Miniaturen (9)

Im Osten […] lebte ein gewisser Mann, der über den Markt von Damaskus ging, als ihm der Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat. Er bemerkte einen Ausdruck der Überraschung in der Miene der schauerlichen Erscheinung, doch gingen sie wortlos aneinander vorüber. Der Mann bekam’s mit der Angst zu tun und suchte einen Weisen auf, sich Rats zu holen. Der Weise sagte ihm, daß der Tod vermutlich nach Damaskus gekommen sei, um ihn am nächsten Morgen zu holen. Der arme Kerl war darob naturgemäß höchstlich entsetzt und fragte, wie er dem entrinnen könne. Das einzige, was ihnen einfiel, war, daß das Opfer noch in der Nacht nach Aleppo reiten solle, um so dem Schädel und den blutigen Knochen zu entkommen.

Der Mann ritt also tatsächlich nach Aleppo – es war ein ungeheuer anstrengender Ritt, den noch niemand in einer einzigen Nacht geschafft hatte –, und als er dort war, ging er über den Markt und gratulierte sich, daß er dem Tod entgangen sei.

In diesem Augenblick kam der Tod und klopfte ihm auf die Schulter. »Entschuldige«, sagte er, »aber ich wollte dich holen.« »Wieso denn?« rief der Mann entsetzt, »ich hab’ gedacht, ich wär’ dir gestern in Damaskus begegnet!« »Genau das«, sagte der Tod. »Deshalb hab’ ich so überrascht dreingeschaut – denn mir war gesagt worden, ich würde dich heute in Aleppo treffen.«

T.H. White
Der König auf Camelot

T. H. White: Der König auf Camelot

white_camelot Wahrscheinlich haben nur sehr wenige Leser die letzte, große mittelalterliche Bearbeitung des Artus-Stoffes von Thomas Malory zugleich so ernst genommen und so respektlos behandelt wie Terence Hanbury White (1906–1964), der mit seinem vierteiligen Roman Der König auf Camelot (im Original The Once and Future King) eine interessante und witzige moderne Bearbeitung des Stoffkreises geliefert hat. Das Buch hat es im englischen Sprachraum bis in den Kanon der Schullektüre geschafft, ist in Deutschland aber – wahrscheinlich aufgrund des Erscheinungsortes – ein wenig in die Fantasy-Ecke geraten, wo das Buch nicht wirklich hingehört.

Hauptsächlich auf der Grundlage des spätmittelalterlichen Le Morte d’Arthur, aber mit offensichtlicher Kenntnis auch anderer Quellen, schreibt White einen hochmittelalterlichen Artus-Roman, der zugleich die politischen und kriegerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. Im Kern des Romans steht Artus’ Plan, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu erschaffen, in der nicht mehr Gewalt vor Recht geht. Aus diesem Grundthema heraus entwickelt White Artus’ persönliche Tragödie, die er bis vor die letzte Schlacht des alten Königs gegen seinen Sohn Mordred vorantreibt.

Als erste Besonderheit erscheint dabei sicherlich die ausführliche Darstellung von Artus’ Kindheit und Jugend und seiner Erziehung durch den Zauberer Merlin, der bei White rückwärts lebt und auf diese Weise das Wissen um die Zukunft der Menschheit mit in die Ausbildung des zukünftigen Königs einfließen lässt. Merlin sorgt durch vielfache Verwandlungen des jungen Artus in diverse Tiere dafür, dass er die Welt aus zahlreichen Perspektiven zu sehen lernt, was ihn später zu einem zwar nicht besonders klugen, dafür aber um so toleranteren und weiseren Herrscher werden lässt. Erst am Ende des ersten Bandes findet sich die berühmte Szene, in der Artus das Schwert aus dem Stein zieht und damit seinen Anspruch auf den Thron beweist.

Der zweite Band ist der politischen Neuordnung Englands durch Krieg und Unterwerfung gewidmet, im Zentrum des dritten Bandes stehen die Geschichte Lanzelots und die Gründung der Tafelrunde, und im vierten Band schließlich der Zusammenbruch des neu geschaffenen gerechten Staatswesens, das von den alten Kräften gegen sich selbst gewendet wird. Artus’ Vision scheitert letztlich daran, dass der gerechten Staat keine gerechten Bürger hat.

All dies ließe vermuten, dass es sich bei diesem Buch um ein schwerblütiges philosophisches Werk handelt, aber White versteht es, dem Buch durch eine konsequente Vermenschlichung der heldischen Vorkämpfer und grundlegend satirische Darstellung des Rittertums eine überraschende Leichtigkeit zu geben. Es ist Whites alles durchdringender Humor, der dieses Buch zu etwas besonderem macht. Dabei greift sein Erzähler immer wieder direkt auf die Lebenswelt seiner eigenen Zeitgenossen zurück und macht klar, dass dieses Buch über und für die moderne Welt geschrieben ist.

white_camelot_hoerbuchAlternativ zur Lektüre bietet sich eine vollständige Hörbuchfassung von Jochen Malmsheimer an. Die Lesung ist durchgehend gut, einzig in den Dialogen sind Malmsheimers Männer hier und da etwas laut. Besonders aber die älteren Ritter, Merlin und die humoristischen Passagen gestaltet er unvergleichlich. Leider ist die Lesung auf vier CD-Boxen (mit insgesamt 19 Audio-CDs) aufgeteilt, woraus sich ein Gesamtpreis von etwa 100,– € ergibt.

T. H. White: Der König auf Camelot. Vier Bücher in einem Band. Aus dem Englischen von Rudolf Rocholl. Stuttgart: Klett-Cotta, Neuaufl. 2006. Pappband, 635 Seiten. 25,– €.

T. H. White: Der König auf Camelot. Vollständige Lesung in vier Teilen von Jochen Malmsheimer. Gesamtspielzeit gut 24 Stunden. Bochum: Roof Music, 2006. 1. Das Schwert im Stein – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 2. Die Königin von Luft und Dunkelheit – 3 Audio-CDs – 22,90 € (UVP). 3. Der missratene Ritter – 6 Audio-CDs – 26,90 € (UVP). 4. Die Kerze im Wind – 4 Audio-CDs – 24,95 € (UVP).