Jahresrückblick 2012

Wie bereits Ende letzten Jahres ein Rückblick auf die drei besten und die drei schlechtesten Lektüren des Jahres.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2012:

Echte Höhepunkte fehlten in diesem Jahr, insbesondere im Bereich der Neuerscheinungen, die ich gelesen habe. Vieles Gute, manches Ordentliche, aber nichts Außerordentliches war dabei. Daher fällt die Auswahl ein bisschen klassikerlastig aus:

  1. Herman Melville: Moby-Dick – auch nach vielen Durchgängen immer wieder ein Abenteuer.
  2. William Faulkner: Als ich im Sterben lag – da ich seit Jahren gern mehr Faulkner lesen würde, bin ich für die Neuübersetzungen bei Rowohlt sehr dankbar.
  3. Mario Vargas Llosa: Die jungen Hunde – eine beeindruckend dichte Erzählung über eine Gruppe Jugendlicher im Peru der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2012:

  1. Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern – gänzlich überflüssige und unglaublich naive Gutmenschenfabel.
  2. Émile Zola: Der Traum – religiöse Schmonzette, stilistischer und inhaltlicher Ausreißer des Zyklus.
  3. Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!« – schlecht edierte und motivierte Sammlung vorgeblich jüdischer Witze.

 

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«

978-3-15-020240-1Im Jahr 1975 erschien eines der erfolgreichsten Bücher Friedrich Torbergs: »Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten«. Darin finden sich unter anderem zahlreiche Anekdoten um den ebenso berühmten wie erfolglosen Wiener Strafverteidiger Dr. Hugo Sperber, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Darunter auch folgende:

Der wahrscheinlich populärste dieser Aussprüche [Dr. Sperbers], der jahrelang in allerlei Variationen (und schließlich ohne Quellenangabe) kursierte, fiel in der Verhandlung gegen einen von Sperber ex offo verteidigten Einbrecher. Der Mann hatte zwei Einbruchsdiebstähle begangen, den einen bei Tag, den anderen bei Nacht, und der Staatsanwalt legte ihm als erschwerend im ersten Fall die besondere Frechheit zur Last, mit der er sein verbrecherisches Handwerk sogar bei Tageslicht ausübte, im zweiten Fall die besondere Tücke, mit der er sich das Dunkel der Nacht zunutze gemacht hatte.
An dieser Stelle erdröhnte der Gerichtssaal von Dr. Sperbers Zwischenruf:
»Herr Staatsanwalt, wann soll mein Klient eigentlich einbrechen?«

Das ist nun kein jüdischer Witz, sondern es ist erstens eine Anekdote, und wäre es zweitens ein Witz, so wäre es ein juristischer, für den es unerheblich ist, welcher Herkunft oder religiösen Überzeugung der Verteidiger ist. Das alles hindert Wüst nicht an folgendem:

Einbrecher. Ein Mann steht vor Gericht. Er soll zwei Einbrüche begangen haben, einen tagsüber und den anderen nachts. Der Staatsanwalt wirft ihm deshalb in dem einen Fall besondere Frechheit vor, weil er sogar am hellen Tag eingebrochen sei, und in dem anderen Fall besondere Heimtücke, da er die Tat während der Dunkelheit begangen habe.
Da unterbricht der Verteidiger den Staatsanwalt:
»Herr Staatsanwalt, jetzt frage ich Sie: Wann soll mein Mandant denn eigentlich einbrechen?« [S. 316.]

Ebenso wenig wie so etwas möchte ich Heinrich Heines berühmtes »Dieu me pardonnera. C’est son metier.« anonymisiert und germanisiert als jüdischen Witz wiederfinden (S. 172).

Die Sammlung entgeht auch nicht immer der Gefahr, Witze, die auf der Ausschlachtung antisemitischer Klischees beruhen, für jüdischen Humor auszugeben:

Prozent. David zu seinem Großvater:
»Tate, wie heißt es richtig: drei Perzent oder drei Prozent?«
»Nu, besser sind fünf Prozent!« [S. 232.]

Ganz abgesehen davon, dass Wüst den Witz schlecht erzählt (es sollte heißen: »Tate, was ist besser: drei Perzent oder drei Prozent?« »Nu, besser sind fünf Perzent!«), zweifele ich nicht daran, dass es Juden gibt, die sich diesen Witz erzählen und darüber lachen. Ein jüdischer Witz wird es deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig werden lahme politische Witze über die Sowjetunion zu jüdischen Witzen, indem man einen der Akteure Blau, den anderen Grün nennt.

Die Sammlung ist alles in allem mäßig lustig und noch mäßiger gelungen. Wer das Buch von Salcia Landmann noch nicht sein eigen nennt, sollte lieber dazu greifen, die anderen sollten die 10 Euro lieber für etwas besseres ausgeben, zum Beispiel für Torbergs »Die Tante Jolesch«.

Hans Werner Wüst: »… wenn wir nur alle gesund sind!«. Jüdische Witze. Reclam Tb. 2040. Stuttgart: Reclam, 2011. Broschur, 340 Seiten. 9,95 €.