Nur werden bemerkenswerte Entdeckungen und lohnende Einsichten hier durch eine Fülle von Selbstverständlichem und Belanglosem erschwert.
Albrecht Schöne, der das nicht kleine Kunststück fertiggebracht hat, mit einer Faust-Ausgabe zu Feuilleton-Bekanntheit zu gelangen, legt ein neues Goethe-Buch vor. Für Schöne bin ich meinem Vorsatz untreu geworden, keine Goethe-Literatur mehr zu lesen, denn wenn es sich nicht gerade um eine germanistische, hoch spezialisierte Monographie handelt, liest man zu mindestens 80 % das, was man in den 50 Büchern zuvor auch schon gelesen hatte. Schöne allerdings hält, was ich von ihm erwartet habe, denn selbst dort, wo sein Buch langweilig ist, ist es das auf originelle Weise.
Schöne beschäftigt sich mit den Goetheschen Briefen mit einer extremen Pars-pro-toto-Methode: Er wählt aus den nahezu 15.000 bekannten Goethe-Briefen 9 (!) aus, zu denen er dann jeweils einen umfangreichen Kommentar liefert. Die ausgewählten Briefe umspannen das gesamte Leben Goethes: Es beginnt mit einem sehr formalen Aufnahmegesuch des pubertären Goethe in eine Gruppe adeliger Schöngeister und endet mit einem Brief an Wilhelm von Humboldt, den Goethe nur wenige Tage vor seinem Tod abgeschlossen hat.
Besonders die frühen Briefe werden sehr rhetorisch analysiert, was in der Hauptsache daran liegt, dass sie selbst nur wenig Inhalt mitbringen. Das ändert sich naturgemäß später, so dass auch die Kommentierung stärker auf die biographischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Schreiben eingehen kann. Das alles rettet Schöne aber auch in den späteren Briefen nicht davor, Inhalte schlicht noch einmal in eigenen Worten zu paraphrasieren oder den Gebrauch unterschiedlicher grammatikalischer Tempora ausführlich auf ihre Funktion hin zu untersuchen, die jeder nicht gänzlich taube Leser schon beim einfachen Lesen des Briefes wahrnimmt.
Andererseits liefert Schöne hoch interessantes biographisches Material, das man so nicht einfach anderswo wird finden können, so etwa am Beispiel des Briefes an Johann Friedrich Krafft vom 11. Dezember 1778, eines offenbar in Not geratenen Menschen, dem Goethe Lebensunterhalt und Sicherheit vor Verfolgung verschaffen will. Für mich war das Schmuckstück der letzte Brief an Humboldt, in dem es um poetologische und produktionsästhetische Fragen im Zusammenhang mit dem zweiten Teil des „Faust“ geht.
Ergänzt werden die neun Kommentare um drei „Exkurse“ betitelte Anhänge, die die deutschen und speziell Weimarischen Postverhältnisse, Goethes Gewohnheit, Briefe zu diktieren, und zuletzt die von Goethe verwendeten Anredepronomina behandeln. Auch hier spiegelt sich das 2:1-Verhältnis von interessantem Material zu eher langweiliger Stoffhuberei nahezu perfekt wider, das auch sonst im Buch vorherrscht.
Was der Leser nicht erwarten sollte, ist ein struktureller Überblick über die bekannten Briefe Goethes, eine allgemeine Charakteristik Goethes als Briefschreiber, eine einführende Beschreibung in die großen Briefwechsel (Schiller, Zelter, Carl August, Christiane) oder auch nur die Behandlung der wichtigsten Briefe Goethe, wie auch immer man würde herausfunden wollen, welche das sind. Was er erwarten darf, ist eine in weiten Teilen anregende und interessante Lektüre, wie sie für die populärere Goethe-Literatur außergewöhnlich ist.
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, Lesebändchen, 539 Seiten. 29,95 €.