahr 1609. Allgemein wird angenommen, der Autor des Stückes habe neben zwei Buchveröffentlichungen aus dem Jahr 1610 auch einen Brief gekannt, der 1610 geschrieben, aber erst 1625 abgedruckt wurde. Kreiler wendet ein, dass zum einen auch andere Quellen die entsprechende Vorlage geliefert haben könnten und dass zum anderen Der Sturm bereits 1605 in Eastward Ho! parodiert worden sei. Das alles geschieht auf einer halben Seite (vgl. S. 548).

Ein wenig mehr erwarte ich hier schon: Zumindest müsste man mir vorführen, was die früheren Deuter an Übereinstimmungen zwischen dem Stück und den Vorlagen (von denen Kreiler selbst nur eine erwähnt) gefunden haben bzw. nicht gefunden haben. Und auch die angebliche Parodie hätte ich gerne vorgeführt bekommen, anstatt mich mit der blanken Behauptung bescheiden zu müssen. Nicht, dass ich ohne Augenschein anderen Forschern von Haus aus mehr glauben würde als Kreiler; ihm glaube ich aber eben auch nicht.

Alles in allem ein interessantes und über Strecken informatives Buch, das die Vorteile der ohnehin starken Theorie der Autorenschaft de Veres an Shakespeares Werken deutlich herausarbeitet, aber aufgrund des unvermeidlich spekulativ bleibenden Ansatzes auch nicht über den Status einer Glaubensfrage hinausheben kann. Die Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die These bleibt insgesamt dünn, was den Verdacht erregt, Kreiler habe keine schlafenden Hunde wecken wollen. Meine Position zur Shakespeare-Frage wurde durch die Lektüre nicht verändert: Es wäre nett, wenn sich die Autorenschaft de Veres nachweisen ließe, doch bis auf weiteres sollten wir annehmen, dass die Werke Shakespeares weder von ihm noch von dem Stratforder Kaufmann geschrieben wurden, sondern von einem Mann, der ungefähr zur selben Zeit lebte und Shakespeare hieß, über den wir aber sonst gar nichts wissen.

Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand. Edward de Vere, Earl of Oxford. Frankfurt/M.: Insel, 2009. Pappband, 595 Seiten. 29,80 €.

Ferdinand von Schirach: Verbrechen

978-3-492-05362-4 Stilistisch erstaunlicher Erstling. Der Band enthält elf kurze Kriminalerzählungen, die in einem markanten, lakonischen und sehr präzisen Stil erzählt sind. Nicht alle Erzählungen können die Stilhöhe halten, aber die besten zeigen einen abgeklärten Erzähler, der keinen Satz zu viel gebraucht. Alle sind aus der Ich-Perspektive eines Strafverteidigers heraus erzählt, wobei die Schilderung der Fälle in einer weitgehend auktorialen Perspektive geschieht, die die deutliche Distanz des Erzählers zum Geschehen noch weiter erhöht.

Die meisten Erzählungen scheinen mir zudem auch stofflich originell zu sein, wobei ich als Nicht-Krimileser zugestehen muss, das nicht gut beurteilen zu können; mich jedenfalls haben die meisten überrascht. Auch die kurzen Darstellungen exzessiver Gewalt haben mich wahrscheinlich mehr berührt, als dies dem abgeklärten Krimileser passieren wird.

Ein bisschen ärgerlich fand ich die Verlagswerbung, die penetrant auf die Wahrheit der geschilderten Fälle abhebt. Das Buch selbst ist zum Glück deutlich intelligenter als diese Sensationsmache: Es schließt mit dem schönen Satz René Magrittes »Ceci n’est pas une pomme.«

Ferdinand von Schirach: Verbrechen. München: Piper, 2009. Pappband, Lesebändchen, 208 Seiten. 16,95 €.