Aus meinem Poesiealbum (XX) – Richard Wagner

(Er zieht sie mit wüthender Gluth an sich; sie sinkt mit einem Schrei an seine Brust. – Der Vorhang fällt schnell.)

Richard Wagner
Die Walküre, Ende des 1. Aufzuges

Er [Wagner] hat mir seine Trilogie geschickt. Der Kerl ist ein Dichter und kein Musiker. Es kommen allerdings tolle Dinge da vor. Einmal heißt es, der Vorhang fällt rasch. Wenn er aber nicht rasch fällt, dann kriegen wir böse Dinge da zu sehen.

Arthur Schopenhauer

David Foster Wallace: Der bleiche König

Das ist wie diese Kiste in der Physik: Wenn du das Experiment beobachtest, wird das Ergebnis vermasselt.

Wallace-Koenig„Der bleiche König“ ist der Roman, an dem David Forster Wallace bereits seit einigen Jahren gearbeitet hatte, als er sich umbrachte. Wallaces Agentin und sein Lektor haben aus dem umfangreichen Nachlassmaterial einen fragmentarischen Roman zusammengestellt, dessen im Original gut 530 Seiten einen unbekannten, aber kaum zu großen Bruchteil des Umfangs darstellen, den das Buch nach dem Willen des Autors hätte schließlich haben sollen. Das Fragment erschien 2011, drei Jahre nach dem Tod Wallaces; es wurde in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch vorgelegt, übersetzt von Ulrich Blumenbach, der auch schon Wallaces „Infinite Jest“ übersetzt hat.

Das Thema des Romans ist so ungewöhnlich, wie man es von Wallace erwarten darf: Der Hauptteil der Handlung spielt Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Prüfzentrum der US-amerikanischen Steuerbehörde IRS in Peoria, Illinois. Zahlreiche Figuren, darunter auch ein Alter ego des Autors, werden jeweils mit ihren Vorgeschichten vorgeführt und interagieren miteinander. Anders kann man die rudimentäre Handlung kaum beschreiben, denn eine Fabel im klassischen Sinne hat der Roman nur sehr hintergründig: Man kann als Leser den Verdacht entwickeln, dass der treibende Konflikt einer eventuell beabsichtigten oder noch geplanten Handlung der zunehmende Einsatz elektronischer Datenverarbeitung – in der Hauptsache unter Verwendung von Lochkarten – bei Vorbereitung und Durchführung von Steuerprüfungen ist. Doch liefert diese Fabel kaum eine Struktur für den vorliegenden Text.

Das eigentliche Thema des Buches scheint aber Langeweile zu sein: Wallace ist fasziniert von der tagtäglichen Existenz des normalen Steuerprüfers, die darin besteht, sich acht Stunden lang mit der trockensten, langweiligsten Materie der Welt, sprich: Steuererklärungen zu befassen. Er scheint zu glauben, dass die Voraussetzung für das Ausüben einer so eintönigen Tätigkeit in bestimmten Charaktereigenschaften liegt, die wiederum in den Vorgeschichten der Figuren entwickelt werden sollen. Das alles kann man schön und gut finden; auch dem artistisch durchaus anspruchsvollen Plan, Langeweile erzählen zu wollen, kann man Sympathie entgegenbringen. Das Problem aber ist die konkrete Umsetzung des Projekts: Zwar sind die skurrilen Vorgeschichten der meisten Figuren gerade noch interessant, doch das aus ihnen resultierende, einander ununterbrochen totquatschende Personal des Prüfzentrums hat immer nur für wenige Seiten meine Aufmerksamkeit fesseln können. Eine Ausnahme bildet vielleicht der nur in einem späten Kapitel eine Rolle spielende Shane Drinion, eine blasse Kopie des Vulkaniers Spock, der mit seiner emotionalen Isolation und seinem umfassenden Desinteresse die einzige positive Identifikationsfigur des Romans darstellt. Er ist es denn auch, der den Lektüreeindruck in einem Satz zusammenfasst:

»Hört sich anstrengend an«, sagt Drinion.

David Foster Wallace: Der bleiche König. Ein unvollendeter Roman. Aus dem amerikansichen Englisch von Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013. Kindle-Edition, 1702 KB, 640 Seiten (gedruckte Ausgabe). 23,99 €.

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman

mein ideal.
ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
Wiener-Verbesserung-2

Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine fruchtbare Zeit für das, was man damals „experimentelle Literatur“ nannte. Dieses formal und stofflich recht uneinheitliche Genre hatte seine deutschsprachige Gründungsschrift wahrscheinlich in Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) und sah – pars pro toto – Merkwürdigkeiten wie Thomas Bernhards Romane („Frost“ (1962)), Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1964), Günter Eichs „Maulwürfe“ (1968), Helmut Heißenbüttels „Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende“ (1970), Paul Wührs „Gegenmünchen“ (1970) und nicht zuletzt natürlich Arno Schmidts Mythos „Zettel’s Traum“ (1970).  Alle diese und zahlreiche andere Texte dieser Zeit galten und gelten zum Teil heute noch als schwer oder gar unlesbar  oder -verständlich und hätten bei dem heutigen Buchmarkt nur geringe Chancen, es an den Controllern und Finanzfachkräften in Lektorat und Vertrieb vorbei bis in die Druckerei zu schaffen.

Wiener-Verbesserung

Einer dieser Texte war Oswald Wieners Buch „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ (1969), das im Erscheinungsjahr erstaunliche drei Auflagen (achttausend Exemplare) erlebte, 1972 als Taschenbuch aufgelegt wurde (Abb. rechts) und 1985 nochmals erschien. Ob es sich 1985 auch verkauft hat, wage ich nicht zu mutmaßen. Weswegen das alles aber hier zur Sprache kommt, ist die überaus erstaunliche Tatsache, dass in den letzten Wochen im österreichischen Verlag Jung und Jung eine weitere Neuausgabe dieses Textes erschienen ist, von dem ich vermutet hätte, dass er inzwischen – sieht man von einigen wenigen eingepuppten Germanisten ab – komplett vergessen ist.

Oswald Wiener (geb. 1935) war einer der theoretischeren Köpfe der sogenannten Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Er hatte sich schon früh mit Kybernetik beschäftigt, ist außergewöhnlich breit belesen und hatte schon damals mehr Seiten Prosa weggeworfen, als mancher in seinem Leben überhaupt geschrieben hat. „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ – es wäre aufgrund der dem Titel ironisch angeklebten Gattungsbezeichnung mit Sicherheit eines der am häufigsten falsch zitierten und bibliographisch erfassten deutschsprachigen Bücher, wenn es denn zitiert würde – ist ein Konglomerat kürzerer und längerer Texte, die sich im Wesentlichen mit allem beschäftigen, was dem Autor während der 60er Jahre durch den Kopf gegangen sein dürfte. Es finden sich philosophische und linguistische Reflexionen über Sprache, poetologische und literarische Aphorismen, Tagebucheinträge, ein langer Essay „zum konzept des bio-adapters“, „zwei studien über das sitzen“, die en passant allen Peter-Handke-Enthusiasten zur Lektüre empfohlen seien, (zumindest mir) völlig unverständliche Ein-, Zwei- und Mehrzeiler, Schimpfereien  und Ressentiments, alles hinter- und untereinander gesetzt wohl in der Hoffnung, jene Authentizität der Literatur wiederzugewinnen, die durch die ewige Reproduktion derselben Formen verloren gegangen zu sein schien.

Der Leser muss für dieses Buch viel Geduld aufbringen und sich einlassen auf die sehr spezifische und unvermittelte Welt des Autors. Alternativ dazu kann er das Buch auch einfach nur durchblätternd anstaunen und lernen, was auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einmal möglich war. Jene Freiheit, die uns in den vergangenen 30 Jahren abhanden gekommen ist, scheint hier für einen Augenblick auf. Aber natürlich ist es zum Ausgleich heutzutage viel sicherer als damals. Wovor also fürchten wir uns?

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Salzburg: Jung und Jung, 2013. Pappband, 220 Seiten (davon 205 römisch nummeriert). 25,– €.

Dietmar Willoweit: Reich und Staat

Wie in jedem alternden Verfassungssystem bildet der Verfassungstext die  Verfassungsrealität nicht mehr adäquat ab.

Willoweit_ReichStaatEine sehr kurze Geschichte der deutschen staatsrechtlichen Verfasstheiten – von Verfassungen lässt sich für den größten Teil der deutschen Geschichte ja nicht sprechen. Dabei liefert Willoweit über weite Strecken der Darstellung jeweils kurze Abrisse der historischen Abläufe und thematisiert nur en passant, welche quasi verfassungsrechtlichen Grundsätze die Politik und die Entscheidungen der Handelnden lenken und beschränken. Erst ab dem 19. Jahrhundert, wenn tatsächliche Verfassungstexte vorliegen, wird die Perspektive juristischer.

Ich habe von einer »deutschen Verfassungsgeschichte«, wie das Buch im Untertitel heißt, eines Juristen eine deutlich abstraktere Analyse des Themas erwartet. Auf nur wenig mehr als 120 Seiten lässt sich auch ein einzelner Aspekt der deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zur Jetztzeit nur erfassen, wenn man mit einem starken Modell oder einer deutlichen Hypothese arbeitet. Das zwangsläufig immer anekdotisch bleibende Nacherzählen einzelner Ereignisse hat mir jedenfalls nicht genügt.

Die wenigen Seiten zum 20. Jahrhundert und insbesondere zur Verfassung der Bundesrepublik und der DDR sind dagegen so informativ, dass man sich wünschte, Willoweit hätte sich auf den Zeitraum ab Gründung der Weimarer Republik oder ab der Reichgründung 1871 konzentriert.

Dietmar Willoweit: Reich und Staat. Eine deutsche Verfassungsgeschichte. Lizenzausgabe. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013. Broschur, 128 Seiten. 4,50 €.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Jahresrückblick 2012

Wie bereits Ende letzten Jahres ein Rückblick auf die drei besten und die drei schlechtesten Lektüren des Jahres.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2012:

Echte Höhepunkte fehlten in diesem Jahr, insbesondere im Bereich der Neuerscheinungen, die ich gelesen habe. Vieles Gute, manches Ordentliche, aber nichts Außerordentliches war dabei. Daher fällt die Auswahl ein bisschen klassikerlastig aus:

  1. Herman Melville: Moby-Dick – auch nach vielen Durchgängen immer wieder ein Abenteuer.
  2. William Faulkner: Als ich im Sterben lag – da ich seit Jahren gern mehr Faulkner lesen würde, bin ich für die Neuübersetzungen bei Rowohlt sehr dankbar.
  3. Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde – eine beeindruckend dichte Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher im Peru der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2012:

  1. Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern – gänzlich überflüssige und unglaublich naive Gutmenschenfabel.
  2. Émile Zola: Der Traum – religiöse Schmonzette, stilistischer und inhaltlicher Ausreißer des Zyklus.
  3. Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!« – schlecht edierte und motivierte Sammlung vorgeblich jüdischer Witze.

 

Elizabeth Maguire: Fenimore

Daß auch Harry nur ein ganz normaler Mensch war, der es sich erlaubte, seinem Begehren nachzugeben, erfüllte mich mit einer Art erfürchtigem Respekt.

Maguire_FenimoreKleiner, etwas kitschig geratener Roman, der eine fiktive Autobiographie der US-amerikanischen Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson liefert, die man, obwohl zu Lebzeiten durchaus erfolgreich, heute wahrscheinlich kaum mehr kennen würde, wenn ihre Beziehung zu Henry James nicht Anlass zu ausgiebigem Klatsch bieten würde. Elizabeth Maguire liefert, wohl als Akt ausgleichender Ungerechtigkeit, eine Version aus der Sicht Woolsons.

Das Buch überzeugt nicht: Zwar fußt es auf einer offensichtlich gründlichen Kenntnis des Lebens und Werks Woolsons, doch wirkt es stilistisch bemüht und liefert eine erhebliche Menge von Plattitüden, die als Lebensweisheiten verstanden sein wollen. Literarische Peinlichkeiten wie die folgende sind nicht selten genug:

Die Füße gegen den Wind fest in die Erde gestemmt, betrachtete ich die uralten Steine von Stonehenge und bat sie, ihr Geheimnis preiszugeben. Doch es antwortete nur der Wind.

Aufgrund der Tatsache, dass ich weder das Original noch den anderen Roman der Autorin und auch nichts von Woolson kenne, kann ich nicht beurteilen, ob all dies Maguire zuzuschreiben ist oder es sich um einen Versuch stilistischer Imitation handelt. Dass auch das Deutsch der Übersetzerin nicht das beste ist, kann man oben am Motto ablesen. Wie es auch sein mag, schlecht bleibt es allemal.

Elizabeth Maguire: Fenimore. Aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen. dtv 13957. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Broschur, 256 Seiten. 9,90 €.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser

Wallace_WasserWas tut man, wenn man einen Autor hat, der ein zwar berühmtes, aber nur schwer lesbares Buch geschrieben hat, das zudem so dick ist, dass man es nur in einer ziemlich teuren Ausgabe verkaufen kann? Man sucht einen kürzeren, eingängigeren Text von ihm und hofft, dass seine Leser anschließend auch den Ziegelstein kaufen, selbst wenn sie ihn dann ungelesen ins Regal stellen.

Und was tut man, wenn der konsumierbarere Text zu kurz ist für ein eigenständiges Buch? Man setzt ihn in einer größeren Schrift. Und wenn er dann immer noch zu kurz ist? Dann macht man eine zweisprachige Ausgabe draus, damit der Buchhandel etwas hat, das im Regal nicht vollständig verloren geht.

So geschehen mit David Foster Wallace’ einziger Abschlussrede für einen College-Jahrgang, die er im Jahr 2005 gehalten hat. Wallace plädiert darin für eine andere Art der Aufmerksamkeit, die die unvermeidliche Routine im Leben eines Erwachsenen wenigstens erträglich machen soll. Der wichtigste Satz der ganzen Rede lautet:

The capital-T Truth is about life before death. It is about making it to thirty, or maybe even fifty, without wanting to shoot yourself in the head.

David Foster Wallace hat sich 2008 im Alter von 46 Jahren erhängt.

David Foster Wallace: Das hier ist Wasser / This is Water. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach. KiWi 1272. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012. Broschur, 62 Seiten. 4,99 €.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«

978-3-15-020240-1Im Jahr 1975 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Friedrich Torbergs: »Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten«. Darin finden sich unter anderem zahlreiche Anekdoten um den ebenso berühmten wie erfolglosen Wiener Strafverteidiger Dr. Hugo Sperber, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darunter auch folgende:

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche [Dr. Sperbers], der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.
An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf:
»Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?«

Das ist nun kein jüdischer Witz, sondern es ist erstens eine Anekdote, und wäre es zweitens ein Witz, so wäre es ein juristischer, für den es unerheblich ist, welcher Herkunft oder religiösen Überzeugung der Verteidiger ist. Das alles hindert Wüst nicht an folgendem:

Einbrecher. Ein Mann steht vor Gericht. Er soll zwei Einbrüche begangen haben, einen tagsüber und den anderen nachts. Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb in dem einen Fall besondere Frechheit vor, weil er sogar am hellen Tag eingebrochen sei, und in dem anderen Fall besondere Heimtücke, da er die Tat während der Dunkelheit begangen habe.
Da unterbricht der Verteidiger den Staatsanwalt:
»Herr Staatsanwalt, jetzt frage ich Sie: Wann soll mein Mandant denn eigentlich einbrechen?« [S. 316.]

Ebenso wenig wie so etwas möchte ich Heinrich Heines berühmtes »Dieu me pardonnera. C’est son metier.« anonymisiert und germanisiert als jüdischen Witz wiederfinden (S. 172).

Die Sammlung entgeht auch nicht immer der Gefahr, Witze, die auf der Ausschlachtung antisemitischer Klischees beruhen, für jüdischen Humor auszugeben:

Prozent. David zu seinem Großvater:
»Tate, wie heißt es richtig: drei Perzent oder drei Prozent?«
»Nu, besser sind fünf Prozent!« [S. 232.]

Ganz abgesehen davon, dass Wüst den Witz schlecht erzählt (es sollte heißen: »Tate, was ist besser: drei Perzent oder drei Prozent?« »Nu, besser sind fünf Perzent!«), zweifele ich nicht daran, dass es Juden gibt, die sich diesen Witz erzählen und darüber lachen. Ein jüdischer Witz wird es deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig werden lahme politische Witze über die Sowjetunion zu jüdischen Witzen, indem man einen der Akteure Blau, den anderen Grün nennt.

Die Sammlung ist alles in allem mäßig lustig und noch mäßiger gelungen. Wer das Buch von Salcia Landmann noch nicht sein eigen nennt, sollte lieber dazu greifen, die anderen sollten die 10 Euro lieber für etwas besseres ausgeben, zum Beispiel für Torbergs »Die Tante Jolesch«.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«. Jüdische Witze. Reclam Tb. 2040. Stuttgart: Reclam, 2011. Broschur, 340 Seiten. 9,95 €.

Aloys Winterling: Caligula

Der römischen Aristokratie müssen unter seiner Herrschaft so ungeheuerliche Dinge zugestoßen sein, daß man ihm posthum die höchste denkbare Stigmatisierung zuteil werden ließ: Er wurde als Monster und Wahnsinniger beschimpft und damit gleichsam aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen.

978-3-406-63233-4Caligula (12–41) ist einer der bekanntesten römischen Kaiser, da er spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als Musterbeispiel für den größenwahnsinnigen und psychopathischen Diktator dient. Winterlings Darstellung Caligulas widerspricht diesem Bild des Kaisers diametral: Aufgrund einer differenzierten und kritischen Lesart der antiken Quellen erscheint der Kaiser bei ihm als ein rational handelnder Monarch, der nach mehreren Versuchen, ihn zu beseitigen, den stillschweigenden Konsens zwischen Herrscher und Senat, den sein Urgroßvater Augustus etabliert hatte, aufkündigte und versuchte, eine echte Alleinherrschaft zu etablieren. Offensichtlich gelang es ihm aber nicht, in kurzer Zeit ein neues Gleichgewicht und eine den angestrebten Verhältnissen angemessene Kommunikation zu begründen, sondern nutzte die Doppelbödigkeit des früheren Missverhältnisses dazu, die römischen Oberschicht zu demütigen und in Angst und Schrecken zu versetzen. Konsequenterweise führte dies nur zu weiteren Intrigen gegen ihn, von denen eine ziemlich bald durchschlug.

Caligulas kurze Herrschaft markiert somit einen Tiefpunkt in der Entwicklung der frühen, römischen Kaiserzeit. Winterling weist aber darauf hin, dass keine der zeitgenössischen Quellen von einem pathologischen Wahnsinn des Kaisers ausgeht. Dort, wo das Wort fällt – etwa bei Seneca –, wird es in dem Sinne gebraucht, wie auch wir heutzutage von Bauwahn oder ähnlichem reden. Erst Sueton scheint das Konzept vom wahnsinnigen Kaiser erfunden und die Quellen entsprechend tendenziös ausgeschlachtet zu haben. Er verfolgte damit augenscheinlich den Zweck, die Rolle der römischen Oberschicht im 1. Jahrhundert zu schönen und so sein und das Renommee seiner Standeskollegen aufzupolieren.

Winterlings Darstellung ist durchweg überzeugend, gut lesbar und auch für den historischen Laien nachvollziehbar. Ein uneingeschränkt zu empfehlendes Buch.

Aloys Winterling: Caligula. Beck’sche Reihe 6035. München: C. H. Beck, 2012. Broschur, 208 Seiten. 14,95 €.