Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt

sidebottom_krieg Eine interessante kleine Studie, wenn mich auch der Titel zuerst ein wenig in die Irre geleitet hat. Das Buch beschäftigt sich mit dem »Krieg in der antiken Welt« selbst eher unsystematisch; in der Hauptsache handelt es vom ideologischen Konzept der »abendländischen Art der Kriegführung«. Dies soll nicht bedeuten, das Buch sei nicht informativ; das Gegenteil ist der Fall. Nur wird die Darstellung der antiken Sachverhalte nicht in einer vermeintlich objektiven und neutralen Art und Weise versucht, sondern sie werden stets durch eine spezifische Interpretation dieser Sachverhalte vermittelt. Diese Interpretationen können sowohl der Antike selbst als auch der neueren Geschichtsschreibung entstammen. Dabei ist Sidebottom nicht kleinlich, was die Art der »Geschichtsschreibung« angeht: An gleich drei Stellen ist Ridley Scotts Film »Gladiator« Auslöser seiner Ausführungen.

Hat man sich einmal auf den ideologiekritischen Ansatz des Autors eingelassen, so liefert das Buch zahlreiche interessante Aspekte des antiken Kriegswesens. Die Mehrzahl der Beispiele entstammt der griechischen und römischen Antike; Perser, Germanen, Gallier etc. kommen nur insoweit vor, als sie Gegner der Griechen oder Römer waren und damit zugleich auch ihr ideologisches Gegenbild darstellten. Behandelt werden sowohl der Krieg als Aspekt der griechischen und römischen Gesellschaften, als Teil ihres Selbstverständnisses, aber auch der konkrete Aufbau der Armeen, ihre Kampftechniken, Probleme der Logistik und der Ökonomie.

Insgesamt eine lesenswerte und anregende Einführung in das Thema mit einem anspruchsvollen Ansatz, die aber die Erwartungen historischer Laien wohl nur teilweise erfüllen wird.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Florian Himmler. RUB 18484. Stuttgart: Reclam, 2008. 224 Seiten. € 5,60.

Allen Lesern ins Stammbuch (21)

So ergeht es uns nicht anders als jenem abessinischen Eingeborenen, der einen wichtigen Mythos nicht mehr wußte und sich deshalb nicht erklären konnte, weshalb er zu so verschiedenartigen Anlässen ein Stück Butter auf dem Kopf trug. »Unsere Vorfahren kannten den Sinn der Dinge, aber wir haben ihn vergessen.«

Wir kennen den Sinn der unzähligen Überbleibsel, in denen wir uns ausdrücken, noch sehr viel weniger. Das allermeiste ist uns Butter auf dem Kopf. Und kein Mythos, kein Romanwerk wird es uns je wieder erklären. Dennoch liegt, nach wie vor, die Technologie der Wiederaufbereitung verbrauchten symbolischen Wissens, das recycling des Bedeutungsabfalls in den Händen einiger ungeschickter Leute, Dichter! Wenige Leute, sie werden es alleine kaum schaffen.

Botho Strauß
Die Widmung

Zwei neue Conrad-Biografien

Im Conrad-Jahr 2007 (am 3. Dezember war der 150. Geburtstag) sind zwei neue, umfangreiche Biographien zu Joseph Conrad erschienen:

  • John Stape: Im Spiegel der See. Die Leben des Joseph Conrad.
  • Elmar Schenkel: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad.

stape_conradJohn Stapes Im Spiegel der See liefert eine Biografie im klassischen Sinne, ja, er betont sogar gleich im Vorwort, dass er sich mit den Schriften Conrads nur in biografischer, nicht in literaturwissenschaftlicher Hinsicht beschäftigen wird. Außerdem betont er, sein Ziel sei Kürze gewesen. Das überrascht auf den ersten Blick, da das Buch immerhin mehr als 540 Seiten hat und über Conrad so viel eigentlich nicht bekannt ist. Nun sollte man nicht erwarten, dass Stape den Forschungsstand zu Conrad wesentlich erweitert. Stattdessen finden sich häufig Passagen wie diese:

Mademoiselle Renouf mag eine herzlose coquette gewesen sein, oder einfach eine Frau, die versuchte, einer arrangierten Ehe aus dem Weg zu gehen. Vielleicht war der Flirt auch weitgehend einseitig, oder Conrad hatte einfach spontan gehandelt. Vermutlich hat er davon geträumt, sich mit Eugénie Renouf in Australien oder auf Mauritius niederzulassen, doch darüber gibt es keine Aufzeichnungen.

Kurz zusammengefasst: Wir wissen nichts darüber, warum die bereits verlobte Eugénie Renouf sich auf die Werbung Conrads eingelassen hat oder warum Conrad nichts von dem schon bestehenden Eheversprechen wusste. Aber natürlich kann man ganz allgemein darüber spekulieren und auf diese Weise einen Absatz füllen. Dabei muss man Stape zugestehen, dass er zwischen dem, was sich belegen lässt, und dem, was sich die Conrad-Forschung so mit der Zeit zusammenphantasiert hat, immer deutlich trennt. Da die Spekulationen aber mit den Jahren den dünnen faktischen Gehalt überwuchert haben, hat der Leser einige Mühe, die wenigen harten Fakten aus dem allgemein vorherrschenden »Es könnte sein« herauszufiltern.

Auch enthält Stapes Buch immer wieder gänzlich wirre Abschnitte:

Conrad schnappte ein paar Brocken Handelsmalaiisch auf, pasar Melayu, einen Grundstock an Wendungen, die ihm Nahrung, Schutz und Transport sicherten, dazu ein paar nautische Begriffe. Er lernte das Verhalten und Denken dieses Volks genauer kennen, auch wenn er überwiegend Kontakt mit dessen raueren Vertretern hatte, den Seemännern, mit denen er fuhr. Hugh Clifford, ein Kolonialbeamter und Schriftsteller, mit dem sich Conrad anfreundete, nachdem seine ersten Romane erschienen waren, kritisierte, dass Conrad «von den Malaien nicht die geringste Ahnung» habe. Das räumte dieser auch bereitwillig ein. Sein Interesse war kein anthropologisches. Wie seine Schriften zeigen, war er von dem, was er sah, tief bewegt.

So etwas ist Geschwätz ohne Hand und Fuß, und es ist einfach ärgerlich, solch einen Unsinn aufgetischt zu bekommen.

Hervorzuheben ist aber die schöne Ausstattung des Bandes: Zwar ist er nicht fadengeheftet, verfügt aber über eine leserfreundliche, elegante Typographie und ein schön gestaltetes Vorsatzpapier.

schenkel_conrad Deutlich angenehmer liest sich Elmar Schenkels Fahrt ins Geheimnis. Schenkel verzichtet auf den Versuch, eine chronologisch konsequente Biographie Conrads zu liefern.  Statt dessen kreisen die einzelnen Kapitel jeweils um einen thematischen Schwerpunkt: ein biographische Ereignis, ein literarisches Motiv, eine Reise, eine Person oder ein Werk. Diese Form ist nicht immer streng durchgehalten; so geht etwa das Kapitel über Conrads Beschäftigung mit Napoleon über in eine Betrachtung zu Conrads Geburtsort, Balzac (der dort geheiratet hat) und die Polnischen Teilungen. Aber darüber lässt sich hinwegsehen.

Insgesamt erscheint die Auswahl der Themenschwerpunkte gut und ausgewogen. Auch Schenkels Darstellung leidet natürlich unter dem Mangel an konkreten Lebensdaten für bestimmte Phasen in Conrads Biographie, was bei ihm aber nicht so auffällig wird wie bei Stape, da er nicht der Chronologie verpflichtet ist. Auf der anderen Seite wird es Lesern, die Conrads Leben nicht wenigstens in den Grundzügen kennen, schwer fallen, sich ein einigermaßen geschlossenes Bild zu erarbeiten. Für sie gibt es am Ende des Bandes zwar eine 15-seitige Chronik, die eine traditionelle Biografie aber nicht wirklich ersetzen kann. So ist zu befürchten, dass dieses Buch Einsteiger eher enttäuscht zurücklassen wird. Ihnen wäre zu empfehlen, zuvor zumindest eine Kurzbiographie wie etwa die von Renate Wiggershaus aus der Reihe »dtv portrait« zu lesen.

John Stape: Im Spiegel der See. Die Leben des Joseph Conrad. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Hamburg: marebuchverlag, 2007. Pappband, Lesebändchen, 543 Seiten. 39,90 €.

Elmar Schenkel: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 368 Seiten. 24,90 €.

Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo

schury-busch Der Aufbau-Verlag legt zum Busch-Jahr eine umfangreiche neue Biografie des Malers, Dichters und Zeichners vor. Alles in allem ist das Buch recht gelungen, allerdings liefert das Buch für Leser früherer Biografien (z. B. der von Gert Ueding) keine wirklichen Überraschungen oder neue Einsichten. Im Gegenteil werden die dort gewonnenen Erkenntnisse oft in einem plaudernden Ton verwässert und popularisiert, so dass das Gesamtbild eher an Schärfe verliert. Dies wird aber wahrscheinlich nur die Germanisten unter den Lesern stören.

Das Buch ist durch eine abwechselnde Kapitelfolge strukturiert: Auf ein chronologisches Kapitel, das dem Lebensweg Buschs folgt, folgt immer ein eher thematisch gewichtetes Kapitel usw. Dieser grundsätzlich zu begrüßende Einfall wird zudem nicht pedantisch gehandhabt, so dass ein lockerer, gut lesbarer Text entstanden ist. Schurys Darstellung zeichnet sich dabei durch ihre unübersehbare Begeisterung für Busch aus, wenn sie auch nicht geneigt ist, Buschs grundlegend pessimistischer Weltsicht beizutreten. Einerseits ist diese Begeisterung sicherlich erfrischend, andererseits tendiert die Darstellung ein wenig zur Breite; eine Kürzung hätte vielen Kapiteln und dem Buch insgesamt sicherlich gut getan.

Hervorzuheben sind fraglos die Kapitel zur Arbeitsweise Buschs bei der Erstellung der Bildergeschichten und diejenigen zum »alten« Busch, der zuerst das Zeichnen, dann das Malen und schließlich auch das Dichten gänzlich einstellt. Man wünschte man sich aber, etwas mehr über den noch vorhandenen Bestand an Gemälden Buschs zu erfahren, nachdem man gelesen hat, dass Busch wohl mit einiger Regelmäßigkeit unter seinen späten Bildern Autodafés abgehalten hat.

Busch wird von Schury nicht nur, aber auch gemäß seinem Selbst­ver­ständ­nis dargestellt, nach dem er ein gescheiterter Künstler war: Seine Ambitionen, sich als Maler zu etablieren, kamen über die Anerkennung im Kollegenkreis nie wesentlich hinaus, und auch der Versuch, als ernsthafter Dichter aufzutreten, muss als aus guten Gründen gescheitert angesehen werden. Busch hat dieses Missverhältnis seines Ruhms lange geschmerzt, dass er für Werke berühmt und geliebt war, die er selbst nicht für voll nehmen konnte und wollte, die ihm höchstens als Nebenarbeiten galten. So hat sein Interesse an weiteren  Bil­der­ge­schich­ten schon früh nachgelassen, und nach Maler Klecksel (1884) sind sie nicht über erste Notizen und Entwürfe hinausgekommen. Schury betont zu Recht, dass es nicht jedem geben sei, Wiederholung und Selbstkopie zu vermeiden. Überhaupt gewinnt man mehr und mehr Respekt vor Buschs Fähigkeit, sich von Ruhm und finanziellem Erfolg nicht blenden zu lassen. Er hat von seiner Zeit und seinen Zeitgenossen alles in allem wenig gehalten, und seinen Erfolg bei ihnen sah er viel eher als eine Bestätigung denn als eine Widerlegung dieser Sichtweise an. Auch in diesem Sinne gehört Busch in die Reihe der großen Pessimisten des 19. Jahrhunderts.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, bedruckter Vorsatz, 16 Farbtafeln u. zahlreiche Abbildungen, Lesebändchen, 412 Seiten. 24,95 €.

Jesu sahniger Same

sananda_galilaa 1. Es ist nicht einfach, dieses Buch richtig einzuordnen: Die Gattungsbezeichnung „Biographie“ im Untertitel „Die Biographie Jesu“ könnte einen verleiten, es für einen nicht fiktionalen Text zu halten. Auch die Webseite des Verlages legt unter der Überschrift „Wie dieses Buch entstand“ nahe, dass es der Autor für eine Schilderung von Tatsachen hält. In diesem Fall wäre das Buch nicht zu rezensieren, da es dann kein Artefakt wäre, sondern Symptom für eine Psychose des Autors. Statt einer Rezension sollte daher die Empfehlung gegeben werden, dass sich der Autor rasch in fachkundige Behandlung begibt. Sowas kann böse enden, wenn man das schleifen lässt.

2. Gehen wir aber davon aus, dass der Autor nur ein wenig Schwierigkeiten mit dem Konzept der Fiktionalität hat, so behauptet die Einführung des Buches, dass einem Erzähler, der zufällig denselben Namen trägt wie sein Autor, im Rahmen eines therapeutischen Verfahrens Erzählungen zahlreicher wiedergeborener Seelen zugänglich wurden, die alle unmittelbar mit Jesus von Nazareth zu tun hatten. Das Buch erzählt anschließend die Lebensgeschichte Jesu aus den wechselnden Perspektiven dieser Seelen. Geschrieben ist das Buch in etwas, das der Autor wohl für einen Stil hält. Und das sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass Nebensätze mit einem Punkt abgetrennt werden. Was im Deutschen eher unüblich ist.

Die Erzählung steht inhaltlich in eklatantem Widerspruch zu den ältesten vorliegenden Quellen zum Leben Jesu und deutet den spirituellen Gehalt dieser Quellen grundlegend um. Jesus ist ein Mensch, von Menschen gezeugt und von Menschen – scheinbar – getötet. Er überlebt die Kreuzigung, weil ihm der Apostel Markus im legendären Essig-Schwamm ein Gift verabreicht hat, das ein vorzeitiges Ableben simulierte. Nach der Auferstehung reist Jesus nach Zypern und von dort aus nach Samarkand, wo er noch rasch ein paar Buddhisten den Buddhismus erklärt, bevor seine Seele in die Arme des Herrn zurückkehrt.

Insoweit ist das Buch unerheblich, da es den spirituellen Gehalt der christlichen Legende weitgehend ignoriert und verflacht. Der Autor wäre wahrscheinlich besser beraten gewesen, seine Geschichte frei zu erfinden, wäre dann allerdings Gefahr gelaufen, dass der Leser sie rasch als so unerheblich durchschaut hätte, wie sie ist. Da ist es dann schon cleverer, sie der Legende von Jesus aufzupfropfen, was nicht zuletzt durch die Tatsache bewiesen wird, dass ich das Buch hier bespreche.

Herzlich gelacht habe ich nur an zwei Stellen: Eine wurde im Titel oben schon paraphrasiert. Während nämlich Maria Magdalena als erfahrene Gunstgewerblerin Jesus in verschiedene Sexualpraktiken einweist, findet sich bei der Lektion zum Oralsex auch Gelegenheit, die Qualität des Samens des Heilands positiv zu vermerken:

Schließlich konnte er es nicht mehr halten. Und kam in meinen Mund. Sein Samen war sahnig und fein.

Na, wenn das kein Abendmahl ist! Die andere überaus spaßhafte Bemerkung entschlüpft dem Autor, als Jesus nach der Auferstehung gern etwas zu trinken hätte:

»Liebste.«, sagte er heiser. »Ich habe Durst.«
In der Nacht hatten uns Josephs Leute versorgt. Ich sah am Eingang des Grabes Krüge stehen. Und Tonbecher. »Ich habe Wein.«
»Dann gib mir bitte Wein. Unvermischt. Ich hatte einen schlechten Tag. Und einen noch schlechteren Morgen.«

„Liebling, bin wieder da! Hast Du einen Wein für mich? Ich hatte heute einen echt schweren Tag am Kreuz!“ – So lieben wir unsere Götter!

3. Der Grund, warum ich das Buch überhaupt rezensieren wollte, war, dass es als Sachbuch beworben wurde, in dem es um die Datierung der Geburt von Jesus von Nazareth gehe. Dazu ist das Buch allerdings unergiebig. Nur eine Fußnote gibt trocken und ohne weitere Erklärungen folgende Daten:

Die Geburt fand am 9. Feb. 15 n. d. Zw. um 15:26 Uhr Ortszeit statt.
Sechs Tage später, also am 14. Feb., stand Mars genau zwischen Jupiter und Saturn.

Sehen wir davon ab, dass der 14. nicht sechs, sondern fünf Tage nach dem 9. liegt: Angehängt ist diese Fußnote an einen Satz, der dem gerade geborenen Jesuskind zugeschrieben wird: „Durch die Tür sah ich Mars, wie er rückwärts zwischen Saturn und Jupiter lief.“ Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass sich Mars rückläufig am Himmel bewegt haben soll. Die Rückläufigkeit von Planeten ist ein optisches Phänomen, das den Astronomen der Antike große Erklärungsschwierigkeiten bereitet hat. Es entsteht dadurch, dass die Erde an einem der oberen Planeten vorbeiläuft und dieser Planet dabei optisch vor der Fixsternsphäre zurückbleibt. Diese Rückläufigkeit ist bei Mars besonders auffällig, da Mars der Erde bei diesem Überholvorgang astronomisch relativ nahe ist und so ein erheblicher optischer Effekt entsteht. Nun kann man leider in einem Blick nicht erfassen, ob ein Planet gerade rückläufig ist, sondern kann dies nur aus Beobachtungen an mehreren Tagen oder wenigstens zu verschiedenen Stunden erkennen.

Nun wäre Jesus nicht Jesus, wenn er nicht – und das kurz nach seiner Geburt, wenn bei normalen Babys das Sehvermögen noch gar nicht so ausgebildet ist, dass sie ein weit entferntes Objekt wie den Mars sehen könnten – sofort erkennte, dass Mars rückläufig ist. Nun wäre Jesus aber leider auch dann nicht Jesus, wenn er sich dabei irrte, und das tut er, zumindest, wenn er – wie der Autor angibt – am 9. Februar 15 geboren sein soll. Denn im Jahr 15 wurde Mars um den 22. Juli herum rückläufig, und sowas geschieht höchstens einmal in einem Jahr. So ein Pech aber auch!

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

Das Jahr 15 ist ansonsten kein origineller Einfall des Autors, sondern eines der bekannten Spekulationsdaten eben aufgrund der erwähnten nahen Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn, die astronomisch selten ist und für astrologisch bedeutsam gehalten wurde und wird. Da die Amtszeit des Pontius Pilatus aus anderer Quelle gesichert ist, muss Sananda seinen Jesus spätestens am Passah-Fest im Jahre 36 kreuzigen lassen, so dass er bei ihm zu diesem Zeitpunkt erst 21 ist. Auch dies ist ein eher ungünstiger Widerspruch zu den biblischen Quellen, die das Wirken Jesu in sein 30. bis 33. Lebensjahr verlegen. Zwischen einem 20- und einem 30-Jährigen werden auch die Apostel recht sicher haben unterscheiden können. Aus diesem Grund steht das Jahr 15 in der biographischen Forschung zu Jesus von Nazareth auch kaum ernsthaft zur Debatte.

Aber Schwamm drüber! Reden wir nicht weiter davon!

Uwe Sananda: Galiläa Zeitenwende. Die Biographie Jesu. Weingarten: Next-Books.de, 2008. Broschur, 184 Seiten. 12,50 €.

(geschrieben für Literaturwelt)

Stendhal: Rot und Schwarz

stendhal-rot Die Neuübersetzung von Elisabeth Edl präsentiert den Roman in weiten Teilen in einer nüchternen, manchmal sogar lakonischen Sprache und hebt sich damit von allen früheren Übersetzungen ab. Vertraut man der Übersetzungskritik im Anhang (S. 724–726), so liegt mit dieser Neuübersetzung erstmals eine dem Original adäquate deutsche Ausgabe vor. Ob dies – unabhängig von der Frage der früheren Übersetzungen – tatsächlich der Fall ist, müssen andere beurteilen, da mir die dafür notwendigen Sprachkenntnisse fehlen. Allerdings macht die Übersetzung insgesamt einen sorgfältigen und ausgewogenen Eindruck. Sie liegt inzwischen auch schon im Taschenbuch bei dtv vor.

Der schon erwähnte Anhang enthält sowohl einen klugen und zur historischen Einordnung des Buches hilfreichen Essay als auch umfangreiche Anmerkungen zu Einzelstellen, die nicht nur sachliche Erläuterungen liefern, sondern in Auszügen auch Stendhals spätere Selbstkritik des Romans dokumentieren. Ich hätte es für die Erst-Lektüre wohl hilfreicher gefunden, wenn man diese beiden Ebenen getrennt hätte; aber das ist eine Kleinigkeit.

Insgesamt kann die Ausgabe zur Erst- oder erneuten Lektüre des Romans unbedingt empfohlen werden. Überhaupt ist er nicht nur an sich ein Lesevergnügen, sondern stellt auch eine wichtige Stufe in der Entwicklung des modernen Romans dar. Julien Sorel ist fraglos ein Vorläufer Frédéric Moreaus, wenn Flaubert auch auf äußerere Dramatik weitgehend verzichtet. Dabei ist Stendhal sowohl gesellschaftlich als auch politisch deutlich reicher als Flaubert, ohne dabei die Psychologie und innere Dynamik seiner Figuren zu vernachlässigen. Um Julien Sorel entsteht ein erstaunlich reiches und detailliertes Bild der französischen Gesellschaft der Restauration am Fuße der Juli-Revolution 1830.

Für alle, die den Roman noch nicht kennen, eine echte Empfehlung, wenn man an der Literatur und/oder an der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts interessiert ist.

Stendhal: Rot und Schwarz. Chronik aus dem 19. Jahrhundert. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2004. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 872 Seiten. 29,90 € (nur für Mitglieder der BG).

Allen Lesern ins Stammbuch (15)

Ach, Monsieur, ein Roman ist ein Spiegel, der eine Landstraße entlangspaziert. Mal spiegelt er das Blau des Himmels wider, mal den Schlamm der Drecklöcher auf der Straße. Und der Mann, der den Spiegel auf seinem Rücken trägt, wird von Ihnen der Unmoral beschuldigt! Sein Spiegel zeigt den Schlamm, und Sie beschuldigen den Spiegel! Beschuldigen Sie lieber die Landstraße mit ihren Drecklöchern oder noch besser den Beamten von der Straßenaufsicht, der zuläßt, daß das Wasser faulig wird und ein Dreckloch entsteht.

Stendhal
Rot und Schwarz

Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein!

stroh-latein Eine kleine Geschichte der lateinischen Sprache von den Anfängen bis in die Gegenwart liefert das Büchlein. Es zielt offensichtlich auf eine breitere Leserschaft ab und ist daher mit seinem saloppen Ton etwas oberflächlich geraten, was aber die Zielgruppe, die von lateinischer Literatur und ihren Autoren nur wenig wissen wird, nicht weiter stören sollte. Mir ist der Enthusiasmus des Autors etwas auf die Nerven gegangen, ebenso wie seine Manier, seine antikommunistische Idiosynkrasie zu thematisieren. Ein neutralerer Ton hätte dem Buch gutgetan: Es ist nicht nötig, einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung ein Internat in Malawi »heimsuchen« zu lassen, ebensowenig den Pädagogen Herbart als »griesgrämig« zu bezeichnen, nur weil er das Argument, Latein schule das Denken, für Unsinn hält. Auch hat sicherlich Karl Marx nicht die Bezeichnung Kommunismus statt Humanismus benutzt, weil er »Angst« hatte, »ein Humanistisches Manifest […] in Latein schreiben zu müssen.« Und ganz sicher ist die Vorherrschaft des Englischen in den modernen Wissenschaften nicht »verheerend«, sondern höchstens bedauerlich oder unangemessen. Hier und an vielen anderen Stellen wäre es angebracht gewesen, wenn der Autor seinen Humor ein wenig die Zügel hätte spüren lassen.

Die historische Darstellung ist durchtränkt von einer fachlich nicht unkomischen Cicero-Begeisterung Strohs, die aber angesichts der Tatsache, dass Cicero heutzutage gewöhnlich als eine Art Schulbuch- Autor angesehen wird, als ausgleichende Ungerechtigkeit begriffen werden kann. Die historische Darstellung legt das Schwergewicht auf die römische Antike und dann wieder auf die Neuzeit. Das lateinische Mittelalter wird etwas summarisch abgehandelt und der Leser dann auf Ernst Robert Curtius’ Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter verwiesen, wo er sich allerdings gehörig umgucken dürfte, falls er hier eine Fortsetzung Strohs erwarten sollte.

Insgesamt ein inhaltlich nicht unproblematisches Buch, das aber als Einstieg ins Thema weitgehend konkurrenzlos dasteht und dem Laien wahrscheinlich nützliche Dienste leisten wird. Wer eine römische Literaturgeschichte sucht, sollte besser zur Geschichte der römischen Literatur von Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1999) greifen.

Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2007. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 415 Seiten. 15,90 € (nur für Mitglieder der BG).