Allen Lesern ins Stammbuch (90)

Denn es obliegt dem Literaturhistoriker, darauf hinzuweisen, dass sein Stil sich verblüffend gewandelt hatte. Das Preziöse war gedämpft, das Übermaß gezügelt; diese warmen Quellen waren in der Epoche der Prosa erfroren. Sogar die Landschaft draußen war weniger girlandenumwoben, und selbst die Dornbüsche waren weniger dornig und verschlungen. Vielleicht waren die Sinne ein wenig stumpfer und Honig und Sahne weniger verlockend für den Gaumen. Und zweifellos wirkte sich der Sachverhalt, dass die Straßen besser kanalisiert und die Häuser besser beleuchtet waren, auf den Stil aus.

Virginia Woolf
Orlando

Zum Tod von Paul Wühr

3. Juni 1986, München

Diana Kempff ruft an. Ich hätte zu ihr einmal gesagt, nach meinem Tod soll sie anderen sagen: ich habe Gott geliebt. Ein anderer Ausbruch: Scheißkonjunktive, ScheißGötter. Aussprüche eines Richtigen? – Ich nütze nichts aus in diesem Leben. Das ist der Rest von Tugend. Sonst war ich immer bemüht, mich aus unguten, peinigenden oder auch belästigenden Empfindungen zu befreien. – Was ich Diana erzählte: Heute im Luitpoldpark ein Augenblick großer Ruhe, auch im Zusammenhang mit der Empfindung des Augenblicks (mehr kann ich darüber nicht sagen: vergessen). Meine Formulierung noch im Park: Das einzige aktuelle Erfassen dieser Welt ist mystisch. Man muß Mystiker werden. Ich werde es mir nicht erlauben. Diana sagte noch viel Gutes, Liebes zu mir.

Paul Wühr
Der faule Strick

Virginia Woolf: Orlando

Nicht Orlando sprach, sondern der Geist der Epoche. Doch wer es auch war, niemand antwortete.

Es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als ich unter großen Vorbehalten zwei oder drei Bücher von Virginia Woolf gelesen habe; „Orlando“ war darunter und „Die Wellen“ und wahrscheinlich noch ein weiterer Roman, wobei ich mich weder an Titel noch Inhalt irgendwie erinnern kann. Meine Vorurteile Woolf gegenüber entstammten in der Hauptsache zwei Quellen: ihrer Rezeption des Joyceschen „Ulysses“ und einer Gruppe von ideologischen Leserinnen Woolfs, die mir damals, während des Studiums, unschwer auf die Nerven gingen.

Nun hat Melanie Walz im Insel Verlag vor einigen Jahren die inzwischen vierte deutschsprachige Übersetzung des „Orlando“ vorgelegt und allein aufgrund der Übersetzerin war ich geneigt, das Buch noch einmal zu lesen. Walz’ Übersetzung ist die erste, die auch das formale Spiel Woolfs mit dem Genre der Biographie im Deutschen wiedergibt. Im englischen Sprachraum folgt die akademische Biographie oft einem festen formalen Schema: Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Text und Register. Da aber deutschen Lesern dieses Schema weitgehend unbekannt sein dürfte, haben alle früheren Ausgaben auf dessen Reproduktion verzichtet, so dass Walz’ Übersetzung als die erste tatsächlich vollständige bezeichnet werden kann. Und auch wenn es das fatale Marketinglabel „Roman“ wieder auf den Umschlag des Buches geschafft hat, so steht doch wenigstens auf seinem Titelblatt korrekt die irreführende Gattungsbezeichnung: „Eine Biographie“.

Selbstverständlich handelt es sich bei „Orlando“ nur um ein Spiel mit der Form und den Gepflogenheiten biographischen Schreibens. Der Protagonist bzw. die Protagonistin Orlando wird um 1580 geboren und ist im Jahr des Erscheinens ihrer Biographie noch immer am Leben; wahrscheinlich hat sie vor lauter Beschäftigung einfach vergessen zu sterben. Kurz zusammengefasst findet sich Orlandos Lebenslauf im Register des Buches:

Orlando – als Knabe 14; verfasst sein erstes Schauspiel 15; besucht die Königin in Whitehall 20; wird zum Schatzmeister und Großhofmeister ernannt 23; seine Liebschaften 26; und die russische Fürstin 34–39; seine erste Trance 59; zieht sich in die Einsamkeit zurück 63; seine Liebe zur Lektüre 65; seine romantischen Dramen 15 [sic!]; seine literarischen Ambitionen 67, 68, 152; und Greene 74–90; seine Urgroßmutter Moll 76; erwirbt Elchhunde 84; und sein Poem Die Eiche 99, 129, 152, 272; und sein Haus 93–96; und die Erzherzogin Harriet 101–193; als Gesandter in Konstantinopel 106–117; wird zum Herzog ernannt 113; zweite Trance 117; Heirat mit der Zigeunerin Rosina Pepita 118; wird zur Frau 122; bei den Zigeunern 125–134; kehrt nach England zurück 135; Gerichtsverfahren 148; und Erzherzog Harry 158; in der Londoner Gesellschaft 169; bewirtet die Esprits 191 [sic!]; und Mr. Pope 179; und Nell 191; mit ihrem Cousin verwechselt 193; kehrt in ihr Haus auf dem Land zurück 203; bricht sich den Knöchel 217; wird zur Frau erklärt 220; Verlobung 291; Heirat 228; Geburt des ersten Sohnes 259

Wie man sieht, ein durchaus erfülltes Leben, für das eben 350 und einige Jahre erforderlich sind. Orlando durchläuft nicht nur alle Epochen der englischen Geschichte seit der Elizabethanischen, sondern sie durchleidet auch deren stilistische und soziale Moden. All dies wird mit leichter und ironischer Souveränität betrieben und ist – bis auf wenige Längen – sehr vergnüglich zu lesen. Sicherlich kann man darin auch tiefere Bedeutungen vermuten, aber ich würde davon abraten; das Spiel als Spiel ist vollständig ausreichend, alles weitere verdirbt nur diesen wirklichen Wurf.

Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist jener früheren, die ich las – leider kann ich nicht rekonstruieren, welche der beiden frühen Übersetzungen ich damals in der Hand hatte, ich befürchte aber, es war die von Karl Lerbs – um Welten überlegen. Der spielerische und ironische Charakter des Buches ist mir erst mit dieser Lektüre vollständig deutlich geworden. Eine genüssliche Lektüre setzt beim Leser allerdings ein gerüttelt Maß an historischer und literarischer Bildung voraus.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. it 4238. Berlin: Insel, 2015. Broschur, 304 Seiten. 8,– €.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹

Zunächst war die sittliche Libertinage also eine Erfindung der Propaganda gegen heterodoxe Denker. Im 17. Jahrhundert untermauerten englische Sittenstrolche in der Tat ihre sexuellen Freizügigkeiten mit einer Verachtung herkömmlicher Religion, die sie als heuchlerisch und sinnenfeindlich anprangerten.

Wilson-Goethes-Erotica

W. Daniel Wilson gibt gern das Enfant terrible der Goethe-Forschung. Im Jahr 1999 gelang ihm mit „Das Goethe-Tabu“ der erste größere Erfolg in dieser Rolle, als er nachwies, dass es sich bei Goethe – einem Mann der immerhin ein knappes Jahrzehnt Minister und den Großteil seines Lebens Geheimer Rat in einem deutschen Kleinstaat gewesen war – nicht um das Vorbild eines liberalen Demokraten gehandelt hatte, sondern um einen ziemlich konservativen, staatserhaltenden und restriktiven politischen Kleingeist, der vor der Zensur freiheitlichen Gedankengutes auch nicht einen Augenblick zurückschreckte. Die meisten Goethe-Kenner gähnten angesichts dieser tiefen Einsicht, die ihnen schon vor etwa hundert Jahren einmal irgendwo über den Weg gelaufen war, aber immerhin ließ sich dadurch eine Ikone der akademischen Goethe-Verkennung wie Katharina Mommsen zu Dummheiten im Goethe-Jahrbuch hinreißen. In London poppten die Sektkorken!

Seitdem liefert Wilson mit schöner Regelmäßigkeit weitere schockierende Erkenntnisse über Goethe: Der habe – wenn auch vielleicht nicht selbst homosexuell – über Homosexualität nicht nur Bescheid gewusst (wer mag es ihm verraten haben?), sondern diese Kenntnisse sogar hier und da in seinen Schriften aufscheinen lassen. Ei, der Doppeldaus!

Und heuer: Goethes Erotica! Nun wäre das Sexuelle bei Goethe durchaus ein reizvolles Thema, galt der Weimarer Meister doch zahlreichen seiner Zeitgenossen als zu freizügig und seine Schriften als nicht unbedingt geeignet, um in die Hände eines unverheirateten Mädchens – schon damals die bedeutendsten und dankbarsten Rezipienten deutscher Klassik – gelegt zu werden. Dazu müsste man sich etwa mit dem „Faust“ beschäftigen, in dem die Sexualität als Mittel zur Lebensfreude eine bedeutende Rolle spielt:

Faust.
Ich bin ihr nah’, und wär’ ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren;
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren.

Mephistopheles.
Gar wohl, mein Freund! Ich hab’ euch oft beneidet
Um’s Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.

Faust.
Entfliehe, Kuppler!

Mephistopheles.
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen.
Der Gott, der Bub’ und Mädchen schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.

Im „Faust“ ist es immer wieder eher erstaunlich, was verlegerische und staatliche Zensur im Buch haben stehen lassen als die wenigen Zensurstriche, die dann doch erzwungen wurden.

Faust mit der jungen tanzend.
Einst hatt’ ich einen schönen Traum;
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwey schöne Aepfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich steig hinan.

Die Schöne.
Der Aepfelchen begehrt ihr sehr
Und schon vom Paradiese her.
Wie freudig fühl’ ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.

Mephistopheles mit der Alten.
Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum ,
Der hatt’ ein — — —;
So — es war, gefiel mir’s doch.

Die Alte.
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt’ er einen — — bereit,
Wenn er — — — nicht scheut.

Auch hier passierten die weiblichen Brüste (wieder biblisch verbrämt) unbehelligt die Zensur, doch das ,ungeheure Loch‘, das aus dem Reimwort ,doch‘ und der für den Versrhythmus erforderlichen Silbenzahl eventuell erraten werden konnte, ist dann zuviel. Zusätzlich wird auch das Adjektiv ,groß‘ in der darauffolgenden Zeile gestrichen, um das korrekte Verständnis noch weiter zu erschweren. (Wer wissen will, was die Zensurstriche der letzten Strophe verbergen, soll ruhig einmal eine Goethe-Ausgabe zur Hand nehmen oder zumindest googlen).

Noch interessanter aber scheint mir, dass nur wenige Verse später eine geni(t)ale Anspielung dem wachsamen Auge der Zensoren entgangen ist:

Mephistopheles […] zu Faust der aus dem Tanz getreten ist.
Was lässest du das schöne Mädchen fahren?
Das dir zum Tanz so lieblich sang.

Faust.
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde.

Mephistopheles.
Das ist was rechts! Das nimmt man nicht genau.
Genug die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?

Auch im Zweiten Teil der Tragödie fanden sich entsprechend schlimme, die Zeitgenossen erregende Stellen, so etwa der von den Ärschlein der Faust in den Himmel entführenden Engel sexuell erregte Mephistopheles (erstaunlich, dass wenigstens einer der Leser der Erstausgabe überhaupt bis zu dieser Stelle vorgedrungen ist). Weit süffigere aber hatte Goethe so gut versteckt, dass sie nicht einmal von den Herausgebern bemerkt worden waren:

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Auch das darf mit Fug ein Schäferstündchen heißen!

Dann könnte man etwa über jenen ehelichen Geschlechtsverkehr und doppelten Ehebruch nachdenken, den Goethe in „Die Wahlverwandtschaften“ mit einer für seine Zeit außerordentlichen Deutlichkeit schildert und der ihm viel Kritik aus den Kreisen ordentlicher Bürger einbrachte. Denn merke:

Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.

Um den erotischen oder sexuellen Anteil an Goethes Werken richtig einschätzen zu können, wäre allerdings einiges an Vorarbeit zu leisten: So wäre zu sichten, was es an erotischer und pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert gab, wie sie reproduziert und gehandelt wurde, wer mit wem darüber wie kommuniziert hat, ob und wie sich die Grenzbezeichnungen ,Unsittliches‘, ,Erotisches (Erotica)‘ und ,Pornographie‘ im allgemeinen Gebrauch der Zeit voneinander unterschieden (anstatt wie Wilson im aktuellen Duden (!) nachzuschauen, wie der Pornographie definiert), wie unterschiedlich antike und neuzeitliche Erotica bewertet und behandelt wurden, wie mit offen unsittlichen Autoren wie Shakespeare verfahren wurde, welche überaus differenzierten Unterschiede die Zeitgenossen Goethes zwischen privater und öffentlicher Rezeption und zwischen privatem und öffentlichem Urteil machten usw. usf. Das alles ist ein sehr weites Feld, auf dem nicht nur literarhistorische, sondern auch wichtige soziologische und hygienische Erkenntnisse über das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu heben wären.

Aber keine Sorge, Wilson macht nichts von alledem. Stattdessen konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Gedichtzyklen Goethes nach antiken Vorbildern – die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ – und deren Publikationsgeschichte; ganz am Ende kommt noch ein bisschen „West-östlicher Divan“ dazu, weil ihm wohl wer gesteckt hat, dass es auch da verborgene Sauereien gibt. Dabei konstruiert sich der Skandal in zwei Tatbeständen: Zum einen, dass beide Zyklen zu Goethes Lebzeiten (und auch später noch) nicht vollständig abgedruckt wurden, was Wilson gerne unter Zensur, nein, Entschuldigung: ,Zensur‘ bzw. ,Selbstzensur‘ verbucht haben möchte. Zum anderen, dass in den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ Stellen abgeschabt und ausradiert und später sogar ausgeschnitten wurden. Schauen wir uns die Teilskandale nacheinander an:

Schon bei der Niederschrift beider Gedichtzyklen war Goethe bewusst, dass an eine vollständige Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer ursprünglichen Form kaum zu denken war. Die „Römischen Elegien“ waren für Schillers Zeitschrift „Die Horen“ vorgesehen, eine Auswahl der „Venezianischen Epigramme“ für einen von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. In beiden Fällen nahm Schiller also seine Pflichten als Herausgeber wahr, las die Texte, besprach mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre, was man seiner Meinung nach streichen müsste bzw. welche der Epigramme für den Almanach überhaupt nicht in Frage kämen (das waren die explizit sexuellen und die antiklerikalen bzw. antichristlichen). Außerdem hatte Goethe die Elegien dem Herzog Karl August und Herdern vorgelesen, bei denen er damit rechnen konnte, dass sie die antikisierende Form goutieren und den dazu passenden Inhalt wie erwachsene Männer wahrnehmen konnten. Beide lobten die Gedichte, rieten von einer Veröffentlichung dennoch gänzlich ab, was Goethe aber nicht daran hinderte, die Elegien mit Ausnahme von vieren in den „Horen“ erscheinen zu lassen. Auf Schillers Vorschläge zur Einkürzung zweier Elegien reagierte er, in dem er diese komplett zurückzog; er wollte sie also lieber gar nicht als verstümmelt drucken lassen. Nichts von all dem ist skandalös, nichts hat mit Zensur oder Selbstzensur zu tun, ob nun in Anführungsstrichen oder nicht, sondern es stellt einen für fast alle Zeiten ganz normalen Publikationsprozess dar. Wilson dagegen möchte aus dem Vorgang um die Elegien eine große Enttäuschung Goethes konstruieren, die im Nachklapp fast noch zu einer Staatsaffäre geworden wäre, wenn man nur wüsste, ob und weshalb der Herzog ein späteres Gedicht Goethes im Geheimen Consilium hat besprechen lassen wollen. Doch: Dem Skandaliseur ist nix zu schwör: Mit Hilfe der Wörtchen ,wahrscheinlich‘, , sicherlich‘ und ,offenbar‘ (dies besonders gern an Stellen verwendet, an denen nun wirklich nichts, aber auch gar nichts offenbar ist) kann man immer einen Skandal dort erzeugen, wo nichts ist.

Beim zweiten Teilskandal handelt es sich um die Frage, wer für die Abschabungen bzw. das Ausschneiden aus den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ verantwortlich war. Hier ist hervorzuheben, dass sich Wilson wenigstens dafür stark macht, die Großherzogin Sophie vom Verdacht auszunehmen, aber ansonsten kann er auch hier nur ausführlich herumraten und vermuten, wer es nicht gewesen ist. Schließlich legt er sich im Ausschluss-Verfahren beim Abschaben auf Walther von Goethe und beim Ausschneiden auf Bernhard Suphan oder Carl August Hugo Burkhardt, ja, nun gerade nicht fest.

All das ließe sich auch auf 8 statt auf 180 Seiten sagen, macht aber dann kein rechtes Skandalon. Folgen noch einige gehaltlose Anwürfe gegen die Hamburger Ausgabe und ihren Herausgeber sowie ein wenig oberflächlich Angelesenes über den ,Libertin‘ (siehe oben das Motto über die „englischen Sittenstrolche“!) und ob Goethe einer war (eigentlich nicht, aber in einigen Zügen dann doch vielleicht eher oder auch naja soso). Um noch ein letztes Mal den Dichter selbst zu bemühen:

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹. Hannover: Wehrhahn, 2015. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 256 Seiten. 19,80 €.

Johannes Willms: Waterloo

Willms-NapoleonNur wenige Monate nach seiner Geschichte der Französischen Revolution legt Johannes Willms rechtzeitig zum 200-jährigen Jubiläum der Schlacht ein Buch zu Waterloo vor. Willms beginnt mit den Verhandlungen zum ersten Exil Napoleons auf Elba im Jahr 1814, berichtet dann über das Exil selbst, Napoleons Rückkehr und den Beginn der Herrschaft der 100 Tage und schließt seine Darstellung mit der Schlacht selbst und ihrer Rezeption in Frankreich, England, Preußen sowie Belgien und den Niederlanden ab. Wer sich über Napoleons letzten Jahre informieren möchte, wird Willms Napoleon-Biographie zur Hand nehmen müssen.

Willms verteilt seine Geschichte der Herrschaft der 100 Tage, was vielleicht der bessere Untertitel für das Buch gewesen wäre – etwa gleichwertig auf die politischen und die militärischen Aspekte des Endes der Napoleonischen Herrschaft. Die eigentliche Schlacht bei Waterloo und ihre unmittelbaren Vorbedingungen – die Schlachten bei Quatre Bras und Ligny am 15. und 16. Juni 1815  – werden auf 90 der 250 Seiten des Textes dargestellt. Auch hier geht es wesentlich immer auch um persönliche und politische Motive der Protagonisten (be­son­ders Napoleons und Wellingtons), so dass Leser nicht mit einer haupt­säch­lich militärhistorischen Geschichte der Schlacht rechnen sollten.

Inhaltlich befindet sich der Text auf dem von Willms gewohnten Niveau, was heißt, dass er Lesbarkeit und historische Differenziertheit gut miteinander in Einklang bringt. Allerdings scheint das Buch unter hohem Zeitdruck produziert worden zu sein, denn es finden sich für Willms sonst eher ungewöhnliche sprachliche Patzer im Text:

Also galt es, zunächst die Einheiten zu ordnen, Waffen und Montur zu reinigen, die Pferde zu tränken und zu füttern, abzukochen und zu essen. [S. 209]

Sicherlich nicht Willms inspiriertestes Buch, was man aber auch weder bei diesem Thema noch einer solchen Gelegenheitsarbeit erwarten sollte.

Johannes Willms: Waterloo. Napoleons letzte Schlacht. München: C. H. Beck, 2015. Leinen, 288 Seiten, eine Karte in Einstecktasche. 21,95 €.

Jahresrückblick 2014

Traditionen entstehen nur durch stures Wiederholen, deshalb auch für das gerade vergangene Jahr ein Rückblick auf meine drei besten und drei schlechtesten Lektüren.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2014:

  1. Isaak Babel: Mein Taubenschlag – war für mich mit Abstand die Entdeckung des vergangenen Jahres. Ein origineller, sprachlich intensiver und exakter Beobachter und Erzähler!
  2. William Faulkner: Schall und Wahn – es ist sehr fein, dass Rowohlt seine Reihe mit guten und sehr guten Faulkner-Übersetzungen fortsetzt. Dieses Buch lässt wohl am deutlichsten des Einfluss von Joyce auf Faulkner erkennen.
  3. Johannes Willms: Tugend und Terror – eine exzellente Gesamtdarstellung der Revolution mit dem Fokus auf die Ereignisse in den jeweils gesetzgebenden Versammlungen, die aber dennoch keinen wichtigen Aspekt der Revolution unbeachtet lässt.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2014:

  1. Arnold Zweig: Die Feuerpause – ein aus heutiger Sicht unnötiges Buch, das nichts Wesentliches zum Zyklus Der große Krieg der weißen Männer beiträgt und besser ungeschrieben geblieben wäre.
  2. Alexander Schimmelbusch: Die Murau Identität – ein selbstverliebtes Buch eines Möchtegern-Autors, in dem bis auf einen einzigen Witz eigentlich nichts passt.
  3. Hans Herbert Grimm: Schlump – ein ziemlich schreckliches Me-too-Buch zum Ersten Weltkrieg, das besser in der Versenkung geblieben wäre, in der es schon so erfolgreich verschwunden war.

Johannes Willms: Tugend und Terror

„Ich folgere daraus also, wer immer in diesem Moment zittert, bekennt sich schuldig, denn niemals fürchtet die wahre Un­schuld die Überwachung seitens der Öf­fent­lich­keit.“
Robespierre

Willms-RevolutionEs ist für jedermann ein gewagtes Unternehmen, eine Geschichte der Französischen Revolution zu schrei­ben. Ich wage die unbelegte Behauptung, dass über  kein Ereignis der Jahre zwischen 1500 und 1900 mehr geschrieben worden ist, als über diesen ein­zig­ar­ti­gen Wendepunkt zur modernen Welt. Nicht nur markiert die Französische Revolution den Anfang vom Ende der Adels- und Königsherrschaft in Europa, ebenso ist sie der Auftakt des grandiosen Aufstiegs des europäischen und in der Folge des Welt-Bürgertums in seiner Mission zur Vernichtung der Menschheit. Unzählige der Segnungen und Flüche der Moderne neh­men in dieser Zeit ihren Ausgang und bis heute wird die Welt von den ideologischen Wellen und Gegenwellen der Revolution von 1789 in Bewegung gehalten.

Nach seiner großen Napoleon-Biographie und der über dessen Neffen Napoleon III erscheint es nur konsequent, dass sich Johannes Willms nun mit jenen Bedingungen beschäftigt, die die Rolle Napoleons auf der europäischen Bühne erst ermöglicht haben. Dabei erweist sich Willms einmal mehr als ein Meister der Quellenauswertung. Das Rückgrat seiner Darstellung bildet ein chronologischer Bericht der Debatten und Beschlüsse der Nationalversammlung bzw. des -konvents, die sowohl durch die jeweiligen äußeren Einflüsse auf die Akteure als auch durch deren Intentionen verständlich gemacht werden. Dabei ist es Willms hoch anzurechnen, dass er nicht, wie das populäre historische Schriftsteller gern tun, auf die sogenannte Psy­cho­lo­gie der Handelnden ausweicht, sondern immer die konkreten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände benennt, unter denen eine Entscheidung der Legislative oder Exekutive ge­trof­fen und durchgesetzt worden ist. Soweit ich sehe, macht er einzig für den Protagonisten Robespierre eine Ausnahme, bei dem sich Willms ohne längere Erörterung der weit verbreiteten, wenn auch nicht unumstrittenen These anschließt, es habe sich um einen Paranoiker gehandelt. Da es im Falle Robespierres aber unbestreitbar so war, dass es Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung gab, die ihm – mit mehr oder weniger guten Gründen – nach dem Leben trachteten, bleibt eine solche historische Ferndiagnose immer etwas windig. Das ist aber auch schon das einzige wirkliche Desiderat, dass ich als historischer Laie in Willms Darstellung habe finden können.

Will man unbedingt Kritikpunkte benennen, so ließe sich anmerken, dass Willms aufgrund seiner Konzentration auf die Legislative zahlreiche Aspekte der Revolution nur am Rande behandelt: So bleibt die Außen- und Eroberungspolitik der Revolutionsregierung für lange Zeit eher vage, bis Willms dies in einem späten Kapitel etwas gedrängt nachholt. Auch die kulturelle Umgestaltung der französischen Ge­sell­schaft, die antichristlichen und atheistischen Tendenzen eines Teils der Revolutionäre, die untrennbar verbunden sind mit einer ersten Hoch­zeit der empirischen Forschung und der spekulativen Anthropologie, werden nur gestreift. Doch muss man Willms zugestehen, dass er keinen wichtigen Aspekt auslässt und dass seine kurzen, präzisen Exkurse immer den Kern der Sache treffen. Insoweit ist Willms Historie innerhalb der von ihm selbst bestimmten Grenzen untadelig. Und, was mehr ist, sie ist exzellent geschrieben.

Eine historisch zugleich exakte und – trotz der benötigten fast 750 Seiten – konzise Geschichte der Revolution, die als Gesamtdarstellung ihresgleichen sucht, nicht für den historischen Fachmann, aber für den historisch Interessierten geschrieben. Jeder, der sich einen soliden Überblick über den politischen Verlauf der Revolution verschaffen will, wird in der nächsten Dekade und darüber hinaus zu diesem Buch greifen.

Johannes Willms: Tugend und Terror. Geschichte der Französischen Revolution. München: C. H. Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 831 Seiten. 29,95 €.

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)

Allen Lesern ins Stammbuch (71)

Ich habe mitunter schon von sogenannter schädlicher Lektüre reden hören, wie z. B. von berüchtigten Schauerromanen. Auf dieses Kapitel näher einzugehen möchten wir uns verbieten, aber so viel können wir sagen: das schlechteste Buch ist nicht so schlecht wie die völlige Gleichgültigkeit, die überhaupt nie ein Buch zur Hand nimmt. Das Schundbuch ist lange nicht so gefährlich, wie man vielleicht meint, und das sogenannte wirklich gute Buch ist unter Umständen durchaus nicht so gefahrlos, als man allgemein annehmen möchte. Geistige Dinge sind nie so harmlos wie etwa Schokoladeessen oder wie der Genuß eines Apfelkuchens. Grundsätzlich muß eben der Leser nur immer das Lesen vom Leben säuberlich zu trennen wissen.

Robert Walser
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Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit

Welwei-Griechische-FrühzeitEin kurzer Überblick über die Zeit von Beginn der europäischen Zivilisation auf Kreta bis zum Übergang der archaischen Periode zur klassischen Antike. Der im vergangenen Jahr verstorbene Althistoriker Karl-Wilhelm Welwei war zu Recht als einer der besten Kenner des antiken Griechenlands bekannt; entsprechend detailreich und dicht ist seine Darstellung geraten. Welwei behandelt alle wichtigen Aspekte der historischen Entwicklung, wobei er angenehmerweise gar nicht erst versucht, für die sogenannten Dunklen Jahrhunderte (ca. 1200–800 v.u.Z.) eine Erklärung zu liefern. Zwar erwähnt er die als mitursächlich anzunehmenden Erdbeben, deren Zerstörungen sich faktisch nachweisen lassen, doch verzichtet er darauf, die Spekulationen des 19. und 20. Jahrhunderts (barbarische Eroberer, Seuchen, rassische Degeneration etc.), für die es keinerlei archäologische Belege gibt, auch nur zu erwähnen.

Im zweiten Teil der Darstellung liegt das Hauptgewicht auf der verfassungsrechtlichen Entwicklung verschiedener lokaler Ethnien, die schließlich zu der Form der athenischen Demokratie führte, die das populäre Bild des klassischen Zeitalters prägt. Nebenbei wird in einem kurzen Kapitel auch die kulturelle Entwicklung in Architektur, Plastik, Keramik und Dichtung behandelt, wobei auf den wenigen Seiten nur die ganz großen Linien angedeutet werden können.

Die gedrängte Darstellung zielt eher auf ein studentisches Publikum ab, ist also für eine allererste Einführung in das Thema nur bedingt geeignet. Wer allerdings bereits eine allgemeine Idee von der historischen Entwicklung der griechischen Frühzeit hat, wird kaum einen auch nur annähernd kompakten und zugleich kompetenten und informativen Überblick zum Thema finden.

Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Frühzeit. 2000 bis 500 v. Chr. BR 2185. München: C.H. Beck, 22007. Broschur, 128 Seiten. 8,95 €.