Nun ja, die Wahrheit ist immer eine Sache, aber in gewisser Weise zählt nur das andere, der Klatsch.
Der zweite Band des Raj Quartets, der mit seiner Handlung unmittelbar an die Ereignisse in „Das Juwel in der Krone“ anschließt. Im Mittelpunkt steht diesmal die Familie Layton oder genauer Sarah Layton, die zusammen mit ihrer jüngerern Schwester Susan als Tochter eines englischen Militärs in Nordindien aufgewachsen ist. Bei einer eher beiläufigen Gelegenheit lernt Sarah Lady Manners kennen, die Tante jenes Vergewaltigungsopfers aus dem vorangegangenen Band; außerdem befindet sich unter den Freunden des Verlobten ihrer Schwester jener Ronald Merrick wieder, der als Polizeichef die Ermittlungen im Fall der Vergewaltigung geleitet hatte. Im Mittelpunkt von Sarahs Aufmerksamkeit aber steht die Hochzeit Susans mit Teddie Bingham, einem englischen Captain.
Zu Beginn des Romans aber wird die Verhaftung Mohammed Ali Kasims im August 1942 geschildert. Kasim ist ein führender moslemischer Funktionär der Kongresspartei und ehemaliger Ministerpräsident der Provinz Ranpur. Er wird wie viele andere Führer der Kongresspartei von den Engländern verhaftet in der Hoffnung, man könne auf diese Weise den befürchteten Aufständen ihre Anführer nehmen und sie auf diese Weise schon vor ihrem Ausbruch verhindern. Kasim wird von britischen Gouverneur der Provinz das Angebot gemacht, aus der Kongresspartei aus- und in sein Kabinett einzutreten, um sich auf diese Weise die drohende Haft zu ersparen. Kasim lehnt es aber ab, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen, und geht mit zumindest äußerlich stoischer Haltung in die luxuriöse Einzelhaft, die man ihm zugesteht. Dieser Abschnitt der Erzählung, der über einen der Söhne Kasims, Achmed, eher locker mit der Geschichte der Laytons verknüpft ist, dient Scott dazu, in dem langen Gespräch zwischen Kasim und dem Gouverneur die im ersten Band eher am Rande vorkommenden politischen Hintergründe ausführlicher vorführen zu können.
In einem zweiten Nebenstrang des Romans liefert Scott Material zu dem Fall der Vergewaltigung Daphne Manners nach: Sowohl der ehemalige Polizeichef Merrick als auch der Geliebte Daphnes, Hari Kumar, kommen ausführlich zu Wort und schildern den Fall und seine Umstände aus ihrer jeweiligen Sicht. Hierbei handelt es sich um Material, das eigentlich in den ersten Band gehört, dort aber den Rahmen des Buches gesprengt hätte, ohne etwas Wesentliches zu der Darstellung des Falles beizutragen. Dies bleibt leider auch in diesem zweiten Roman der zentrale Mangel dieses Stoffs: Die erneute Durcharbeitung der Vorgeschichte der Vergewaltigung und die ausführlicher Motivierung der beiden Akteure Merrick und Kumar, die sich beide um die Liebe Daphnes bemüht hatten, bringt nichts Neues: Merrick erweist sich als genau der britische Holzkopf, den man im ersten Band schon in ihm erkennen konnte, und Kumar schafft es nicht, auch nur ein einziges Detail beizusteuern, das einen aufmerksamen Leser des ersten Bandes überraschen würde. Hier wird breitgetreten, was im ersten Band so vorteilhaft auf sich beruhen durfte.
Leider muss ich feststellen, dass sich meine Enttäuschung über „Das Juwel in der Krone“ bei der jetzigen Lektüre nur fortgesetzt hat: Scott ist es nicht gelungen, mich für seine Figuren mehr als beiläufig zu interessieren. Das liegt hauptsächlich daran, dass keine seiner Figuren mehrdimensional oder offen für Entwicklung erscheint. Selbst die beiden differenziertesten Figuren, Ali Kasim und Sarah Layton, ragen nicht über ihre Funktion in der Konstruktion des Textes hinaus. Alles an ihnen ist brav und klug erfunden und dient den Absicht des Autors, aber ihnen wird kein Überschuss mitgegeben, der aus ihnen Personen anstatt nur Figuren werden lässt. Am enttäuschendsten sind dabei Merrick und Kumar, die im ersten Band so etwas wie verhinderte Rivalen waren: Ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und das Missverhältnis der Macht, die Merrick über Kumar auszuüben in der Lage ist, verhindern eine tatsächliche Rivalität. Daphne Manners verliebt sich in Kumar und weist Merrick ab (Kumar gewinnt), Merrick verhaftet Kumar und wirft ihn nach einer in der Sache gänzlich nutzlosen Nacht der Folter ins Gefängnis (Merrick gewinnt). Dieses Missverhältnis kann nirgends und für nichts erzählerisch fruchtbar gemacht werden, was dazu führt, dass sich im zweiten Band diese beiden Figuren auch nicht für einen einzigen Augenblick begegnen können. Ihre beiden Binnenerzählungen müssen unvermittelt nebeneinander stehen bleiben. Das soll nicht als Vorwurf an den Autor verstanden werden, sondern ist nur die Einsicht in die Konsequenzen aus den soziologischen und politischen Bedingungen des Erzählten. Durch die Einsicht in diese Bedingtheit werden aber leider weder die Figuren noch das Erzählte besser.
Ich werde daher die Lektüre des Raj Quartets mit diesem Band abbrechen, da ich nicht die Hoffnung hege, dass die weiteren Bände, die einen ähnlichen Umfang haben, eine Besserung der Lage bringen werden. Die Reihe ist für jemanden, dem die sozialen und politischen Verhältnisse in Indien in den 40-er Jahren nicht oder nur wenig geläufig sind, vielleicht von einigem Interesse; literarisch aber springt sie leider um ein Weniges zu kurz.
Paul Scott: Der Skorpion. Aus dem Englischen von Manfred Ohl u. Hans Sartorius. btb 72128. München: Goldmann, 1997. Broschur, 608 Seiten. Nicht mehr lieferbar.