You could tell by the way that he talked, though, that he had gone to school a long time. That was probably what was wrong with him.
Ich muss gestehen, dass mich dieses Buch sehr spät erreicht hat. Geschrieben in den 1960er-Jahren, erschienen nach langem Widerstand diverser Verlage erst 1980, erhielt es 1981 den Pulitzer-Preis für Fiction und wurde schon 1982 zum ersten Mal und dann 2011 ein weiteres Mal ins Deutsch übersetzt. Dennoch ist mir das Buch bewusst erst letztes Jahr über den Weg gelaufen. In den USA wird es als wegweisendes Buch der sogenannten Southern literature gelesen und steht auf zahlreichen Must-read-Listen. In Deutschland scheint es mir immer noch ein Geheimtipp zu sein; aber da kann ich mich irren.
Erzählt werden einige Wochen aus dem Leben des Ignatius J. Reilly, eines übergewichtigen 30-Jährigen, der in New Orleans im Haus seiner Mutter Irene wohnt, den Kontakt zur Außenwelt so gut wie möglich meidet und sich in exzessiver Kritik des Kinos und Fernsehprogramms übt. Ignatius hat Mediävistik studiert und auch einige Zeit an der Universität unterrichtet, konnte sich aber nicht ins Hochschulsystem einpassen und wurde entlassen. Seitdem liegt er seiner Mutter auf der Tasche.
Erzählanlass ist ein Autounfall, bei dem Ignatius’ entnervte Mutter versehentlich beim Ausparken in ein Gebäude fährt und einen Balkon beschädigt. Der Hauseigentümer verlangt, dass die Reillys ihm den Schaden, gut 1.000 $, ersetzen, und um eine juristische Auseinandersetzung zu vermeiden, stimmt Irene dieser Forderung auch zu. Da aber völlig unklar ist, wie die beiden das Geld auftreiben sollen, bleibt als einziger Ausweg, dass Ignatius in die von ihm gehasste Welt zieht und sich Arbeit sucht. Er nimmt zuerst eine Stellung im Büro einer Hosen-Fabrik an, wobei er seinen Vorgesetzten über seine wahre Archivierungs-Methode hinwegtäuscht, die schlicht im Wegwerfen der ihm zur Ablage übergebenen Akten besteht, um schließlich unter den Arbeitern der Fabrik eine Art von Aufstand in Szene zu setzen. Nach seiner Entlassung beginnt er als Hotdog-Verkäufer zu arbeiten, dies aber auch nur, weil er dabei als sein bester Kunde nahezu unbegrenzten Zugriff auf die Würsten hat.
Neben dieser scheinbaren Haupthandlung entwickeln sich zahlreiche Nebenhandlungen, die nicht im Einzelnen erzählt zu werden brauchen. Es ist genug zu sagen, dass sich die Konsequenzen der einzelnen Handlungsstränge zu einem immer bedrohlicheren Szenarium für den Protagonisten aufzubauen scheinen, wobei die drohenden Schicksalsschläge Ignatius immer wieder auf wundersame Weise verfehlen.
Ein etwas überdrehter, aber intelligenter und witziger Roman von einer überraschenden Welthaltigkeit. Er steht klar in der Tradition des modernen Schelmenromans und erweist sich trotz seiner anekdotischen Struktur als gut konstruiert. Ein Tipp für ein verregnetes Wochenende.
John Kennedy Toole: A Confederacy of Dunces. Kindle-Edition. Penguin / Random House, 2016. 338 Seiten (Druck-Ausgabe). 8,99 €.
Als die erfreulichsten Lektüren erwiesen sich auch 2021 einmal mehr wiedergelesene Klassiker:
Goethes Italienische Reise, besonders deren erster Teil, der durch seine lebendigen und vielfältigen Schilderungen zu überzeugen weiß, und der
Don Quijote von Miguel de Cervantes, der sich in der erneute Lektüre als außerordentlich viel reichhaltiger erwiesen hat, als ich ihn in der Erinnerung hatte. Besonders der zumeist ungeliebte zweite Teil liefert nicht nur die Vorlage für einen bedeutenden Teil der romantischen Romanproduktion in Deutschland, sondern ist zugleich ein wahrscheinlich zeitloser Kommentar zur Meinungskultur.
Im Zusammenhang mit dem Don Quijote sollte auch Jean Canavaggios Cervantes-Biographie erwähnt werden, die zwar recht akademisch ist, in diesem Rahmen aber sicherlich als ein Musterstück angesehen werden darf. Ähnlich ging es mir mit einzelnen Kapitel aus Michel Winocks Buch über Flaubert, das besonders bei der Interpretation der Werke überzeugt.
Noch erwähnt werden sollten Iwan Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers, die sich beim Wiederlesen sowohl inhaltlich als auch stilistisch als überraschend vielfältig erwiesen.
Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sich weder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbel fähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande und damit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter man die lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Menschen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesem ist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Einführungen in die Philosophie, besonders solche, die für den allerersten Einstieg des Laien geschrieben wurden, ist nur sehr schwierig gerecht zu werden: Diejenigen, für die sie geschrieben sind, können sie offensichtlich nicht beurteilen, und diejenigen, die sie beurteilen können, gehören offensichtlich nicht zur Zielgruppe. Hinzukommt, dass selbst unter Fachleuten nicht nur in den Feinheiten der Interpretation Uneinigkeit herrscht, sondern solche Verwerfungen – die auch für den Einsteiger nicht unbedeutend sind – bereits in ganz grundsätzlichen Auffassungen bestehen können. Von daher dürften solche Einführungen immer in der Kritik stehen, je mehr, je spezifischer das Verständnis der verhandelten Sache beim Rezensenten ist.
Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Philosophiegeschichte und arbeitet in der Hauptsache mit Graphiken, die durch eine Reihe von kurzen , schlicht gehaltenen Erläuterungen begleitet werden.
Was macht man nun mit sowas? Einerseits sind wesentliche Elemente des Höhlengleichnisses getroffen: Die in der Höhle Gefangenen, deren Welt die an die Höhlenwand geworfenen Schatten sind, der Höhlenausgang, durch den man zur Erkenntnis der Wirklichkeit gelangen kann, sogar ein Rudiment des Sonnengleichnisses ist vorhanden. Andererseits werden bei Platon die schattenwerfenden Gegenstände von hinter einer Mauer verborgenen Trägern (welchen ontologischen Status mögen diese Träger haben?) vor einem Feuer vorbeigetragen, und natürlich kommt in Platons Höhle kein Teufel vor, der den unbedarften Leser vermuten lassen muss, dass es sich bei dieser Einrichtung um eine Art von transzendenter Verschwörung gegen die Menschheit handelt. Nach Betrachtung der beiden Seiten weiß der Leser ungefähr – und wirklich nur so ungefähr – so viel wie nach der Lektüre der ersten Absätze des Siebten Buchs von Platons Der Staat:
»Stelle dir Menschen vor, etwa in einer unterirdischen, höhlenartigen Behausung mit einem Ausgang, der sich über die ganze Breite der Höhle zum Tageslicht hin öffnet; in dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an Schenkeln und Nacken, so dass sie an Ort und Stelle bleiben müssen und nur geradeaus schauen können; den Kopf können sie wegen der Fesseln nicht herumdrehen; Licht erhalten Sie durch ein Feuer, dass hinter ihnen weit oben in der Ferne brennt; zwischen diesem Feuer und den Gefesselten führt oben ein Weg; an ihm entlang stelle dir einen niedrigen Maueraufbau vor, ähnlich wie Schranken bei den Gauklern vor den Zuschauern errichtet werden, über die hinweg sie ihre Kunststücke zeigen.« »Ich sehe es vor mir«, sagte er. »Stelle dir nun längs dieser Mauer Menschen vor, die allerlei Geräte vorbeitragen, die über diese Mauer hinausragen, Statuen von Menschen und anderen Lebewesen aus Holz und Stein und allen möglichen Erzeugnisse menschlicher Arbeit, wobei die Vorbeitragenden, wie es natürlich ist, teils reden, teils schweigen.« »Ein seltsames Gleichnis und seltsame Gefesselte, von denen du da sprichst«, sagte er.
Platon: Der Staat, 514a ff. (Trad. Gernot Krapinger)
Sprich: Er weiß, dass es bei Platon ein Höhlengleichnis gibt. Zusätzlich verfügt er über eine Reihe falscher Vorstellungen und hat keine Ahnung, wozu dieses Gleichnis überhaupt dienen soll. Denn wie häufig zeigt das Gleichnis allein nicht, was es eigentlich bedeuten soll.
Leider ist das auf den anderen Seiten auch nicht viel besser. Dort wo traditionelle Einführungen in die Philosophie notwendig oberflächlich sein müssen, ist hier auch diese Oberflächlichkeit noch oberflächlich geraten. In der Sache ist dieses Buch ein feuchter Teller, der sich als Vorspeise ausgibt. Nützlich könnte das Buch allein in einem didaktischen Umfeld sein, also für einen Lehrer der Philosophie, der sich hier Anregungen für eine graphische Unterstützung seines Unterrichts holen könnte.
Masato Tanaka / Tetsuya Saito: Das illustrierte Kompendium der Philosophie. Berlin: Blumenbar, 2021. Bedruckter Pappband, Lesebändchen, 352 Seiten. 26,– €.
Die Guten lassen leider fast überall eine Sitte durchgehen, die eine saubere Buchkritik auf das schärfste kompromittiert. Es ist da ein Lobgehudel ausgebrochen, das jede Empfehlung wertlos macht: es gibt keinen Verlag mehr, der nicht für jedes seiner Bücher ein Zeugnis vorweisen kann, wie es Dante, Balzac, Strindberg, Tolstoi und Dostojewski zusammen nicht bekommen haben. Das ist leicht erklärlich: es gehört nämlich gar nichts dazu, leere Ballons aufzupusten – und nichts wiegt leichter als diese kleinen Lobeshaufen, die man an jeder Straßenecke zusammenfegen kann. Da schreibt jeder über jedes, da wissen alle alles – Aber es ist doch eine Lüge und ein Schwindel, wenn jede neue Verlagsentdeckung (»In Amerika 80000000000000 Exemplare verkauft«) vier, zehn, hundertundzehn Literaten findet, die nur darauf gewartet haben, dergleichen hochzuloben. Diese Snobs, die einen neuen Modeschriftsteller wie eine Krawatte tragen, sollte man nach Hause jagen – bald wird das Publikum auf kein Lob mehr hören und nichts mehr glauben, wenn man es so anlügt.
Panchin brachte das Gespräch auf Literatur, wobei sich herausstellte, dass sie genau wie er einzig französische Werke gelesen hatte: George Sand löste Unmut bei ihr aus, Balzac schätzte sie, auch wenn er sie ermüdete, in Sue und Scribe sah sie große Kenner des menschlichen Herzens, Dumas und Féval vergötterte sie. Insgesamt zog sie ihnen allen jedoch Paul de Kock vor, dessen Namen sie freilich nicht erwähnte. Im Grunde konnte sie mit Literatur aber überhaupt nichts anfangen.
Ich spreche hier von längst vergangenen Tagen, wie Sie zu bemerken geruhen. Eine solche Prüfung sah etwa folgendermaßen aus: Man ruft beispielsweise Wojnizyn auf. Wojnizyn, der eben noch reglos und kerzengerade auf seiner Bank gesessen hat, erhebt sich schweißgebadet, langsam und stumpfsinnig in die Runde schauend, knöpft hastig seinen Uniformrock bis oben hin zu und schleicht, sich windend, zum Tisch der Examinatoren. »Ziehen Sie bitte ein Kärtchen«, sagt der Professor liebenswürdig. Wojnizyn streckt die Hand aus und berührt mit bebenden Fingern den Stapel mit den Fragekarten. »Aber bitte nicht auswählen«, sagt in schneidendem Ton ein nicht für ihn zuständiger, doch leicht aufbrausender alter Mann, Professor einer anderen Fakultät, den plötzlich eine Abneigung gegen den unglücklichen […] erfasst hat. Wojnizyn fügt sich in sein Los, nimmt eine Karte, gibt die Nummer an, setzt sich ans Fenster, bis sein Vorgänger die ihm gestellte Frage beantwortet hat. Am Fenster lässt Wojnizyn kein Auge von der Karte, nur hin und wieder schaut er wie zuvor langsam in die Runde, im Übrigen aber rührt er sich nicht. Sein Vorgänger hat mittlerweile geendet; man sagt ihm: »Gut, Sie können gehen« oder gar »Gut, sehr gut«, je nach seiner Leistung. Nun wird Wojnizyn aufgerufen; er steht auf und nähert sich festen Schrittes dem Tisch. »Lesen Sie die Frage vor«, heißt es. Wojnizyn hält sich das Kärtchen mit beiden Händen direkt vor die Nase, liest langsam vor und lässt dann, ebenso langsam, die Arme sinken. »Nun, mein Herr, dann antworten Sie bitte«, sagt der Professor bedächtig, lehnt sich zurück und kreuzt die Arme über der Brust. Grabesstille. »Was haben Sie denn?« Wojnizyn schweigt. Der alte Professor von der anderen Fakultät verliert die Geduld. »So sagen Sie doch etwas! « Mein Wojnizyn schweigt wie ein Grab. Sein rasierter Nacken ragt steil und reglos vor den neugierigen Blicken der Kameraden auf. Dem alten Professor quellen beinahe die Augen aus dem Kopf: er hasst Wojnizyn nun endgültig. »Das ist aber seltsam«, bemerkt ein anderer Examinator, »wieso stehen Sie da, als wären Sie stumm? Wissen Sie es denn nicht? So sagen Sie es doch!« — »Erlauben Sie mir, ein anderes Kärtchen zu ziehen?« fragt der Unglückliche tonlos. Die Professoren werfen sich Blicke zu. »Gut, tun Sie das«, antwortet der Hauptprüfer und macht eine wegwerfende Bewegung. Wojnizyn zieht ein neues Kärtchen, geht wieder zum Fenster, kehrt wieder zum Tisch zurück und schweigt wieder wie ein Toter. Der Professor von der anderen Fakultät ist drauf und dran ihn lebendig zu verspeisen. Schließlich schickt man ihn fort und trägt eine Null ein. Sie denken, dass er zumindest jetzt hinausgeht? Aber nein! Er kehrt zurück auf seinen Platz und bleibt wie zuvor reglos sitzen, bis die Prüfungen zu Ende sind, und ruft beim Fortgehen: »Die machen einem aber die Hölle heiß! Was das für Aufgaben waren!« Und dann wandert er den ganzen Tag durch Moskau, fasst sich hin und wieder an den Kopf und verwünscht bitter sein unglückliches Los. Mit den Büchern beschäftigt er sich natürlich nicht, und anderntags wiederholt sich dieselbe Geschichte von vorn.
Letztlich ist alles möglich. Vor allem hier bei Ihnen in Russland.
Es ist ja seit einiger Zeit Mode, Neuübersetzungen dadurch zu markieren, dass man Ihnen einen neuen Titel mitgibt; so auch hier: Aus dem Adelsnest (Dworjanskoje gnesdo) wird das semantisch sicherlich ebenso korrekte Adelsgut, was ein wenig verwundern darf, denn nicht nur nimmt es dem Titel das Heimische zusammen mit dem Provinziellen, es spielt im ganzen Roman ein Adelsgut auch keine bedeutende Rolle. Aber erfahrene Leser wissen, dass über die Titel der Bücher nicht immer die Übersetzerin entscheidet, auch wenn sie die Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen hat. Lassen wir es auf sich beruhen.
Das Adelsgut (erschienen 1859) ist Turgenews zweiter Roman und sicherlich derjenige, der ihn in Russland als Romanautor fest etabliert hat. Erzählt werden eine Ehe- und eine Liebesgeschichte, beide unglücklich, die der etwas träge Fjodor Iwanytsch Lawrezki durchlebt. Lawrezki entstammt einer Mesalliance zwischen seinem adeligen Vater und einer Bedienten, die jener geschwängert und dann nur geheiratet hatte, um damit wiederum seinem Vater einen Tort anzutun. Lawrezki wächst unter der rationalistischen Fuchtel seines Vaters auf, versucht nach dessen Tod in Moskau zu studieren, verkuckt sich in Warwara Pawlowna, die lebenslustige Tochter eines Generals a.D., die ihn nicht nur heiratet, sondern von seinem Geld auch ein großes Haus in Paris führt, ihn in seinen Studien einschläfert und nebenbei nach Strich und Faden betrügt. Als Lawrezki entdeckt, dass er betrogen wird, läuft er einfach davon, zuerst nach Italien und dann zurück nach Russland, wo er sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen will. Unterwegs macht er Station bei entfernten Verwandten im Städtchen O., in dessen Nähe er über ein kleines Gut verfügt.
Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Lawrezki, inzwischen 35 Jahre alt, verliebt sich in die 19jährige Tochter des Hauses, Lisaweta Michailowna. Es fällt ihm nicht schwer, die Gegenliebe der jungen Frau zu gewinnen, und als er aus einer Zeitungsmeldung vom vorgeblichen Tod seiner Gattin erfährt, ist die offene Liebeserklärung gleich gemacht. Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Als die beiden Liebenden reif sind, einander in die Arme und andere Körperteile zu fallen, taucht unvermittelt die tot geglaubte Warwara mit dem gemeinsamen Töchterchen wieder auf. Herzzerreißend verzichten die Liebenden auf einander, zähneknirschend vergibt Lawrezki seiner Frau und stimmt zu, für eine Weile mit ihr unter einem Dach zu leben, um seiner Tochter nicht den Weg in die gute Gesellschaft zu verbauen. Auf jegliches weltliche Glück verzichtend geht die fromme und weltfremde Lisa ins Kloster, während sich Warwara so gut wie bisher zu amüsieren versteht. Am Ende ist sie die Einzige, die aus dem allgemeinen Elend glücklich hervorgeht und bekommt, was sie will.
An diese insgesamt etwas seichte und flache Geschichte, der auch nicht durch die in ihr spielenden Charaktere aufgeholfen wird– nur die Figur Warwaras sticht mit ihrem amoralischen Erfolg etwas aus der literarischen Einheitsware heraus –, klebt Turgenew einen unerträglich Epilog, der acht Jahre nach der Haupthandlung den Gutsbesitzer Lawrezki an den Ort seines Unglücks zurückkehren lässt. Dort lebt nun eine neue Generation, fröhlich umeinanderspringend wie junge Hunde, deren Hauptbeschäftigung im Lachen und Hopsen besteht und die daher die positive Zukunft darstellt. Man sollte sich die Lektüre dieser abschließenden Dummheit ersparen!
Dass dieser Roman inhaltlich schwächelt bzw. deutlich dem damaligen populären Literaturgeschmack huldigt, bemerkte schon die zeitgenössische Kritik (auch Turgenew selbst macht sich an einer Stelle ein wenig darüber lustig). Hoch gelobt wurde er aber wegen seiner sprachlichen Ausgestaltung, die man nun leider in einer anderen Sprache immer nur bedingt wiedergeben kann. Die Neuübersetzung von Christiane Pöhlmann ist angenehm zu lesen und so beweglich, dass sie in jeder Szene auf der Höhe des Erzählten ist. Auch mildert sie im Epilog das Pathos des Erzählers nicht ab, um einer heutigen Lesererwartung entgegenzukommen. Alles in allem hinterlässt der deutsche Text einen sehr runden Eindruck. Wenn nur der Inhalt etwas weniger klischeehaft wäre …
Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 382 Seiten. 25,– €.
Das russische Subgenre der Aufzeichnungen umfasst eine erhebliche Breite erzählerischer Formen, die im Wesentlichen nur dadurch miteinander verbunden sind, dass es sich um autobiographische oder wenigstens pseudo-autobiographische Texte handelt. Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers umfassen 25 Erzählungen, die nahezu alle zuvor in Zeitschriften abgedruckt wurden und nur sehr locker über eine gemeinsame Erzählerfigur miteinander verbunden sind. Die Sammlung erschien erstmals 1852, wobei sie nur knapp der Zensur entging – Turgenew spekulierte zu Recht darauf, dass der damalige Moskauer Zensor seine Arbeit eher schlampig erledigte –, allerdings politisch so wirksam war, dass man Turgenew bei nächster publizistischer Gelegenheit in Haft nahm und später auf sein Gut in der Provinz verbannte. Die Aufzeichnungen machten ihren Autor jedenfalls auf einen Schlag berühmt.
Die nur nebenbei mitgeteilte Rahmenhandlung der Aufzeichnungen ist die eines Adeligen, der in der engeren und weiteren Umgebung seines Gutes auf die Vogeljagd geht. Zahlreiche Erzählungen liefern dabei Portraits wunderlicher Personen aus den unterschiedlichsten Schichten der russischen Gesellschaft: Ein verrückter Adeliger kommt ebenso vor wie ein moralischer Förster, eine jahrelang von einer Krankheit ans Bett gefesselte Bediente, arme Leibeigene ebenso wie wohlhabende, handfeste Bauern, ein korrupter und menschenschindender Verwalter ebenso wie sein eitler, selbstgefälliger Gutsherr. Allein die Fülle an vorgeführten Figuren ist erstaunlich; hinzu kommen abenteuerliche Anekdoten, romantische Naturschilderungen, ein Räsonnement über den Stoizismus der Russen angesichts des Todes, unglückliche Liebesgeschichten, die Schilderung bäuerlichen Elends – immer mit exakt so viel Distanz gezeichnet, dass sich die Kritik des Erzählers nur zeigt, aber nirgends ausdrücklich ausgesprochen wird – und was der Dinge mehr sind. All das kommt gänzlich frisch und originell daher und ist doch für den, der die europäische Erzähl-Tradition kennt, von einer beeindruckenden literarischen Breite und Tiefe. Formal findet sich alles, was gut und wichtig ist: Neben den schon genannten Figuren-Portraits und den impressionistischen Naturschilderungen findet man Satire, die moralische Novelle, echte Jagd-Anekdoten, eine Sammlung von Geistergeschichten, Parodien (so etwa auf die romantischen Meistersinger), reine Erinnerungsprosa und Stücke von echtem gesellschaftskritischem Pathos. Die Sammlung zeigt Turgenew als vollständig ausgebildeten, souveränen Erzähler, der nicht nur aufgrund seiner politischen Position, sondern auch wegen seiner literarischen Qualität seinen plötzlichen Ruhm voll und ganz verdient.
Es überrascht daher nicht, dass die Aufzeichnungen eines Jägers das am häufigsten übersetzte Buch Turgenews ist. Vera Bischitzky zählt in ihrem Nachwort allein zwölf Vorläufer-Übersetzungen, von denen mir immerhin drei vorliegen. Die von Hermann Wotte (Berlin u. Weimar: Aufbau, 1968) ist deutlich gealtert und besteht den Vergleich mit den beiden neuesten Übersetzungen von Peter Urban (Zürich: Manesse, 2004) und Vera Bischitzky (München: Hanser, 2018) nicht gut. Urban und Bischitzky stehen in lebendiger Konkurrenz und haben wohl beide ihre Verdienste.
Urban und Bischitzky lassen zahlreiche russische Wörter, für die sie keine ausreichend genaue Entsprechung im Deutschen zu finden meinen, transkribiert in der Ursprache stehen: Beide übersetzen zum Beispiel den Titel und die Anrede „Barin“ nicht mit Gutsherr oder Gnädiger Herr. Urban geht dabei deutlich weiter als Bischitzky: Den „Burmistr“ des Originals (offensichtlich ein korrumpierter deutscher Bürgermeister) lässt Urban stehen, wo ihn Bischitzky durch den Dorfschulzen ersetzt. Für Bischitzkys Himbeerquell bleibt bei Urban der russische Eigenname „Malinovaja voda“ erhalten. Zudem wählt Urban bei Eigennamen eine Transkription, die stärker der wissenschaftlichen angenähert ist als die eher traditionellen deutschen Lesegewohnheiten entgegenkommende Bischitzkys.
Was den Erzähltext insgesamt angeht, so finden beide originelle und überzeugende Lösungen:
Der dünne obere Rand des ausgestreckten Wölkchens glitzert von kleinen Schlangen; ihr Glanz gleicht dem Glanz von geschmiedetem Silber.
Urban, S. 138.
Der obere, zarte Saum der in Schlangenlinien gewundenen Wolke funkelt; ihr Glanz erinnert an gehämmertes Silber.
Bischitzky, S. 127
Er lebte im Sommer in einem Flechtkäfig, hinter dem Hühnerstall, im Winter im Vorraum der Badestube; bei strengem Frost übernachtete er auf dem Heuboden. Man war an seinen Anblick gewöhnt, gab ihm manchmal auch einen Fußtritt, aber niemand sprach mit ihm, und er selbst schien von Geburt an nie den Mund aufgemacht zu haben.
Urban, S. 50.
Den Sommer über hauste er in einem Verschlag hinter dem Hühnerstall und im Winter im Vorraum des Badehauses; war strenger Frost, übernachtete er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal bekam er einen Fußtritt, doch nie sprach jemand mit ihm, und auch er selbst hatte wohl noch nie im Leben den Mund aufgetan.
Bischitzky, S. 47.
Da sich der Erzähler im weiteren Verlauf mit der hier charakterisierten Figur lebhaft unterhält, ist in diesem Fall Urbans Formulierung wohl vorzuziehen.
Oft wählt Urban den kürzeren, lakonischeren, herberen Ausdruck, was im Gegenzug den Naturbeschreibungen bei Bischitzky durchaus zugutekommt. Allein auf der Basis der deutschen Texte kann kaum einer der beiden Übersetzungen der Vorzug eingeräumt werden; und einen Blick ins Original zu werfen, verhindert meine mangelnde Sprachkenntnis.
In welcher Übersetzung auch immer: Turgenews Erstling ist allemal eine Entdeckung oder Wiederentdeckung wert. Wer nur einmal hineinschauen möchte, um sich ein Bild zu machen, dem rate ich zur Lektüre von Bežin lug / Die Beshin-Wiese, einer impressionistisch beginnenden, leichthin Dante anspielenden Naturerzählung, die dann in eine Sammlung volkstümlicher Geistererzählungen übergeht, und dem schon erwähnten Der Burmistr / Der Dorfschulze, der aufzeigt, wie weit Turgenew in seiner Sozialkritik gerade noch gehen konnte, bzw. wo er bereits zu weit gegangen war.
Ivan Turgenew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Peter Urban. Zürich: Manesse, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 24,90 €.
Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2018. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten. 38,– €.
… und hätte sie sich nicht zweitens in einen jungen, durchreisenden Studenten verliebt, mit dem sie sogleich in einen emsigen, leidenschaftlichen Briefwechsel trat; in ihren Episteln erteilte sie ihm ihren Segen für ein gottgefälliges, herrliches Leben, wie das in derartigen Fällen üblich ist, brachte »ihr ganzes Sein« zum Opfer, verlangte nichts als seine Schwester zu sein, erging sich in Naturbeschreibungen, ließ auch Goethe, Schiller, Bettina und die deutsche Philosophie nicht unerwähnt und stürzte den armen jungen Mann schließlich in schiere Verzweiflung. Doch die Jugend nahm sich ihr Recht: eines schönen Tages erwachte er mit einem derart brennenden Hass auf seine »Schwester und beste Freundin«, dass er rasend vor Zorn um ein Haar seinen Kammerdiener verprügelt hätte und noch lange Zeit danach bei der geringsten Anspielung auf eine erhabene und selbstlose Liebe in Wut geriet …
Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. München: Hanser, 2018. S. 285
Der Text wurde in Deutschland als Biographie verkauft, obwohl ihn sein Autor im Vorwort völlig zu Recht einen Essay nennt, und man darf hier ungeniert an Tucholsky denken: „Und wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay.“ Das Büchlein präsentiert weitgehend nichts als wirres Geschwätz, zusammengesuchte Einsichten, die in lockerer assoziativer Manier aneinandergereiht werden, ohne dass sich aus ihnen mehr ersehen ließe, als dass eben dieser und jener mal dies oder das über Turgenew gesagt habe und was man sonst noch so denken könne.
Von sehr jung an war er sich bewußt, daß er auf Frauen attraktiv wirkte, und in einigen Fällen lässt sich beobachten, wie er diese Macht sogar bei denen ausübt, die reine ›Vermittlerinnen‹ waren, eine Kategorie, in welche die Frau von Traditionen und weltlichem Leben gerne eingereiht wird.
Und solche Sätze sind bei weitem nicht die Schlimmsten.
Das ganze Buch ist ein unlesbares Gewäsche. Dass es überhaupt übersetzt und gedruckt wurde, lässt mich einen internationalen Mangel an soliden Turgenew-Biographien vermuten; wenigstens scheint auf Deutsch derzeit überhaupt nichts Vernünftiges lieferbar zu sein. Hinweise dazu wären sehr willkommen.
Juan Eduardo Zúñiga: Iwan S. Turgenjew. Eine Biographie. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. it 2744. Frankfurt/M.: Insel, 2001. Broschur, 277 Seiten. Zum Glück nur noch antiquarisch greifbar.