Edith Wharton: The House of Mirth

978-0-940450-31-8Dieser 1905 erschienene Roman war der erste bedeutende Erfolg Edith Whartons als Schriftstellerin und lange Zeit wohl einer der meistgelesenen Romane der USA. In Deutschland ist es Wharton nie recht gelungen, aus dem Schatten des bedeutenderen Henry James herauszutreten, auch wenn zahlreiche ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt wurden. Der Titel dieses Buches zitiert eine Stelle aus dem Prediger Salomon:

7.4 The heart of the wise is in the house of mourning; but the heart of fools is in the house of mirth. (Das Herz der Weisen ist im Klagehause, und das Herz der Narren im Hause der Freude. (Luther, 1912))

Erzählt werden gut zwei Jahre aus dem Leben der jungen Lily Bart, die aus der Schicht des New Yorker Geldadels des ausgehenden 19. Jahrhunderts stammt. Ihr Vater ist bankrott gegangen und verstorben und auch ihre Mutter lebt seit einiger Zeit nicht mehr. Lily wurde von einer Tante ins Haus genommen, die Lilys schmales Einkommen aus dem Erbe aufstockt, um es ihr zu ermöglichen, ein standesgemäßes Leben zu führen und einen Mann zu finden, der ihr auch zukünftig das luxuriöse Leben bieten kann, an das sie gewöhnt ist. Lily versteht auch sehr gut, dass dies ihr einziges realistisches Lebensziel ist, auch wenn sie die Gesellschaft, in der sie sich bewegt  wegen deren Hohlheit und Geistlosigkeit verachtet. Verliebt ist Lily dagegen in den Rechtsanwalt Lawrence Selden, der aber als Ehemann aufgrund seiner mangelhaften finanziellen Verhältnisse nicht ernsthaft in Betracht kommt. Dennoch verdirbt sich Lily für einen Flirt mit Selden leichtsinnig ihre Chancen bei einem der besten Kandidaten für die Rolle des Ehemanns und kann sich auch danach nicht entschließen, ihre Eheschließung als das Geschäft anzusehen, um das es sich offenbar handelt.

Der dramatische Knoten der Handlung wird geschürzt, in dem sich Lily, die deutlich mehr Geld ausgibt , als sie zur Verfügung hat, vom Ehemann einer Freundin Geld leiht; sie ist allerdings in der naiven Annahme, Gus Trenor lege ihr eigenes Geld für sie gewinnbringend an. Als Gus für das Geld eine entsprechende freundschaftliche Gegenleistung erwartet, verweigert sich Lily ihm voller Empörung. Dies ist der Beginn ihres gesellschaftlichen Niedergangs. Sie kommt ins Gerede der Gesellschaft, ihre Tante enterbt sie faktisch, indem sie ihr gerade die Summe aussetzt, die sie benötigt, um Trenor auszuzahlen, und eine ihrer Freundinnen benutzt Lilas angeschlagenen gesellschaftlichen Ruf, um von ihren eigenen außerehelichen Eskapaden abzulenken.

In der besseren Gesellschaft unmöglich gemacht, wird Lily zuerst in die Sphäre der Aufsteiger und Neureichen verdrängt, kann sich aber auch dort nicht auf Dauer halten und muss schließlich sogar für Geld arbeiten gehen, wofür sie sich als nicht besonders geeignet erweist. Sie weigert sich trotz alledem standhaft, einige kompromittierende Briefe, die ihr die Autorin in ihrer Voraussicht zugespielt hat, zu benutzen, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu erzwingen; auch zwei Rettungsversuche von Selden und dem gesellschaftlichen Aufsteiger Simon Rosedale, der Lily zwar aufrichtig liebt, dem aber jegliche Sentimentalität fremd ist, lehnt sie ab. Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Lily steht kurz davor, die kompromittierenden Briefe doch zu verwenden, besinnt sich aber eines besseren und vergiftet sich mit einer Überdosis eines Schlafmittels.

Das Buch glänzt besonders durch die zugleich intime, präzise und ironische Darstellung der Oberen Zehntausend der amerikanischen Ostküste. Doch kann die Figur Lily Barts nicht vollständig überzeugen: Einerseits teilt sie mit Lawrence Selden die ironische Distanz zu ihrer eigen Gesellschaftsschicht, andererseits wird an keiner Stelle klar, woraus sich dieses distanzierte Bewusstsein speist. Die Ursache ihrer Schwierigkeiten, die Ehe schlicht als ein Geschäft anzusehen, scheint eine Art moralischer Vorbehalt zu sein, wobei letztlich unklar bleibt, worin dieser Vorbehalt bestehen soll. Damit sie das ihr zugedachte Schicksal durchleiden kann, wird sie von ihrer Autorin zu einer High-Society-Version Emma Bovarys gemacht, gleichzeitig soll sie aber als Reflexionsfigur für die ironische Distanzierungen der Autorin dienen. Beides zugleich funktioniert aber nicht in derselben Figur. Daher bleibt am Ende auch Lily Barts Scheitern unglaubwürdig: Wäre sie der selbstständige Geist, als der sie erscheint, so würde sie ihr gesellschaftliches Scheitern zu einem neuen Leben abseits ihrer alten Bekanntschaften führen. Wäre sie das naive Opfer, als das sie erscheint, so bleibt es unverständlich, dass sie sich nicht jener Briefe bedient, um endgültig ihre Rolle in jener korrumpierten Gesellschaft zu spielen, die sie so dringlich zu spielen wünscht und für die sie – so wenigstens behauptet es die Autorin – aufgrund Vererbung und Erziehung prädestiniert ist. Angesichts dieser einander widersprechenden Tendenzen, weiß die Autorin am Ende keinen anderen Rat, um ihre Fabel zum Ende zu bringen, als in triviale Sentimentalität zu flüchten. So fehlt es dem Buch bei all seinen Qualitäten doch an Konsequenz und besonders seinem Ende an Originalität, um zu den wirklich großen Gesellschaftsromane gezählt werden zu können.

Edith Wharton: The House of Mirth. In: Novels. New York: Library of America, 82008. Leinen, fadengeheftet, Lesebändchen. 347 von insgesamt 1331 Seiten. Ca. 31,– €.

Johannes Willms: Talleyrand

Von den drei Möglichkeiten, die Talleyrand zwischen 1789 und 1814/15 aufgrund seines aristokratischen Herkommens hatte, Emigration, Passivität oder die Bereitschaft, dem Staat, sprich dem jeweiligen Regime, zu dienen, entschied er sich immer für das Letztere.

978-3-406-62145-1Johannes Willms setzt die Reihe seiner französischen Biographien fort, diesmal mit einem Seitenstück zu seiner umfangreichen Napoleon-Biographie. Talleyrand ist wohl eine der schillerndsten politischen Figuren der Wendezeit zur europäischen Moderne. Er hat es verstanden sowohl vor und während der Französischen Revolution als auch unter Napoleon und der auf ihn folgenden Restauration bedeutende politische Positionen einzunehmen. Keine seiner politischen Niederlagen hat ihn wirklich zu Fall gebracht, jeder seiner Rücktritte markiert nur eine Phase des Übergangs bis zum nächsten Aufstieg in Amt und Würden. Selbst als er sich mit guten Gründen und aus freien Stücken endgültig ins Privatleben zurückziehen wollte, erwies sich sein Drang zu Macht und Einfluss als zu stark, und er betrat binnen Kurzem wieder die politische Bühne. Dabei muss er im persönlichen Umgang ein bestrickender Gesprächspartner voller Esprit gewesen sein.

Johannes Willms zeigt sich mit diesem Buch einmal mehr als ein vorzüglicher Biograph, der nicht nur exzellent schreibt, sondern es auch versteht, den richtigen Abstand zu seinem Objekt einzunehmen: Weder verherrlicht er Talleyrand noch stimmt er in die Kritik ein, die in diesem Mann hauptsächlich einen schamlosen Opportunisten der Macht erkennen will. Sein Blick auf Talleyrand ist differenziert und von einem tiefen Verständnis für dessen Person und die gesellschaftliche, soziale und politische Situation Frankreichs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getragen. Dabei scheut er sich nicht vor starken, eigenständigen Urteilen, die zum Teil so ausfallen, dass ihm die historische Forschung kaum wird folgen wollen, was nicht heißen soll, dass diese Urteile falsch sind. Und da Willms spätestens seit seiner Napoleon-Biographie als ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte gelten darf, hat das Buch zudem den Vorteil, dem Leser wie nebenbei eine kleine Historie der Französischen Revolution und ihrer Folgen für Frankreich und Europa zu liefern.

Nicht nur wer Willms »Napoleon« goutiert hat, sollte dieses Buch nicht an sich vorbeigehen lassen, sondern auch all jene, die sich für die Französische Revolution als einem der Keime der heutigen westlichen Welt interessieren.

Johannes Wilms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754–1838. München: C. H. Beck, 2011. Pappband, Lesebändchen, 384 Seiten. 26,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (44)

»Ich – nenne mich Rezensent H … und bin ein Ästhetiker, und diese Herren – sind Originalgenies, die Sie nicht durch jene verwegne Benennung beleidigen sollten – Sie, der Sie ohne die mindeste Originalität gerade auf zwei Beinen wie alle Menschen einhergehn!« –
»Und was ist Ihre Verrichtung bei diesen –«
»Ich habe acht«, fiel ihm der Rezensent ein, »und sobald ein neuer Stern an dem Horizonte der Originalgeister aufsteigt, so verkündige ich mit lauter Stimme: Sehet, abermals ein Originalgenie, abermals ein Stern der ersten Größe!«

Johann Karl Wezel
Silvans Bibliothek

James Wood: How Fiction Works

A great deal of nonsense is written every day …

978-1-845-95093-4Da gerade die deutsche Übersetzung dieses in der englischsprachigen Welt nahezu durchweg positiv besprochenen Büchleins erschienen ist, habe ich mir endlich einmal das Original besorgt und angelesen. Wood selbst stellt seine Einführung in die Belltristik in eine Reihe mit Ruskins »The Elements of Drawing« (1857); es scheint also für alle jene geschrieben, die zwar die Literatur lieben, aber wenig Bewusstsein für ihre Gemachtheit besitzen. Von daher gehöre ich eher nicht zur Zielgruppe des Autors, und ich sollte mich vielleicht eines Urteils gänzlich enthalten. Da nun aber zumindest einige Leser hier ebenfalls nicht zur Zielgruppe gehören, mögen wenigstens diese gewarnt sein und Zeit und Geld sparen.

Ich habe mich bei der Lektüre gehörig gelangweilt, da ich weder originelle noch sonst überraschende oder erhellende Gedanke finden konnte. Die zweite Hälfte habe ich denn auch nur noch kursorisch angeschaut, und die Lektüre dann schulterzuckend abgebrochen. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Buch für den Normal-Leser nicht anregend sein kann. Die meisten Leser begegnen einem fiktionalen Text in der Regel wie einem Naturereignis. Nur wenige machen sich bewusst, dass in einer Fiktion jedes einzelne Detail auf einer bewussten oder unbewussten Entscheidung des Autors beruht, dass jedes einzelne Detail auch anderes hätte ausfallen können – natürlich oft mit weitreichenden Folgen für den gesamten Text.

Es ist sicherlich so, dass Wood die Grundelemente, die die Erscheinung und das Gelingen eines Textes bestimmen (so etwa Erzählperspektive, grammatikalische und ontologische Zeit, Bestimmtheit oder Vagheit, Charakterbildung und Sprache), kurz und prägnant anreißt. Dabei verzichtet er sowohl auf jeden systematischen Balast als auch auf akademische Sprache und Gestus. Er plaudert in kürzeren und längeren Abschnitten über das, worauf man beim Lesen achten könnten, liefert zahlreiche Beispiele aus der gehobenen Literatur, die er zumeist angemessen erläutert. Hier und da zuckt der professionelle Leser auch einmal zusammen, weil Wood deutlich zu kurz greift, aber so richtig falsch gerät es an keiner Stelle; so richtig richtig aber eben auch nicht.

James Wood: How Fiction Works. London: Vintage, 52009. Broschur, 194 Seiten. 10,– €.

Aus gegebenem Anlass (II)

Mittelmäßige Autoren, die ein kleines Buch so ankündigen, als ob sie einen großen Riesen wollten sehen lassen, sollten von der literarischen Polizei genötigt werden, ihr Produkt mit dem Motto stempeln zu lassen: This is the greatest elephant in the world, except himself.

Friedrich Schlegel
Kritische Fragmente

Wieland in Oßmannstedt

978-3-937434-23-0Kleines Heft aus der Reihe »Menschen und Orte«, die ich bislang noch nicht kannte. Bekanntlich erwarb Christoph Martin Wieland 1797 ein Landgut in Oßmannstedt in der Nähe Weimars, um sich, ohne rechten Erfolg, als Landwirt zu versuchen. Das Haus ist, nachdem es zuletzt als Schule gedient hatte, von der Stiftung Weimarer Klassik zu Anfang des 21. Jahrhunderts endlich renoviert und die ehemals winzige Gedenkstätte (zwei Räume) erweitert worden, um den Begründer des Weimarischen Musenhofs an dieser Stelle angemessen präsentieren zu können. Der Ort ist natürlich allein deshalb wichtig, weil Wieland dort zusammen mit seiner Frau Dorothea und der »Seelentochter« Sophie Brentano in einem der schönst gelegenen deutschen Dichtergräber liegt.

Das nur 32 Seiten starke Heft enthält zahlreiche Abbildungen und Fotographien, und in der sie begleitenden, kenntnisreichen Biographie lassen sich auch vom Kenner noch nette Funde machen:

Mit Sorge betrachtete er [Wieland] die zunehmende Schwäche Dorotheas. Vierzehn Kinder hatte sie ihm geboren. „Es wären noch mehr geworden, wenn sich die Eheleute nicht zeitlebens gesiezt hätten“, hatte Goethes Freundin Charlotte von Stein gespottet.

Christoph Martin Wieland in Oßmannstedt. Text: Bernd Erhard Fischer. Photographien: Angelika Fischer. Berlin: Ed. A·B·Fischer, 2008. 32 Seiten, geheftet. 7,80 €.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten

978-3-10-089434-2Sönke Neitzel hat im Jahr 2005 unter dem Titel »Abgehört« einen ersten Band mit Abhörprotokollen des britischen Militärgeheimdienstes veröffentlicht, die während des 2. Weltkrieges in der Hauptsache im Gefangenenlager Trent Park in der Nähe Londons erstellt worden waren. In Trent Park war eine handverlesene Gruppe höherer Offiziere interniert, von denen sich der Geheimdienst besonders ergiebige Erkenntnisse erwartete. Bei »Soldaten« handelt es sich um eine Erweiterung dieses ersten Bandes. Diesmal werden auch Abhörprotokolle von Mannschaftsdienstgraden ausgewertet. Im Vergleich zu »Abgehört« wurde die Gewichtung zwischen Dokumentation und Interpretation bei diesem neuen Band deutlich zu Ungunsten der Dokumentation verschoben. Die Zusammenarbeit mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer führt dazu, dass der Textanteil des deutenden Zugriffs in diesem Buch den der eigentlichen Protokolle deutlich überwiegt. Das Buch ist daher offensichtlich eher für den historischen Laien gedacht.

Das leitende Interesse der Autoren ist das Phänomen der Gewalt, wobei sie von der oft diskutierten Frage ausgehen, wieso Wehrmachtsangehörige während des Krieges Gewalt gegen Zivilisten ausgeübt haben und darüber hinaus aus auch an offenbar verbrecherischen Aktionen, selbst wenn sie diese Aktionen aus moralischen oder anderen Gründen innerlich abgelehnt haben. Dabei wird die Erklärung zurückgewiesen, dass durch das Kriegsgeschehen eine Verrohung der Soldaten eintritt, sondern Welzer vertritt die Auffassung, dass der militärische Bezugsrahmen bereits genügt, um ausreichende Bedingungen für Gewaltexzesse zu schaffen. Ausführlich wird dabei untersucht, wie und in welchem Umfang die Ideologie und der Rassebegriff des Nationalsozialismus Einfluss auf Selbstverständnis und Handeln der Soldaten hatten.

Die grundsätzlich vertretene These ist, dass Gewalt nicht als eine Ausnahmeerscheinung der menschlichen Existenz angesehen werden sollte:

Der Krieg und das Handeln der Arbeiter und Handwerker des Krieges sind banal, so banal, wie es das Verhalten von Menschen unter heteronomen Bedingen – also im Beteib, in einer Behörde, in der Schule oder in der Universität – immer ist. Gleichwohl entbindet diese Banalität die extremste Gewalt der Menschheitsgeschichte und hinterlässt mehr als 50 Millionen Tote und einen in vielerlei Hinsicht auf Jahrzehnte verwüsteten Kontinent. (S. 409)

Soldaten lösen ihre Aufgaben im Krieg mit Gewalt; das ist auch schon das Einzige, was ihr Tun systematisch von dem anderer Arbeiter, Angestellten und Beamten unterscheidet. Und sie Produzieren andere Ergebnisse als zivile Arbeitende: Tote und Zerstörung. (S. 439)

Wenn man aufhört, Gewalt als Abweichung zu definieren, lernt man mehr über unsere Gesellschaft und wie sie funktioniert, als wenn man ihre Illusionen über sich selbst weiter teilt. Wenn man also Gewalt in ihren unterschiedlichen Gestalten in das Inventar sozialer Handlungsmöglichkeiten menschlicher Überlebensgemeinschaften zurückordnet, sieht man, dass diese immer auch Vernichtungsgemeinschaften sind. Das Vertrauen der Moderne in ihre Gewaltferne ist illusionär. Menschen töten aus den verschiedensten Gründen. Soldaten töten, weil das ihre Aufgabe ist. (S. 445)

Ich kann mich dieser Sicht nur schwer entziehen, muss aber kritisch feststellen, dass das im Buch vorgeführte Material diese Grundauffassung zwar überzeugend illustriert, aber letztlich nicht beweist. Was das Autorenteam zwar immer mit reflektiert, letztlich aber nicht ernsthaft bei der Bewertung der Protokolle berücksichtigen kann, ist, dass diese Gespräche zwischen Soldaten in Gefangenschaft auch immer gruppendynamischen Zwängen unterliegen:

… gewiss ist er der Kommunikationssituation geschuldet, die eine Infragestellung des militärischen Wertekanons auch und vielleicht gerade in der Gefangenschaft nicht zuließ. (S. 357)

Oder:

… möglicherweise hat er aber auch schlicht gelogen, um seinen Gesprächspartner zu beeindrucken. (S. 362)

Dieser prinzipielle Zweifel ist natürlich nicht auszuräumen, doch wie schon Aristoteles betonte, darf man von jedem Urteil nur den Grad an Genauigkeit erwarten, den der vorliegende Gegenstand erlaubt.

Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt: S. Fischer, 2011. Pappband, 520 Seiten. 22,95 €.

Zum 100. Geburtstag von Tennessee Williams

Morgens, in der Straßenbahn, sieht man deutlich die Verheerungen, die die Schriftsteller unter uns anrichten; wie sie uns ihre Gedankengänge, die verruchtesten Gebärden, aufzwingen. Gestern hob der junge Mensch mir gegenüber – er ist Student an der Technischen Hochschule, und las einen mir übrigens unbekannten ‹Tennessee Williams› (so hießen in meiner Jugend allenfalls die exotischen Verbrechertypen, ‹Alaska=Jim› und ‹Palisaden=Emil›!) – also der hob den Kopf, und besah mich mit so unverhüllter Mordgier, daß ich mir davor bebend den Hut tiefer in die Stirn zog; auch eine Station früher ausstieg (beinah wär ich zu spät ins Geschäft gekommen. Wahrscheinlich hatte er mich langsam von unten herauf in Scheiben geschnitten; oder in einen Sack gebunden, und mich von tobsüchtigen Irren mit Bleischuhen zertanzen lassen!).

Arno Schmidt
Was soll ich tun?

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe

978-3-423-19511-9Nicht die aktuelle Lektüre, sondern eine neue Ausgabe des Buches ist der Anlass für diesen Artikel, und auch nicht der Inhalt, sondern mehr die Aufmachung. Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat eine sehr schön gestaltete Jubiläumsreihe herausgebracht: Flexible, bedruckte Leineneinbände schmücken Klassiker und Erfolgsbücher des Verlags. Darunter in der Sachbuch-Reihe eben auch Weischedels inzwischen betagte, aber dennoch ungebrochen beliebte Einführung in die Philosophie.

Allerdings scheinen mit dem Buchhersteller in diesem Fall die visuellen Pferde durchgegangen zu sein, denn wie oben zu sehen ist, ist ihm die Hintertreppe doch etwas pompös geraten. Wenn das, was auf dem Umschlag zu sehen ist, tatsächlich die Hintertreppe sein sollte, was muss das für ein gargantueskes Gebäude sein und wie muss man sich erst das Haupttreppenhaus denken?

Andererseits könnte man hier einen Fall von subtilem Humor vermuten. Vielleicht hat er sich gedacht, dass das Gebäude der Philosophie, über mehrere Jahrtausende gewachsen, tatsächlich mittlerweile ein so pompöser und stilistisch heillos ruinierter Bau sein muss, dass es doch sein könnte, dass dieser prachtvolle und ehemals repräsentative Zugang schon seit langem als Hintertreppe dient. Dann könnte hier sogar eine kleine Erkenntnis versteckt sein, dass nämlich die allermeisten Leser philosophischer Einführungen niemals über diese hinauskommen. Sie lesen dann von Zeit zu Zeit mit immer größerer Ratlosigkeit eine Einführung um die andere, aber jedes Mal wenn sie dann endlich zur eigentlich Türe hinein wollen, finden sie sie so verschlossen wie beim letzten Versuch. So optimistisch einen solche Einführungen auch immer stimmen mögen, kaum eine von ihnen führt tatsächlich ins Gebäude hinein. Das gilt leider auch für Weischedels nette und durchaus anspruchsvolle »Hintertreppe«. Nachdem man auf ihr hinauf gestiegen ist, findet man, dass das Gebäude der Philosophie zwar eine Hintertreppe haben mag, aber keinen Dienstboteneingang.

In diesem Sinne sei das Buch wärmstens empfohlen!

Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. dtv 19511. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011. Bedrucktes Leinen, 336 Seiten. 10,– €.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends

3-423-11928-4Zweitlektüre, zum einen als mein Einstieg ins Kleist-Jahr 2011, zum anderen aus didaktischem Anlass. Mein Gedächtnis will die erste Lektüre in die Zeit des Studiums verlegen, doch meine Ausgabe belehrt mich eines anderen: Sie stammt aus dem Jahr 1994. Auch sonst ist von damals nicht viel in Erinnerung geblieben, und ich fürchte, dass das auch diesmal nicht viel anders gehen wird.

Erzählt wird eine fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist im Juni 1804 in Winkel am Rhein im Haus der Brentanos. Karoline ist in Begleitung des Ehepaars Savigny, Kleist in der des Arztes Wedekind, in dessen Haushalt er halb als Patient, halb als Gast lebt. Außerdem anwesend sind Clemens Brentano mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Bettine sowie weitere prominente Gäste. Nach anfänglichem Fremdeln geraten die Günderrode und Kleist schließlich auf einem Spaziergang in ein tiefschürfendes Gespräch, in dem beider Missverhältnis zur Welt ausführlich zur Sprache kommt.

Solche fiktiven Gespräche, in denen sich in der Hauptsache der Autor, in diesem Fall die Autorin mit sich selbst unterhält, wurden klassischerweise als Totengespräche inszeniert. Es ist nicht nur durch das ideologische Umfeld, in dem der Text entstand, verständlich, dass Wolf auf eine derartige metaphysische Szenerie verzichtet. Außerdem fügt es dem Gespräch eine gewisse existentielle Note hinzu, dass ihr Selbstmord den beiden Teilnehmern noch bevorsteht. Ob sich die Günderrode und Kleist tatsächlich in ein derartig spätpubertäres, hochtrabendes Geraune verloren hätten, wie Wolf imaginiert, soll ruhig jeder Leser für sich entscheiden. Hübsch ist natürlich der Titel, bei dem es sich um die Eindeutschung des Wortes »Utopie« handelt.

Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends. dtv 11928. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1994. 150 Seiten.