Im Osten […] lebte ein gewisser Mann, der über den Markt von Damaskus ging, als ihm der Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat. Er bemerkte einen Ausdruck der Überraschung in der Miene der schauerlichen Erscheinung, doch gingen sie wortlos aneinander vorüber. Der Mann bekam’s mit der Angst zu tun und suchte einen Weisen auf, sich Rats zu holen. Der Weise sagte ihm, daß der Tod vermutlich nach Damaskus gekommen sei, um ihn am nächsten Morgen zu holen. Der arme Kerl war darob naturgemäß höchstlich entsetzt und fragte, wie er dem entrinnen könne. Das einzige, was ihnen einfiel, war, daß das Opfer noch in der Nacht nach Aleppo reiten solle, um so dem Schädel und den blutigen Knochen zu entkommen.
Der Mann ritt also tatsächlich nach Aleppo – es war ein ungeheuer anstrengender Ritt, den noch niemand in einer einzigen Nacht geschafft hatte –, und als er dort war, ging er über den Markt und gratulierte sich, daß er dem Tod entgangen sei.
In diesem Augenblick kam der Tod und klopfte ihm auf die Schulter. »Entschuldige«, sagte er, »aber ich wollte dich holen.« »Wieso denn?« rief der Mann entsetzt, »ich hab’ gedacht, ich wär’ dir gestern in Damaskus begegnet!« »Genau das«, sagte der Tod. »Deshalb hab’ ich so überrascht dreingeschaut – denn mir war gesagt worden, ich würde dich heute in Aleppo treffen.«
Kategorie: W
T. H. White: Der König auf Camelot
Wahrscheinlich haben nur sehr wenige Leser die letzte, große mittelalterliche Bearbeitung des Artus-Stoffes von Thomas Malory zugleich so ernst genommen und so respektlos behandelt wie Terence Hanbury White (1906–1964), der mit seinem vierteiligen Roman Der König auf Camelot (im Original The Once and Future King) eine interessante und witzige moderne Bearbeitung des Stoffkreises geliefert hat. Das Buch hat es im englischen Sprachraum bis in den Kanon der Schullektüre geschafft, ist in Deutschland aber – wahrscheinlich aufgrund des Erscheinungsortes – ein wenig in die Fantasy-Ecke geraten, wo das Buch nicht wirklich hingehört.
Hauptsächlich auf der Grundlage des spätmittelalterlichen Le Morte d’Arthur, aber mit offensichtlicher Kenntnis auch anderer Quellen, schreibt White einen hochmittelalterlichen Artus-Roman, der zugleich die politischen und kriegerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Im Kern des Romans steht Artus’ Plan, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu erschaffen, in der nicht mehr Gewalt vor Recht geht. Aus diesem Grundthema heraus entwickelt White Artus’ persönliche Tragödie, die er bis vor die letzte Schlacht des alten Königs gegen seinen Sohn Mordred vorantreibt.
Als erste Besonderheit erscheint dabei sicherlich die ausführliche Darstellung von Artus’ Kindheit und Jugend und seiner Erziehung durch den Zauberer Merlin, der bei White rückwärts lebt und auf diese Weise das Wissen um die Zukunft der Menschheit mit in die Ausbildung des zukünftigen Königs einfließen lässt. Merlin sorgt durch vielfache Verwandlungen des jungen Artus in diverse Tiere dafür, dass er die Welt aus zahlreichen Perspektiven zu sehen lernt, was ihn später zu einem zwar nicht besonders klugen, dafür aber um so toleranteren und weiseren Herrscher werden lässt. Erst am Ende des ersten Bandes findet sich die berühmte Szene, in der Artus das Schwert aus dem Stein zieht und damit seinen Anspruch auf den Thron beweist.
Der zweite Band ist der politischen Neuordnung Englands durch Krieg und Unterwerfung gewidmet, im Zentrum des dritten Bandes stehen die Geschichte Lanzelots und die Gründung der Tafelrunde, und im vierten Band schließlich der Zusammenbruch des neu geschaffenen gerechten Staatswesens, das von den alten Kräften gegen sich selbst gewendet wird. Artus’ Vision scheitert letztlich daran, dass der gerechten Staat keine gerechten Bürger hat.
All dies ließe vermuten, dass es sich bei diesem Buch um ein schwerblütiges philosophisches Werk handelt, aber White versteht es, dem Buch durch eine konsequente Vermenschlichung der heldischen Vorkämpfer und grundlegend satirische Darstellung des Rittertums eine überraschende Leichtigkeit zu geben. Es ist Whites alles durchdringender Humor, der dieses Buch zu etwas besonderem macht. Dabei greift sein Erzähler immer wieder direkt auf die Lebenswelt seiner eigenen Zeitgenossen zurück und macht klar, dass dieses Buch über und für die moderne Welt geschrieben ist.
Alternativ zur Lektüre bietet sich eine vollständige Hörbuchfassung von Jochen Malmsheimer an. Die Lesung ist durchgehend gut, einzig in den Dialogen sind Malmsheimers Männer hier und da etwas laut. Besonders aber die älteren Ritter, Merlin und die humoristischen Passagen gestaltet er unvergleichlich. Leider ist die Lesung auf vier CD-Boxen (mit insgesamt 19 Audio-CDs) aufgeteilt, woraus sich ein Gesamtpreis von etwa 100,– € ergibt.
T. H. White: Der König auf Camelot. Vier Bücher in einem Band. Aus dem Englischen von Rudolf Rocholl. Stuttgart: Klett-Cotta, Neuaufl. 2006. Pappband, 635 Seiten. 25,– €.
T. H. White: Der König auf Camelot. Vollständige Lesung in vier Teilen von Jochen Malmsheimer. Gesamtspielzeit gut 24 Stunden. Bochum: Roof Music, 2006. 1. Das Schwert im Stein – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 2. Die Königin von Luft und Dunkelheit – 3 Audio-CDs – 22,90 € (UVP). 3. Der missratene Ritter – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 4. Die Kerze im Wind – 4 Audio-CDs – 24,95 € (UVP).
P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie!
Wieder ein Band in der guten Übersetzung von Thomas Schlachter, von der andere hier schon vorgestellt wurden. Er ist nach dem bewährten Strickmuster Wodehouses geschrieben: Ein begrenztes Personal wird auf einem Landsitz – diesmal Claines Hall in Sussex – versammelt, eine Anzahl einer widersprechender Interessen ins Werk gesetzt und dann konsequent ein Reigen der Verwirrungen und Verwechslungen durchgeführt. Der Landsitz gehört in diesem Fall Mable und Howard Steptoe, einem amerikanischen Ehepaar. Mable versucht mit einigem Aufwand vom lokalen Adel anerkannt zu werden, während sich Howard, ein ehemaliger Boxer und Filmstatist, sich in England denkbar unwohl und fehl am Platz fühlt. Mable versucht ihren Gatten mithilfe eines Kammerdieners zur Gesellschaftsfähigkeit zu erziehen, hat damit aber nur begrenzten Erfolg, da Howard einen Diener nach dem anderen vergrault. Auf dem Landsitz leben außerdem noch Sally Fairmile, eine verarmte Nichte der Steptoes, die die Stelle einer unbezahlten Bediensteten ausfüllt, Mrs Chavendar, eine Freundin Mables, und Lord Holbeton, der sich gerade heimlich mit Sally verlobt hat. Holbeton steht nach dem Tod seines Vaters unter der Vormundschaft von James Duff, eines Londoner Schinkenfabrikanten, der zudem noch vor 15 Jahren mit Mrs Chavendar verlobt war.
Alles beginnt nun damit, dass sowohl Mrs Chavendar als auch Sally die Büroräume James Duffs aufsuchen, jene, um sich über die Ungenießbarkeit des Duffschen Premium-Schickens zu beschweren, diese, um Duff über die Verlobung in Kenntnis zu setzen und nach Möglichkeit ein bisschen Geld aus dem alten Herrn herauszubetteln. Beide Damen treffen aber hauptsächlich auf Joss Weatherby, einem von James Duff beschäftigten jungen Malers, der einerseits Duff das Leben gerettet, andererseits Mrs Chavendar porträtiert hat. Joss verliebt sich Knall und Fall in Sally, von der er unter anderem erfährt, dass sie wieder einmal auf der Suche nach einem neuen Kammerdiener für Howard Steptoe ist. Joss erkennt darin eine Chance, Sally den Hof zu machen und fährt sofort nach Claines Hall, um sich auf die Stelle zu bewerben. Duff dagegen setzt es sich in den Kopf, das in Caines Hall befindliche Porträt Mrs Chavendars in seinen Besitz zu bringen, um dieses Konterfei zu Werbezwecken für seine Schinken einzusetzen. Auch er macht sich daher nach Sussex auf und stiftet vor Ort sowohl Sally und Lord Holbeton als auch Joss dazu an, das Bild zu stehlen.
Aus dieser Konstellation heraus entwickelt Wodehouse eine seiner routinierten Prosakomödien, deren Motive der Wodehouse-Kenner sicherlich schon aus dem einen und anderen kennen wird. Dennoch eine angenehme und elegante Lektüre für Zwischendurch.
P.G. Wodehouse: Jetzt oder nie! Mit einem Nachwort von Evelyn Waugh. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Suhrkamp Taschenbuch 3774. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2006. 235 Seiten. 7,90 €.
Martin Walser: Ein liebender Mann
Das Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.
Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.
Geschrieben ist das Buch in jener hölzernen Prosa, die auch schon frühere Bücher Walsers ausgezeichnet hat. Auch dieses Buch ist eher monologisch, repetitiv und eintönig geraten. Es scheint Walser nicht mehr groß darauf anzukommen, worüber er schreibt, er ergießt seine Sprache über alles und ebnet mit ihr alle Differenzen ein: In allen Teilen des Buches herrscht derselbe überspannte und überhöhte Ton, selbst dort, wo Entspannung oder Intimität behauptet wird. Mancher mag das für Stil halten, es ist aber nicht mehr als eine steife Manier, die jegliche Beweglichkeit, jede Angemessenheit an den verhandelten Gegenstand oder die konkrete Situation vermissen lässt und stets nur sich selbst setzt und niemanden und nichts zu Wort kommen lässt. Wie weit Walsers Sprache – trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen – von der Goethes entfernt ist, kann man exemplarisch an dem durchgehend verwendeten, hässlichen Wort „kriegen“ (im Sinne von „bekommen“) ablesen, das in diesem Buch wohl ungefähr sooft verwendet wird wie im Gesamtwerk Goethes – um von der Variante „mitkriegen“ ganz zu schweigen.
Inhaltlich ist das Buch so spekulativ, wie es angesichts der Quellenlage sein muss. Man kann Walsers Einfälle schätzen, seine Erfindungen glücklich finden; ebenso gut kann man die konkrete Fabel als albern, lärmend und langatmig bezeichnen. Ob es nötig ist, die einzige ausführliche authentische Quelle – die Aufzeichnungen der alternden Ulrike von Levetzow – Lügen zu strafen, mag ebenfalls eine Geschmacksfrage sein. Bezeichnender ist, dass Walser zum zentralen Goetheschen Text, der Marienbader Elegie, die vollständig abgedruckt wird, nichts als Allgemeinplätze und Phrasen mitzuteilen hat. Die besten Urteile sind noch die, die er aus den zeitgenössischen Quellen abschreibt – der Rest ist Schweigen. Dass die Marienbader Elegie entstanden ist, wird wahrheitsgemäß berichtet, wie sie aber möglich gewesen ist, bleibt demjenigen, der nur Walsers Goethe kennt, gänzlich unverständlich. Trotz des gewaltigen Aufwands an vorgeblicher Einsicht in die Goetheschen Gedanken bleibt Goethe dem Leser wesentlich fremd. Es ist schlicht falsch, dass Goethe in den Wochen und Monaten nach der Trennung in Karlsbad nichts als Getriebensein, Verzweiflung, Neigung zum Suizid erlebt und empfunden habe und ihm jene bei ihm stets vorhandene zweite, distanzierte und objektive Ebene der Reflexion unzugänglich geblieben wäre. Dass sie Walser fehlt, dokumentiert der Roman; dass und wie sehr sie Goethe zugänglich war, dokumentieren die vorhandenen Quellen. Dies als „Entsagungstheater“ oder „kulturellen Firnis“ denunzieren zu müssen, ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, wie fremd Walsers Lamentieren dem Goetheschen Wesen geblieben ist.
Dass der Roman auch mit den historischen Tatsachen flüchtig und oberflächlich umgeht, ist bereits an einem Beispiel aufgezeigt worden. Es ist nicht das einzige. Offensichtlich war es sowohl dem Autor als auch dem Lektorat zu lästig, das Buch einmal gründlich anzuschauen. Mag auch sein, dass Walser wenigstens mit einem Satz Recht behalten hat:
Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.
Das würde einiges erklären.
Bestürzend aber ist einmal mehr, als wie weit entfernt von Goethe sich ein Großteil des deutschen Kulturbetriebs gerade in den Momenten beweist, wo er ihn angeblich feiert. Goethe verkommt den Deutschen bei jedem Durchgang mehr zur Phrase.
Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 287 Seiten. 19,90 €.
Johannes Willms: Balzac
Johannes Willms legt eine sehr lesbare, detaillierte und kenntnisreiche Biographie dieses in Deutschland immer noch als zweitrangig betrachteten Autors vor. Im Gegensatz zu vielen Schriftstellerbiographien akademischen Ursprungs handelt es sich tatsächlich um eine Lebensbeschreibung, nicht um eine Einführung ins Werk. Auch im Gegensatz zu den akademischen Gepflogenheiten verzichtet Willms auf Fußoder Endnoten oder ein ausführliches Verzeichnis der benutzten Sekundärliteratur, was ihm die meisten Leser wahrscheinlich danken werden. Was allerdings schmerzlich fehlt sind Abbildungen; besonders Reproduktionen der an einigen Stellen erwähnten zahlreichen Karikaturen Balzacs habe ich vermisst.
Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Klatsch und Tratsch auf hohem Niveau. Balzac hat Zeit seines Lebens mit seinen ständig wachsenden Schulden und seinen Gläubigern gerungen, was ihn allerdings nicht davon abgehalten hat, seinen luxuriösen Lebensstil fortzuführen, ja den Luxus entgegen besserer finanzieller Einsicht immer noch weiter zu steigern. Rettung erhoffte sich Balzac stets durch irgendwelche wundersamen Geschäftsgewinne – alle Versuche in dieser Richtung endeten bereits nach kurzer Zeit im nächsten finanziellen Desaster – oder durch eine vorteilhafte reiche Heirat, die ihn auf einen Schlag aller Sorgen entledigen sollte. Mehr der Not gehorchend als der Neigung sah er sich gezwungen, sich auf sein einziges wirkliches Talent, das Schreiben, zu stützen, um wenigstens den dringendsten Luxus finanzieren zu können. So erwähnt Willms häufiger strohgelbe Glacéhandschuhe, von denen Balzac scheint’s immer ein oder zwei Dutzend Paar zur Verfügung haben musste, um sich wohl zu fühlen.
Willms Biographie zeichnet sich durch ihren Stil und ihre Aufrichtigkeit aus. Wie schon für seinen »Napoleon« wertet Willms umfangreich Briefzeugnisse aus, um ein möglichst genaues und persönliches Bild zu erreichen. Dabei weicht er den unangenehmen Seitens Balzacs nicht aus: nicht dem gespannten und oft wahnverpflichteten Verhältnis zur Mutter, nicht seiner rücksichtslosen Ausnutzung von Menschen, die ihn offensichtlich schätzen oder gar lieben, nicht seiner Verlogenheit sich und anderen gegenüber, nicht seiner Neigung, die Verantwortung für seine Misere auf andere zu übertragen, nicht der gänzlich blauäugigen Naivität in Geld- und Geschäftsangelegenheiten. All dies wird von Willms mit der nötigen Neutralität dargestellt, ohne ein moralisches Urteil zu fällen, ohne aber auch zu behaupten, dies alles sei notwendig so geschehen, wie es geschehen ist. Willms bewahrt eine objektive, aber zugleich empathische Distanz, die man sich in der biographischen Literatur häufiger wünschen würde. Hinzukommt, dass Willms über eine eingängige und sehr gut lesbare Sprache verfügt, die das Buch zu einem wirklichen Lektürevergnügen macht. – Allen »guten Lesern« ans Herz gelegt!
Johannes Willms: Balzac. Zürich: Diogenes, 2007. Leinen, 367 Seiten. 24,90 €.
Urs Widmer: Das Buch des Vaters
In Der Geliebte der Mutter spielte der Vater des Erzählers eine marginale, rein funktionale Rolle: Die Mutter, enttäuscht von ihrem Geliebten Edwin, heiratet den ersten besten Mann, der ihr über den Weg läuft, hat mit ihm ein Kind und verfällt dann langsam, aber sicher ihrer großen Krise. Nach Hochzeit und Zeugung wird der Vater wohl nur noch ein- oder zweimal erwähnt, er scheint aber weder für sich noch für die Mutter irgend eine Bedeutung zu haben.
Dieses Manko behebt Widmer nun mit diesem Buch, das die Geschichte des Vaters erzählt. Im Buch heißt der Vater zwar Karl, aber zahlreiche Lebensdetails dürften direkt der Biographie des Romanisten und Übersetzers Walter Widmer entnommen sein, was das Buch wesentlich reichhaltiger und spannender werden lässt als seinen Vorgänger. Widmer macht aber deutlich, dass es sich nicht um den Versuch einer Biographie seines Vaters handelt, sondern er im Gegenteil eine Figur erfindet, die sein Vater hätte sein können. Auch darf man nicht erwarten, dass beide Bücher naht- und bruchlos ineinandergreifen; sie widersprechen einander sogar in wesentlichen Details, da es sich in beiden Fällen um fiktionalisierte und erzählerisch idealisierte Biographien handelt, die auf die eine Strukturierung und Intensivierung der biographischen Wirklichkeit abzielen. Man sollte sie also zugleich und gleichwertig als Pendants und jeweils für sich stehend lesen.
Das Buch des Vaters beginnt mit der Feststellung: »Mein Vater war ein Kommunist.« Im Gegensatz zu diesem Auftakt folgt aber nun gerade keine politische Biographie, sondern die Politik spielt eher eine Nebenrolle. Indem der Erzähler dann den Tod des Vaters vorwegnimmt, führt er das zentrale Motiv des Buches ein, das auch den Titel des Buches bedingt: Der Vater verfügt über ein Lebensbuch, das er an seinem zwölften Geburtstag in einer märchenhaften, feierlichen Zeremonie im Heimatdorf seines Vaters überreicht bekommen hat und in dem er von da an täglich Ereignisse und Gedanken seines Lebens notiert. Allerdings ist Das Buch des Vaters nicht mit diesem Lebensbuch identisch; aber da soll nicht zuviel verraten werden.
Was Das Buch des Vaters deutlich angenehmer als Der Geliebte der Mutter macht, ist sein größerer Humor, was aber in der Hauptsache stoffliche Gründe haben dürfte. Während Der Geliebte der Mutter die Geschichte eines Liebeswahns ist, von dem sich die Mutter bis an ihr Lebensende nicht wirklich zu befreien versteht, erinnert Das Buch des Vaters eher an einen Schelmenroman, den Roman eines beinahe romantischen Taugenichts, der sein Leben weitgehend sorglos treiben lässt, seiner Leidenschaft für französische Literatur und hier und da auch die Frauen lebt und ansonsten den Lieben Gott einen guten Mann sein lässt. In einem gewissen Sinne ist er noch weltverlorener als die Mutter, was wiederum einen wichtigen Reflex auf das Buch der Mutter wirft, da es verständlich macht, warum der Vater in ihm eine so marginale Rolle spielt.
Erst zusammen mit diesem Buch wird Der Geliebte der Mutter richtig rund, und es ist, wie bereits gesagt, zu empfehlen, beide Bücher als Passepartouts für einander zu lesen.
Urs Widmer: Das Buch des Vaters. detebe 23470. Zürich: Diogenes Verlag, 2005. Pappband, 209 Seiten. 8,90 €.
P.G. Wodehouse: Reiner Wein
Das Bändchen präsentiert so etwas wie eine Autobiographie Wodehouses, angeregt angeblich durch das Schreiben eines Journalisten, der Wodehouse im Jahr 1957 eine Reihe von Frage zugesandt habe, die der Befragte unerwartet ausführlich beantwortet. Eine wirkliche Autobiographie entsteht dabei natürlich nicht, wenn auch Wodehouse recht ausführlich über seine Anfänge als Autor plaudert. Aber Wodehouse ist zu verspielt und nimmt sich selbst nicht ernst genug, um tatsächlich eine Selberlebensbeschreibung zu liefern. Stattdessen wimmelt das Buch von Anekdoten, Witzen, Wortspielen. Selbst wenn konkrete Ereignisse im Leben des Autors geschildert werden, gerät alles rasch zur Posse:
Seinerzeit wurden Hollywood-Autoren in kleinen Käfigen gehalten. Diese beherbergten, in Reihen angeordnet, je einen Autor mit einem langfristigen Vertrag auf Wochenlohnbasis. Jedermann konnte sehen, wie ihre Gesichtchen bang durch die Gitterstäbe guckten, und hören, wie die Bedauernswerten winselnd darum baten, auf einen Spaziergang mitgenommen zu werden. Der Anblick ließ nur ganz Abgebrühte kalt.
Ich will nicht gerade behaupten, man habe die Autoren mißhandelt. In den besseren Studios war bei Einführung des Tonfilms Freundlichkeit die Regel. Oft blieb einer der Mogulen stehen und steckte einem der Betroffenen ein Salatblatt zu. Und das gleiche galt für die menschlicheren Regisseure, ja, zwischen Regisseur und Autor entwickelte sich oft eine schon fast rührende Freundschaft. Ich erinnere mich an eine Episode, die mir ein Regisseur einst erzählte und welche dies glänzend illustriert:
Eines Morgens war er unterwegs ins Büro – gedankenverloren wie immer, wenn er sich den Tagesablauf durch den Kopf gehen ließ –, als er plötzlich spürte, wie etwas an seinen Frackschößen zerrte. Er sah hinunter und erblickte seinen Lieblingsautor Edgar Montrose (»Autor des Monats«) Delamere. Das Bürschchen hielt ihn mit eisernem Griff fest und schaute mit Augen zu ihm hoch, in denen eine fast menschlich wirkende Warnung lag.
Auch Wodehouses Betrachtungen zum Boxen, Fernsehen, Landleben, seinen Arbeitsstil usw. usf. geraten rasch auf ähnliche Pfade.
Zur Qualität dieser Wodehouse-Ausgabe und der hervorragenden Übersetzungen von Thomas Schlachter ist an anderer Stelle schon das Nötigste gesagt worden. Auch dieses Bändchen ist für Wodehouse-Freunde ein Muss, für alle anderen Leser eine wärmste Empfehlung.
P.G. Wodehouse: Reiner Wein. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2007. Pappband, Fadenheftung, 215 Seiten. 19,95 €.
Hubert Wolf: Index
Die vatikanischen Archive, die unter anderem auch die Unterlagen der Zensurbehörden und ihrer Entscheidungen enthalten, sind erst seit 1998 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Hubert Wolfs ist wohl die erste populäre deutschsprachige Darstellung der Tätigkeit der Index-Kongregation überhaupt. Wolf ist Kirchenhistoriker und leitet eine Arbeitsgruppe, die damit beschäftigt ist, die Akten der Indexkongegration zu edieren und zum Druck zu befördern. Er sitzt also an der Quelle, was man dem Buch leider auch an einigen Stellen anmerkt.
Die Darstellung ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil liefert Wolf eine kurze Geschichte des katholischen Index und einen Überblick über den gewöhnlichen Ablauf eines Verfahrens bei der Indexkongregation. Der zweite Teil liefert anhand von neun Autoren Beispiele für die Art und Weise, wie Indizierungsverfahren von der Anzeige bis zum Urteil und der eventuellen Publikation des Verbotes abliefen. Nur ein Teil dieser Exempel betreffen belletristische Autoren: Knigge (nicht indiziert), Heine (indiziert), Beecher Stowe (nicht indiziert) und Karl May (ebenfalls nicht indiziert). Die anderen behandeln theologische oder kirchengeschichtliche Werke. Besonders diejenigen Fallbeispiele, bei denen es nicht zu einer Indizierung der verhandelten Werke gekommen ist, sind von Interesse, da von ihnen bislang wenig oder nichts bekannt war. Nur die Fälle eines Verbots wurden publiziert; Anzeigen, die entweder gar nicht erst zugelassen wurden (Karl May) oder die nicht zu einem Verbot führten (Beecher Stowe), blieben dagegen bis zur Öffnung der Archive weitgehend unbekannt.
Insgesamt ein gut lesbares Buch, wenn auch der erste Teil deutlich besser gelungen scheint als der zweite. Die Fallbeispiele leiden passagenweise unter einer Neigung des Autors zur zu breiten Darlegung der Aktenlage. So findet sich etwa in den Unterlagen zum Fall Karl May ein Zeitungsausschnitt, der der anonymen Anzeige beilag. Hubert Wolf gelingt es, mit Hilfe der auf der Rückseite abgedruckten lokalen Zeitungsmeldungen Erscheinungsort und -datum zu identifizieren. Allerdings verzichtet er großzügig darauf, uns das Ergebnis schlicht mitzuteilen; stattdessen erfahren wir zuerst, was die beiden Spalten enthalten, aus denen sich nichts schließen lässt, dann den Inhalt der dritten Spalte, aus der sich der Ort wenigstens eingrenzen lässt, und dann erst wird die Katze aus dem Sack gelassen. Dabei handelt es sich wohl um die Vorstellung eines Archivars von Spannung. Leider sind nahezu alle Fallbeispiele von dieser Art der Gründlichkeit geprägt.
Abgerundet wird der Band durch zwei Auswahllisten: zum einen bekannterer indizierter Bücher, zum anderen zwar verhandelter, aber nicht verbotener Bücher.
Wegen des historischen Überblicks im ersten Teil auf jeden Fall zu empfehlen. Dem Freund der schönen Literatur wird es danach genügen, die vier »literarischen« Fälle kurz zur Kenntnis zu nehmen und die ermüdenden und nicht ohne Redundanzen auskommenden übrigen Beispiele auf sich beruhen zu lassen.
Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck’sche Reihe 1749. München: C.H. Beck, 2007. 303 Seiten. 12,95 €.
P.G. Wodehouse: Monty im Glück
Dieser humoristische Roman von P.G. Wodehouse stammt aus dem Jahr 1935 und liegt hier in der deutschen Erstübersetzung vor. Über Wodehouse im Allgemeinen und die in der Edition Epoca vorliegenden Übersetzungen durch Thomas Schlachter habe ich anlässlich von »Onkel Dynamit« schon einiges geschrieben, das nicht wiederholt zu werden braucht. »Monty im Glück« (»The Luck of the Bodkins«) ist nach »Heavy Weather« der zweite Roman von Wodehouse, in dem Montague »Monty« Bodkin als Protagonist auftritt. Monty gehört in das Umfeld des Londoner Drones Clubs, in dem, neben anderen, auch Wodehouse’ bekannteste Figur Bertie Wooster und Pongo Twistleton (vgl. »Onkel Dynamit«) Mitglieder sind.
»Monty im Glück« spielt aber in der Hauptsache weit entfernt von London, nämlich auf der Überfahrt des Passagierschiffs R.M.S. Atlantic von Europa nach New York. Monty nimmt an der Überfahrt nicht teil, weil er nach Amerika will, sondern ausschließlich, weil sich seine Verlobte Gertrude Butterwick auf dem Schiff befindet, die als Mitglied der englischen Damenhockey-Nationalmannschaft auf dem Weg in die Vereinigten Staaten ist.
Gertrude hat Monty kurz vor Abfahrt des Schiffes aus für ihn vorerst unerfindlichen Gründen die Verlobung aufgekündigt, womit Monty durchaus nicht einverstanden ist. Es stellt sich auch nur zu bald heraus, dass alles auf einem Missverständnis beruht, und die Verlobung ist rasch wiederhergestellt. Könnte sich Monty nun in aller Stille entfernen, hätte das Buch ein vorzeitiges Ende gefunden, aber durch die gemeinsame Überfahrt für sechs Tage auf engstem gesellschaftlichen Raum aneinander gefesselt, findet Gertrude problemlos weitere Anlässe für immer erneute Auflösungen des Verlöbnisses, wobei sich die Lage von Mal zu Mal zu dramatisiert. Der allzu ängstliche Leser darf sich aber angesichts des Titels über den letztendlichen Ausgang beruhigen. Auch für die Brüder Reginald und Ambrose Tennyson, seines Zeichens minder begabter Schriftsteller, der irrtümlich für Alfred, Lord Tennyson gehalten wird, die sich um Mabel Spence, die Schwägerin des Filmmoguls Ivor Llewellyn, der von seiner Gattin genötigt wird, ein Perlenkollier am US-amerikanischen Zoll vorbeizuschmuggeln, bzw. um die Schauspielerin Lottie Blossom bemühen, geht die Geschichte letztlich gut aus, ganz zu schweigen von Albert Peasemarch. (Dieser Satz wurde in der Absicht konstruiert, die Schlichtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen dieses Romans aufscheinen zu lassen.) Mit anderen Worten:
Männer sind in dieser Beziehung einfach goldig. Man kann sie wie den letzten Dreck behandeln, doch wenn’s auf die Schlußumarmung mit Abblende zugeht, ist auf ihre putzmuntere Präsenz Verlaß.
»Monty im Glück« zeigt Wodehouse einmal mehr als brillanten Konstrukteur von Komödien auf abgezirkeltem Raum und mit klar begrenztem Personal. Auch dieser Roman könnte, so wie er ist, als Vorlage für eine klassische Screwball-Komödie dienen. Alle Konflikte, Wendungen und Irrungen sind von langer Hand vorbereitet und bedingen einander mustergültig. Alle eingeführten Figuren verfolgen ihre eigenen Absichten und tragen zugleich zur Verwirrung des großen Ganzen bei, und je besser ein Plan zur Lösung eines Konflikts ausgedacht ist, desto sicherer erzeugt er die nächste Stufe des Chaos. Und ganz en passant stellt Wodehouse auch hier wieder seine Meisterschaft des ebenso lakonischen wie pointierten Dialogs unter Beweis:
»Ich könnte einfach nicht schauspielern. Ich käme mir furchtbar bescheuert vor.«
»Tun Sie das nicht ohnehin?«
»Doch, aber nicht auf diese Art.«
Ein Buch für alle, die gut geschriebene Unterhaltung zu schätzen wissen.
P.G. Wodehouse: »Monty im Glück«. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2005. Pappband, Fadenheftung, 351 Seiten. 22,90 €.
P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit
Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.
In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.
Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:
Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.
Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.
Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.
P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.