Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler

Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt

„er habe […] aber nicht alles verstanden“1

ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tode eines Schriftstellers seine Biografie nicht nur erscheinen darf, sondern muß !

BA III/4, S. 80
cover

Solch einen Satz lassen sich Autor und Verlag natürlich nicht entgehen, wenn sie noch vor der geforderten Zeitspanne die erste umfangreiche Lebensbeschreibung gerade dieses Schriftstellers vorlegen können. Dass es dagegen nicht gelungen ist, diesen Satz fehlerfrei aus dem Original auf den Buchumschlag zu bringen,2 ist leider nicht nur eine Kleinigkeit, sondern ein Symptom.

Es dürfte unter jenen, die sich intensiver mit Arno Schmidt und seinem Werk beschäftigen, gleichgültig ob nur als Leserinnen3 oder auch als Forscherinnen, Einigkeit darüber bestanden haben, dass eine umfangreiche und detaillierte Biografie ein dringendes Erfordernis war. Jahrelang hatte man auf die Ankündigung Bernd Rauschenbachs hin auf ein sozusagen offizielles Lebensbild von Seiten der Stiftung gewartet; nachdem Rauschenbach sein Projekt schließlich auch öffentlich aufgegeben hatte, wurde hier und da die dadurch verlorene Zeit bedauert, aber nun liegt endlich ein Buch vor, das auf knapp 880 Seiten den Versuch unternimmt, Leben und Werk Arno Schmidts in einem einzigen großen Durchgang darzustellen.

Eine solche erste große Biografie wendet sich in der Hauptsache an gleich zwei Gruppen von Rezipientinnen, was seine Konzeption nicht eben einfacher macht. Da sind zum einen interessierte Leserinnen, die ihr Wissen um den Autor erweitern und Verständnis der Texte vertiefen möchten; zum anderen handelt es sich um aktuelle und zukünftige Forscherinnen, denen eine solche Biografie zur Grundlage der Forschung wird als eine Zusammenführung früherer Arbeiten und Erkenntnisse, die nun nicht mehr an zum Teil entlegenen Orten gesucht, sondern an einem zentralen Locus gefunden werden können.

Um dem Anspruch der ersten Gruppe zu genügen, ist es wichtig, aus den zum Teil disparaten Elementen der Lebensgeschichte eine wenigstens einigermaßen kohärente Erzählung zu entwickeln. Beim Verbiografieren von Schriftstellerinnen ergibt sich oft als Vorteil, dass diese in ihren Schriften schon eine Selbstdeutung vorgeben und ihr eigenes Leben und Denken mit mehr oder weniger Notwendigkeit ins Werk eingegangen ist und sie so ihren Leserinnen bereits ein Lebensbild mitgegeben haben, auf das die Biografie dann aufbauen kann. Nun ist es eine wichtige Maxime beim Verfassen von Biografien, zu diesen Selbstdeutungen der Autorinnen bewusst einen kritischen Abstand einzunehmen, um aus der Distanz heraus die Selbstdeutungen nicht nur hinterfragen, sondern auch in ein umfassenderes Bild der Zeit und der Zeitgenossen einordnen zu können. Darüber hinaus hat die Verfasserin einer Lebensbeschreibung mit den allgemeinen Zweifeln am Gelingen eines solches Vorhabens aufgrund der systematischen Beschränkungen des Genres zu kämpfen, steht sie doch unter dem Verdacht, sowohl aus psychischen als auch aus erzählerischen Gründen ihren Gegenstand notorisch zu verfälschen und zu beschönigen. Man ahnt die Schwierigkeit.

Doch solche eher allgemeinen Bedenken haben keinen wirklich tiefgreifenden Einfluss auf das Genre der Biografie genommen. Eher im Gegenteil werden ungebrochen Lebensbeschreibungen verfasst, die ein Bewusstsein der genrebedingten Schwierigkeiten zwar vor sich hertragen, sich aber im Vollzug von derartigen Zweifeln beim Vordringen in das Feld der Untersuchung nicht hemmen lassen. So auch wir.

Betrachten wir das Buch zuerst aus der Perspektive der Laienlektüre (der Ausdruck möge mir verziehen werden): Schmidt selbst hat seinen Leserinnen ein sowohl breites als auch vielfältiges Selbstbild in seinen Schriften hinterlassen, das einen nicht unwesentlichen Anteil der Faszination seiner Schriften ausmacht: Der autodidaktische, bibliophile Universalbelehrende, der sicheren Urteils die Bücherwelt durchpflügt, Gutes von Minderwertigem zu scheiden weiß, ein hohes aufklärerisches Pathos verkörpert, sowohl für den Fortschritt in der Literatur als auch für die Wertschätzung der Tradition steht, der letzte Vertreter der Französischen Revolution im Geiste Marats und der Erste an der Spitze der literarischen Avantgarde, der als „Topograph der horizontalen Höllenstürze […] nebenher stürzt, und aus seinen Adern mitstenographiert“ [BA Bfe. II, S. 8] und zugleich „ein Bild der Zeit“ [BA II/2, S. 63] hinterlässt, in dem sich die Zeit mit Scham wiedererkennen muss. All das erwächst aus einer unglücklichen Kindheit, aus dem erzwungenen Schweigen des Schriftstellers unter den Nationalsozialisten, im Widerstand gegen den Geschmack des breiten Publikums der Nachkriegszeit, die boshafte Verfolgung durch politisch Andersdenkende und die beständigen Störungen der Arbeit durch die, die glauben, es gut mit dem Autor zu meinen. Ein Einzelkämpfer gegen eine Welt von Plagen, wie er im Buche steht.

Selbst wenn hiervon der offensichtlichste pathetische Unfug abgezogen wird, bleibt immer noch das Bild einer erstaunlichen Persönlichkeit, die den Beruf des Schriftstellers auf sich genommen hat, weil er die beste Möglichkeit zu bieten schien, sich von der Gesellschaft der Mitmenschen weitgehend zurückzuziehen und in einer symbiotischen Partnerschaft mit einer Frau soweit es geht nur den Gesetzen gehorchen zu müssen, die sie selbst anerkannte oder sogar setzen konnte. Schmidt war ein Misanthrop, und er hat sich insoweit mit dieser Haltung durchgesetzt, als es ihm durch seine Berufswahl gelungen ist, Bedingungen zu schaffen, die eine weitgehende Isolation erlaubten. Dafür haben seine Frau und er für lange Jahre ein ärmliches und erbärmliches Leben auf sich genommen, im Dienst der Kunst, wie er behauptete, wohl eher aber, weil ihm ein Leben unter den „groben Leute[n]“ [BA I/1, S. 434] nicht möglich gewesen wäre.

Wie man hier leicht sieht, kann bei der Lebensbeschreibung Schmidts grundsätzlich eine von zwei Richtungen eingeschlagen werden: Es kann der Heldenerzählung gefolgt werden, die Schmidt als Selbstinszenierung in seinem Werk hinterlegt hat, oder es kann der Versuch unternommen werden, sich tatsächlich einmal den „defekten Rest“ [BA I/1, S. 395] anzuschauen, der übrig bleiben soll, falls der Künstler die Wahl trifft, „als Werk“ [BA I/1, S. 395] zu existieren.

Hanuschek ist im Wesentlichen der ersten Linie gefolgt und hat damit eine Biografie vorgelegt, die dem Bedürfnis der meisten Leserinnen Arno Schmidts entgegenkommen dürfte. Das bedeutet nicht, dass er blind wäre für den „defekten Rest“, nur ist er nirgends bereit, sich auch nur für einen Augenblick der Frage zu stellen, ob das Opfer, das Schmidt nicht nur sich, sondern auch seiner Frau abverlangt hat, tatsächlich eine notwendige Bedingung war für das Werk, das für all das über die Jahre und mit den Jahren immer mehr als Rechtfertigung herhalten muss. Die Heldenerzählung überstrahlt alles.

Dabei ist es Hanuschek als Verdienst anzurechnen, dass seine Darstellung die zentrale Rolle von Alice Schmidt bei der Herstellung dieser Lebensbedingungen herausarbeitet: Immer wieder ist es Alice, die die schwere soziale Behinderung ihres Mannes – seine Wut und Überheblichkeit, seinen Größenwahn – im Zaum und im Haus halten kann, die die zerstörerischen Tendenzen ihres Mannes abfängt, ihm zwar zugleich zustimmt, dass man ihn ungerecht und schlecht behandelt, aber dennoch einen Weg findet, mit Verlagen und Verlegern einen professionellen Umgang zu pflegen und so Schmidt zu ermöglichen, wenigstens zu Zeiten das Schneckenhausleben zu führen, das seinen Neurosen entspricht. Und bei aller Bewunderung für den Autor ist es für ihn nur zu verständlich, dass Alice in späteren Jahren gern so eine Art von Dichtergattin geworden wäre, ein wenig vom sich nun doch einstellenden Erfolg und Ruhm genossen hätte, anstatt auf einem Dorf in der Heide zu sitzen und langsam aber sicher von ihrem monomanischen Gatten als Letzte auch noch aus seinem Leben herausgedrängt zu werden. Den Absprung hat sie verpasst; aber das muss ihre Biografie thematisieren, nicht seine.

Am Ende ist es natürlich eine Frage des Geschmacks, aber ich hätte mir für eine erste Biografie Arno Schmidts ein wenig von dem kritischen Abstand gewünscht, den Hanuschek auf den wenigen Seiten (714–717) aufbringt, in denen er ein kurzes Porträt Hans Wollschlägers liefert. Anlass hätte es genug gegeben, so etwa xeno- und homophobische Äußerungen Schmidts, die zwar dokumentiert, nicht aber kommentiert werden. Es hätte dem Buch und auch den Leserinnen Schmidts gutgetan.

Kommen wir zum Forschungsaspekt des Buchs: Eine Arno-Schmidt-Forscherin stellt, wie schon gesagt, andere Ansprüche an eine Biografie. Für sie müssen neue Fakten und Interpretationen geliefert werden, es müssen offene und kontrovers diskutierte Fragen der Forschung entschieden oder wenigstens einer Klärung nähergebracht werden, es muss Relevantes von Obsoletem und Abstrusem geschieden werden.

Auch hier ist zuerst festzustellen, dass Hanuschek durchaus Neues bringt: Besonders was die Familiengeschichte Schmidts angeht, ist seine Darstellung detailreich und geht – soweit ich sehe – über die bisherige Forschung hinaus. Auch folgt er zwar weitgehend der Selberlebensbeschreibung Schmidts, formuliert aber immer wieder berechtigte Zweifel an den Selbstdeutungen des Autors. Wir bekommen etwa kein wirklich geschlossenes Bild von Schmidts Vater geliefert, aber wir bleiben auch nicht bei der extrem negativen Beurteilung durch den Sohn stehen. Hier liefert Hanuschek einen deutlichen Fortschritt.

Was die Einschätzung des Werks und seine Interpretation angeht, schwächelt das Buch auf weiten Strecken. Hanuschek scheint, bei aller Bewusstheit für die romantischen Wurzeln Schmidts, grundsätzlich davon auszugehen, dass es sich bei Schmidt um einen realistischen Autor gehandelt habe. Hanuschek begreift darunter das Ziel, die sogenannte Wirklichkeit im Text abzubilden, hat aber an zahlreichen Stellen Schwierigkeiten mit diesem Textzugriff – er greift dann zum Terminus „Wirklichkeitskonstitution“ (S. 152, 402 u. ö.). So wird ihm etwa der Gärtner Auen in Brand’s Haide zu einem Problem:

Natürlich kann man sagen, alle diese ›phantastischen Stellen‹ seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: Der gute ›Schmidt‹ [die Erzählerfigur von Brand’s Haide] spinnt, er hat zuviel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu platte Auflösung; für mich stecken hier zwei Möglichkeiten. Zum einen: Brand’s Haide erzählt eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht wieder geöffnet wird.

S.350

Das „zum anderen“ wird uns nicht geliefert! Die hier ausinterpretierte Spannung kennt der Text aber gar nicht. Zum einen (!) ist die Geisterexistenz dieser Figur mit voller Absicht im Text so versteckt, dass nur eine sehr exakte Lektüre sie überhaupt als wirklichkeitskonstituierendes Element an den Tag bringt, zum anderen (!) behauptet Schmidt zwar in seiner Poetologie, ein Realist zu sein, die Praxis seiner Texte weiß aber überhaupt nichts von einem solchen Dogma. Wenn sich etwas an Schmidts Texten begreifen lässt, dann dies, dass sie weitgehend autonom konstituiert sind und sich an keinerlei vorgegebene Konzepte, seien sie realistisch oder romantisch, halten. Schmidt ist nur insoweit ein Realist, als ihm Realien wichtig sind (warum das so ist, hätte Hanuschek diskutieren müssen, er nimmt es aber als selbstverständlich hin), aber er ist in keiner Weise durch sie verpflichtet oder beschränkt. Schmidt ist weder ein Epigone der Romantik (wovon das Frühwerk noch geprägt ist) noch ein Autor des Realismus. Künstlerisch souverän ist sein zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk mit Sicherheit gerade darin, den scheinbaren Gegensatz von „Wirklichkeitskonstitution“ und Phantastik mit leichter Hand einzuebnen.

Neben diesem grundsätzlichen Missverständnis weist das Buch als Forschungsbeitrag zahlreiche Mängel auf, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Pars pro toto sei die Entstehungszeit von Pharos genannt:

  • Eine erste Datierung wird auf Seite 136 vorgenommen: „(ca. 1945)“.
  • S. 174 wird es nach dem Achamoth-Fragment terminiert, das von Schmidt selbst in die Zeit nach Weihnachten 1944 gesetzt wurde.
  • Die hauptsächliche Behandlung des Pharos findet dann zu Anfang des Abschnitts über den Zeitraum 1946–1948 (S. 215 ff.) statt.
  • S. 225 wird der Zeitraum der Entstehung zwischen März 1942 und Januar 1944 verortet,
  • was S. 226 noch einmal auf den Zeitraum zwischen November 1943 und Januar 1944 eingegrenzt wird.4

So etwas muss selbstverständlich vermieden werden, und es lässt sich auch durch Autor oder Lektorat problemlos vermeiden, wenn man denn sein eigenes Buch mit jener Gründlichkeit gelesen hätte, mit der man vorgibt, das Werk Arno Schmidts gelesen zu haben.

Es bleibt mir nur noch eine einzige Stelle zu zitieren, die mir die Lektüre dieses Buches letztendlich durch und durch verdorben hat. Auf S. 844 heißt es über Ann’Ev’ – deren Name im Buch übrigens gleich drei Mal falsch geschrieben wird –: „trotz ihrer Herzkrankheit ist sie offensichtlich nicht ganz von dieser Welt“. Wer so etwas schreiben kann, hat bei Schmidt etwas ganz Grundlegendes nicht verstanden. Ann’Ev’ ist nicht „trotz“ ihrer Herzkrankheit nicht ganz von dieser Welt, sondern weil sie immer auch von dieser Welt sein muss, ist sie herzkrank. Und wer dabei nicht an Line Hübner denken muss, der gehört, so leid es mir tut, auch unter die „groben Leute“.

Sven Hanuschek: Arno Schmidt. München: Hanser, 2022. Pappband, Lesebändchen, 990 Seiten. 45,– €.

geschrieben für den Bargfelder Boten
Nr. 479–480, S. 30–34


1 – Sven Hanuschek: Arno Schmidt. S. 124

2 – Die Fassung des Hanser-Verlags liest sich so: „Ich verlange, gesetzgeberisch festzulegen, daß spätestens 50 Jahre nach dem Tod eines Schriftstellers seine Biographie nicht nur erscheinen darf, sondern muß!“

3 – Dieser Text benutzt ausschließlich zum Zwecke der Provokation das sogenannte generische Femininum.

4 – Mit Dank an Günter Jürgensmeier, der auf diese kleine Bonanza auf Twitter hingewiesen hat: https://twitter.com/Arnotationen/status/1522094272350146562.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!«

Julia, oder die Gemälde ist der letzte Roman, an dem Arno Schmidt bis zu seinem zum Tode führenden Schlaganfall gearbeitet hat. Die 100 Typoskriptseiten, die fertig wurden, sind 1983 in der damals üblichen Weise als photomechanische Wiedergabe bei Haffmans erschienen; seit 1992 gibt es auch die gesetzte Fassung innerhalb der Bargfelder Ausgabe. Diese 100 Seiten sind einerseits typisch für das Spätwerk (eine Gruppe von Erwachsenen, der eine Gruppe von Jugendlichen gegenübergestellt ist; eine weitere Gruppe von Hippies (hier variiert als Hexen), die als gesellschaftliche Außenseiter nur sich und ihrer Lust leben; eine einzelne, etwas geisterhafte junge oder wie hier auch sehr junge Frau, die zwischen diesen Gruppen osziliert; Gespräche über abgelegene und halbvergessene Literatur und Schmidts psychoanalytisch unterfütterte Etymmystik; eine reduzierte Handlung, die in der Hauptsache dazu dient, die Figurenkommunikation zu steuern), andererseits bilden eine Reihe von Autoren das literarische Unterfutter des Buches, die bislang bei Schmidt nur eine kleine oder gar keine Rolle gespielt hatten (Balduin Möllhausen, Jakob Lorber, Friedrich Thesmar, H. P. Lovecraft oder Rider Haggard).

Erzählanlass ist, dass bei einem Besuch des Bückeburger Schlosses sich das junge Mädchen Julia aus dem Gemälde „Die vier Schwestern von Oranien“ von Jan Mytens (das existierende Gemälde zeigt eine Gruppe erwachsener Frauen) in den alternden und herzkranken Schriftsteller Leonhard Jhering verkuckt, aus ihrem Bild heraussteigt und von nun an bis zum Ende durch den Roman geistert. Eines der geplanten Enden des Romans sieht vor, dass Jhering zusammen mit Julia ins Bild zurückgekehrt ist und dort nun der Zeitlichkeit entrückt der Ewigkeit entgegenexistiert.

Natürlich war schon bei Erscheinen des Typoskripts 1983 eine für Schmidt-Leser wichtige Frage, was zwischen der Seite 100 und diesem möglichen Ende noch alles durchgespielt werden sollte. So veröffentlichte Haffmans 1985 im Arno-Schmidt-Raben einen ersten Satz von 41 Notizzetteln aus dem Zettelkasten zur Julia. Seitdem bestand mehr oder weniger die Hoffnung (oder eben auch die Befürchtung), dass eine Edition der kompletten Notizzettel aus dem Zettelkasten zur Julia zumindest eine Ahnung von dem geben könnte, wie Schmidt den Roman fortgesetzt hätte. Dieser Hoffnung wurde jetzt mit dem Buch von Susanne Fischer ein Ende gesetzt: Weder wird es in absehbarer Zeit eine vollständige Publikation des Zettelkastens geben, noch gibt es irgendeine Möglichkeit aus dem vorhandenen Nachlass-Material eine auch nur irgendwie geartet Extrapolation der nicht geschriebenen Teile des Romans zu leisten. Selbst Elemente, die sich aus den ganz allgemeinen Entwürfen ablesen lassen – so etwa die Überfahrt zum Wilhelmstein, der dabei erfolgende Schiffbruch und die dann erzwungene Existenz auf der Insel – bleiben vollständig abstrakt, weil entweder kein, nur unzureichendes oder gar widersprüchliches Material im Kasten vorliegt.

Grundsätzlich geben die Zettel zur Julia denselben Eindruck wie andere ganz oder teilweise bekannte Zettelkästen zu anderen Werken: Ohne den Kopf des Autors sind sie weitgehend wertlos und liefern nur unverbundene Details, von denen nicht einmal sicher ist, wie und in welcher Reihenfolge sie im Roman letztlich verarbeitet werden sollten. Was Susanne Fischer nun als Ersatz für einen kompletten Abdruck der Notizzettel liefert, ist eine allgemeine Beschreibung von dessen Inhalt – mit dem Hauptgewicht auf jenem Teil, der für die noch ungeschriebenen Kapitel der Julia vorgesehen war – mit zahlreichen Einzel-Beispielen. Überraschendster Befund ist dabei, dass ein Großteil der Zettel der Sexualität, konkreter der Beschreibung diverser Geschlechtsakte gewidmet ist. Sex im Alter bzw. älterer Menschen scheint ein weiteres, den Autor sehr beschäftigendes Thema gewesen zu sein. Fischer betont mehrfach zu Recht, dass sich nicht erkennen lasse, wie viel des gesammelten Materials am Ende verwendet worden wäre, aber zumindest lässt sich feststellen, dass sich die in Schmidts Spätwerk abzulesende Tendenz zur Aufspaltung der sozialen Welt in eine ästhetisch abgehobene, ins Phantastische grenzenlos übergehende und eine krude, weitgehend von Sexualität in diversen Spielformen bestimmte Wirklichkeit hier nahtlos fortsetzt. Die in Sitara und der Weg dorthin an der Werken Karl Mays und in Zettel’s Traum an denen Edgar Allan Poes durchgespielte Analyse der Literatur als verdeckte Darstellung der sexuellen Obsessionen ihrer Autoren zusammen mit Schmidts von Anfang an vorhandener Neigung zu dichotomen Unterscheidungen („Bezeichnend für uns Gemisch aus Scheiße und Mondschein.“ – Goethe und Einer seiner Bewunderer. BA I, 2. S. 200.) führen zu dieser zwar produktiven aber kaum wirklichkeitsnahen Weltsicht. Auch ist die beschriebene Welt der Romane glücklicherweise immer deutlich reicher, als deren Verständnis durch die Protagonisten erlauben sollte.

Insgesamt bringt der Band eine negative Bereicherung unseres Wissens um Arno Schmidt, in dem er jegliche Hoffnung aufhebt, das merkwürdige Fragment der Julia mit Hilfe des Nachlasses tatsächlich noch zum letzten vollständigen Roman Arno Schmidts destillieren zu können. Und es ist Susanne Fischer sehr zu danken, dass sie die sicherlich nicht einfache Entscheidung getroffen hat, den Erwartungen der Schmidt-Leser nicht nachzugeben und den Zettelkasten zur Julia Zettel für Zettel abdrucken zu lassen. Dass das eines Tages dennoch geschehen wird, ergibt sich aus dem Sinn und der Aufgabe der Arno Schmidt Stiftung nahezu von selbst. Ich wenigstens will hoffen, dann keine Bücher mehr kaufen zu können.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!« Arno Schmidts Zettelkasten zu Julia, oder die Gemälde. Berlin: Suhrkamp, 2021. Klappenbroschur, Fadenheftung, 146 Seiten. 30,– €.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik

Im Jahr 2014 erschien zum 100. Geburtstag Arno Schmidts im Bargfelder Boten eine erste Fassung von Friedhelm Rathjens Arno-Schmidt-Chronik, die soeben in erweiterter und korrigierter Neuauflage in Rathjens eigenem Verlag, der Edition Rejoyce, wieder aufgelegt worden ist. Zumindest bis zum Erscheinen der Arno-Schmidt-Biographie von Sven Hanuschek, aber wahrscheinlich auch darüber hinaus ist dies die zuverlässigste kompakte Quelle für Informationen zum Leben Arno Schmidts. Die Neufassung ist ergänzt um vier Register (Werke Schmidts, Orte, Personen sowie Verlage, Medien, Nachschlagewerke), die es möglich machen, auch thematische Querbezüge herzustellen.

Rathjen verweist im Vorwort darauf, dass Schmidts Werk starke dynamische Veränderungen durch diverse Einflussfaktoren aufweist; Schmidts Lebensumstände waren selbstverständlich einer davon. Von daher liefert eine solche Chronologie eines der Gerüste, an denen entlang die Entwicklung von Schmidts Werk verständlich wird.

Aber das Buch kann nicht nur als Datenquelle benutzt werden, es ist durchaus auch von Anfang bis Ende als dichter biographischer Essay lesbar. Sicherlich werden sich dabei Leser, die Schmidts Werk schon ein wenig kennen, leichter tun als jene, die erst einen Zugang zu Schmidts literarischer Welt suchen.

Friedhelm Rathjen: Arno-Schmidt-Chronik. Daten zu Leben & Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2021. Bedruckter Pappband, 186 Seiten. 30,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch

Vor 50 Jahren erschien eines der erstaunlichsten Bücher, die die Welt je gesehen hat: Zettel’s Traum von Arno Schmidt. Das Buch war mit 1335 DIN A3 großen Seiten nicht nur ungewöhnlich umfangreich, sondern der Text war auch nicht gesetzt worden; stattdessen bekam der Leser eine Reproduktion des Typoskripts des Autors inklusive Streichungen und handschriftlichen Korrekturen. Blätterte man in das Buch hinein, machten die meisten Seiten einen recht unordentlichen Eindruck: Der Text sprang von einem Rand der Seite zu anderen, um ihn herum fanden sich zusätzliche kleine Textblöcke, die sich mal besser mal schlechter auf den breiten Haupttext beziehen ließen; hier und da waren offenbar Bildchen gezeichnet oder auch eingeklebt worden. Die erste Textseite war für die allermeisten Leser schlicht unverständlich; danach wurde es zwar ein wenig besser, aber immer wieder wurde der Text von gänzlich unverständlichen Passagen unterbrochen oder von Szenen, die so phantastisch waren, dass sie in einem schroffen Gegensatz zu den realistischeren Teilen des Buches standen.

Trotz alle dem war das Buch am Tag seines Erscheinens mit allen seinen 2000 Exemplaren (alle nummeriert und vom Autor signiert) beim Verlag verkauft und innerhalb von zwei Monaten im Buchhandel vergriffen. Bei einem Preis von 295,– Deutschen Mark – so hieß das Geld damals –, einem unerhörten Betrag für einen Roman – dürfte es nur hier und da tatsächlich für den Zweck der Lektüre gekauft worden sein, sondern viel öfter als Spekulationsobjekt oder als Kuriosum, das man sonntags seinen Gästen zum gemeinsamen Kopfschütteln vorführen konnte. Das Buch war bei seinem Erscheinen ein Gerücht; es ist es bis heute geblieben.

Doch inzwischen hat sich die Lage wenigstens äußerlich geändert. Die Arno Schmidt Stiftung hat die Mammut-Aufgabe bewältigt, das unförmige Typoskript in ein gesetztes Buch zu verwandeln, was ihm ein wenig von seinem Schrecken nimmt. Und nun ist man noch einen Schritt weitergegangen und hat ein Lesebuch zu Zettel’s Traum herausgebracht, das beinahe wie ein normales Buch daherkommt, wenigstens wie ein normales Buch von Arno Schmidt, die ja auch vor Zettel’s Traum schon eine Sache für sich waren. Das Ziel, so Herausgeber Bernd Rauschenbach, sei es „– natürlich – Leser [zu] werben“. Es solle der Grad der Unlesbarkeit des Buches reduziert werden, in dem man die eher traditionellen, erzählenden Teile aus dem Buch extrahiert und – vermittelt durch Zwischentexte von Susanne Fischer – zu einer fortlaufenden Handlung zusammenstellt. Rauschenbach bezieht sich in seinem Vorwort als Vorbild auf Anthony Burgess’ A Shorter Finnegans Wake, das mit einem ähnlichen Ziel die 628 Seiten von Joyces Roman auf zugänglichere 278 Seiten reduziert hatte. Schauen wir, was das Lesebuch aus Zettel’s Traum macht:

Es sind für die Bargfelder Ausgabe und das Lesebuch jeweils die erste Seitenzahl und die Anzahl der Seiten für jedes der acht Bücher von Zettel’s Traum angegeben sowie das prozentuale Verhältnis zwischen der Anzahl der Seiten in beiden Büchern. Es kommt hinzu, dass die Seiten aus Zettel’s Traum ungleich mehr Text enthalten als die des Lesebuchs.

Im i. Buch der acht Bücher von Zettel’s Traum ist noch gut die Hälfte des Textes erhalten geblieben, was daran liegt, dass Schmidt hier die Exposition seines Textes liefern muss und sich die später dann massiv in den Vordergrund schiebenden eher essayistischen Teile noch in Grenzen halten. Im Gegensatz dazu sind aus den umfangreichen letzten drei Büchern nur noch weniger als 10 % ins Lesebuch übernommen worden; alles in allem präsentiert das Lesebuch nur 13 % des Textes von Zettel’s Traum. Vielleicht fragt sich dann doch die eine oder der andere, was denn in den restlichen 87 % des Textes stehen mag und warum man sie weggelassen hat.

Und genau in diesen 87 % findet sich das eigentliche Problem von Zettel’s Traum.

Von den drei langweiligsten Werken der deutschen Literatur ist „Zettels Traum“ unleugbar eines (die anderen sind ja Klopstocks „Messias“ und „Das Glasperlenspiel“ von Hesse); dies mag festgehalten werden, auch wenn ‚Langweiligkeit‘ weit vom Status einer philologischen Kategorie entfernt bleibt. Jene Langeweile, die vielleicht jede Großleistung verbreitet – ein sich Stunden um Stunden hinziehender Marathonlauf etwa –, geht auch von Schmidts kaum zu bewältigendem Opus aus, und die Vermutung, irgendwann einmal könnte irgendwer eine Kurzfassung des Romans zusammenstreichen – à la „Das Schönste aus Zettels Traum“ […] – ist gewiß nicht abenteuerlich.

Das hat Michael Schneider im Juli 1982 im Bargelder Boten prophezeit, dem Zentralorgan der Schmidt-Forschung, und er hat auch gleich den Grund dafür genannt: Zettel’s Traum ist ein ungeheurer langes und ungeheuerlich langweiliges Buch. Jeder, der William Goldmans Die Brautprinzessin kennt, mag unwillkürlich an den den hübschen Untertitel dieses Buches denken: „S. Morgensterns klassische Erzählung von wahrer Liebe und edlen Abenteuern. Die Ausgabe der ‚spannenden Teile‘“. Doch davon soll ein anderes Mal erzählt werden.

Auch Dieter E. Zimmer hatte früh Bedenken:

»Groß« ist das Buch auf jeden Fall. Es könnte schon sein, daß in Zettel’s Traum das literarische Meisterwerk des Jahrhunderts steckt; es könnte sein, daß es sich um eine Art Streichholzeiffelturm in Originalgröße handelt, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt. Vielleicht ist es auch beides.

Wenn wir ehrlich sind, sind wir über diese Einschätzung bislang nicht wesentlich hinausgekommen. Schließen wir das Bashing mit einem Zitat des Autors selbst ab:

Es ist ein schreckliches Buch. Aber ich mußte es schreiben. Und ein solches Buch mußte einmal geschrieben werden.

Mag sein, das Lesebuch ist tatsächlich eine sich annähernde Teil-Lösung für das Problem Zettel’s Traum: Es liefert einen lesbaren, witzigen und durchaus gelungenen späten Roman Arno Schmidts. Aber es ist zugleich auch ein großer Schritt hin zu dem Eingeständnis, dass Zettel’s Traum ein missglücktes Buch ist, eines, in dem der nun gehobene Roman untergegangen ist, der nur unter Opferung alles übrigen gerettet werden kann. Ich wenigstens mag niemandem, der sich nicht vorgenommen hat, Arno Schmidt ganz und gar kennen zu wollen, wie man einen Autor überhaupt nur kennen kann, raten, seine Zeit mit der Lektüre von Zettel’s Traum zu verschwenden. Es ist schlimm genug, dass der Autor es getan hat.

Zum Lesebuch aber kann ich getrost allen raten, die sich an Zettel’s Traum nicht heranwagen und doch noch einmal einen Roman Arno Schmidts entdecken möchten. An der einen oder anderen Stelle wird man immer noch einfädeln, aber diese Stellen gibt es in allen Büchern Schmidts. Da sollte man es machen wie immer: Einfach weiterlesen!

Arno Schmidts Zettel’s Traum. Ein Lesebuch. Hg. v. Bernd Rauschenbach. Mit Texten von Susanne Fischer. Berlin: Suhrkamp, 2020. Klappenbroschur, Fadenheftung, 254 Seiten. 25,– €.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.

Wie ich einmal zum Leser Arno Schmidts wurde – ein Schul-Aufsätzchen

Um ausnahmsweise auch einmal der Faszination des Datum zu huldigen und weil ich gerade durch Zufall nach langer Zeit wieder einmal an Hugo von Hofmannsthal vorbeigekommen bin, sei hier die Anekdote erzählt, wie ich zum Leser Arno Schmidts geworden bin. Später erzähle ich vielleicht auch einmal, wie ich darüber hinweg gekommen bin, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein ander Mal … Sorry.

Aufgrund einer langen und bis heute anhaltenden Krankengeschichte habe ich eine sehr krumme Schulkarriere hinter mich gebracht. Nach den Sommerferien 1979 kehrte ich ans Gymnasium zurück und besuchte in Solingen die Oberstufe, nachdem ich zuvor einen sogenannten qualifizierten Abschluss der Realschule erworben hatte. Damals kamen die „Absolventen“, also jene, die wie ich zum Upgrade des Schulabschlusses berechtigt waren, in den Genuss von Ergänzungsunterricht in den Hauptfächern, der dem zuvor angesammelten Wissensmangel der Realschulen aufhelfen sollte. In Deutsch gab diesen Unterricht ein etwas eingetrocknetes, katholisches Fräulein (ob sie tatsächlich eines war, ist mir immer unbekannt geblieben), die unter anderem versuchte, das Interesse (= Dazwischensein) der Schülerinnen und Schüler durch einen Ausflug in die Liebeslyrik zu erregen. Darunter fand sich an prominenter Stelle auch das folgenden Gedicht Hugo von Hofmannsthals:

Die Beiden

Sie trug den Becher in der Hand
– Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand –
So leicht und sicher war ihr Gang,
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde
Und mit nachlässiger Gebärde
Erzwang er, daß es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
Den leichten Becher nehmen sollte,
So war es Beiden allzuschwer:
Denn Beide bebten sie so sehr,
Daß keine Hand die and’re fand
Und dunkler Wein am Boden rollte.

Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Hg. v. Lorenz Jäger. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999. S. 29.

Da mir schon damals oft fad war, wenn ich hätte etwas lernen sollen, und mir zum Ausgleich der Schalk im Nacken saß, antwortete ich auf die berüchtigte Frage, was denn der Dichter damit sagen wolle, mit der spontan entwickelten These, es handele sich um die allegorische Beschreibung des ersten Geschlechtsverkehrs zweier Liebender. Das Vagina-Symbol des Bechers in der ersten und die Virilität der zweiten Strophe bereiteten den eigentlich Akt in der dritten Strophe vor, in der zwar nicht die Hände, aber sonstwas zueinander findet und die mit dem berüchtigten Blutopfer des Jungfernmythos endet.

Das dieser Deutung folgende interpretatorische Gestrampel war bei weitem nicht so heftig, wie ich erhofft hatte, aber immerhin schien mir mein Einfall witzig genug, um die Anekdote meinem Philosophielehrer zu erzählen. Der sah mich durchdringend an und fragte: „Kennst Du Arno Schmidt?“, worauf ich wahrheitsgemäß antwortete: „Arno Schmidt? Nie gehört.“ Einige Tage später drückte er mir Sitara und der Weg dorthin in die Hand, das sich als das lustigste Buch herausstellen sollte, das ich bis dahin gelesen hatte.

Auch im Weiteren drückte Schmidt die meisten jener Knöpfe, die bei einem intelligenten, arroganten und autodidaktischen, jedoch mangelhaft belesenen jungen Mann zur Verfügung standen, und als ich mit dem Studium anfing, hatte ich nicht nur den Großteil des Werkes gelesen (im Wesentlichen fehlte damals nur Zettel’s Traum, wenn ich auch sicherlich mit den anderen Teilen des Spätwerks noch an keinem möglichen Rand angekommen war), sondern auch gelernt, was Sekundärliteratur ist und wie sie funktioniert. Ich verdanke diesen drei Jahren viel und habe durch diesen Autor eine merkwürdige Art der literarischen Erziehung genossen. Sicherlich ist da nicht alles glücklich abgelaufen, aber man soll dankbar sein für das, was einem gegeben worden ist. Nur in der Philosophie bin ich ihm schon damals davongelaufen, aber dazu brauchte es auch nicht viel.

Viele Jahre später fand ich dann bei Schmidt die Bestätigung:

Und triefend stand; (‹bezwang ihn, daß er triefend stand› – oder ‹zitternd stand›? Ich wußte’s im Augenblick tatsächlich nich).

Arno Schmidt: Die Wasserstraße. In: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Werkgr. I, Bd. 3. Zürich: Haffmans, 1987. S. 433.

Da hatte es sich gerundet. So etwas wird man später niemals wirklich wieder los.

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger

Am 15. Februar 1959 schreibt Arno Schmidt an Hans Wollschläger:

[…] wir ergo wollen uns, im Interesse einer begierig zuhorchenden Nachwelt, einer schlichten Genauigkeit in Namen, Orten und Daten (der Worte & Werke noch ganz zu geschweigen) befleissigen – das wird ohnehin mal ein schwermütiger Spaß werden, wenn unsere Correspondenz (wie es ja gar nicht ausbleiben kann) gedruckt erscheint, und die bewußten ›Edelmenschen‹ dann, bestürzt die Querhand vor der Stirn, ihr Porträt & das ihres Wirkens ratlos aus (dann wahrscheinlich schon ziemlich schadhaft gewordenen) ›Knopflöchern‹ bestarren.

Nun also ist es endlich soweit – die erste Ankündigung des Briefwechsels liegt gut 30 Jahre zurück –, und es gibt tatsächlich eine, wenn auch wahrscheinlich eher kleine Nachwelt, die begierig zuhorcht. Und es ist schwermütig genug geworden. Ob aber auch ein Spaß? Nunja.

Der erste Kontakt der beiden Schriftsteller findet im September 1957 statt, als Wollschläger mit einem Leserbrief auf einen Schmidt-Text über Karl May  in der FAZ reagiert und der Redaktion eine Erwiderung zukommen lässt, die diese verständlicherweise nicht abdrucken möchte, sondern an Schmidt weiterleitet. Schmidt vermutet in Wollschläger sogleich einen Mitstreiter in der Sache, Karl Mays literarisches Renommee zu heben, und erkennt sehr rasch, dass Wollschläger nicht nur ein May-Kenner ersten Ranges ist, sondern ihm als Mitarbeiter des Karl-May-Verlages (damals unter Ustad-Verlag firmierend) auch einen erneuten, quasi unterirdischen Zugang zu dessen Archiv eröffnen könnte, nachdem es sich Schmidt durch seine undiplomatische Besserwisserei mit der Verlagsleitung bereits verdorben hatte.

Hans Wollschläger ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt (21 Jahre jünger als Schmidt), seiner Ausbildung und seinen Ambitionen nach Musiker, Fachmann für Gustav Mahler, dessen 10. Symphonie er zu rekonstruieren versucht, und verdient sich sein karges Brot als freier Mitarbeiter des Karl-May-Verlages. Schmidt und Wollschläger sind sich wenigstens darin einig, dass May ein unterschätzter Autor sei, wenn auch Schmidt im Wesentlichen nur vier Bücher des Spätwerks gelten lassen will, wohingegen Wollschläger wenigstens zu Anfang an eine breitere Auswahl schätzenswerter Werke zu denken scheint.

Und so ist denn der Großteil des Briefwechsels leider auch geworden: Das Thema Karl May ist durch das ganze Konvolut hindurch dominant. Es werden die Güte bzw. die Mängel verschiedener Ausgaben diskutiert, man weist einander auf antiquarische Angebote hin, Wollschläger schiebt Schmidt Materialien aus dem Verlagsarchiv zu, ist überhaupt eine Quelle für biographische Details, die er aus seiner Lektüre zahlloser Briefe Mays gewinnen konnte. Wen May interessiert, wird hier eine Bonanza von Material und Feinheiten finden; wer allerdings trotz Arno Schmidt und Hans Wollschläger hartnäckig bei der Auffassung verharrt, dass es sich bei May um einen hochgradigen Schwätzer und ausgemachten Hohlkopf handelt, wird sich über weite Strecken durch diesen Briefwechsel durcharbeiten müssen.

Denn eigentlich erfährt man nichts: Weder Schmidts Behauptung, beim Mayschen Alterswerk handele es sich um eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie, wird in irgendeiner Weise reflektiert oder auch nur erläutert, noch wird der Schwenk Schmidts zu einer psychoanalytischen Lesart Mays methodisch oder inhaltlich diskutiert. Als Schmidt das erste Mal gegenüber Wollschläger andeutet, May könne homosexuell gewesen sein, lehnt dieser die Vermutung aus seiner biographischen Kenntnis heraus rundweg ab. Erst als Schmidt die Wendung findet, dass May seine homosexuellen Neigungen unbewusst verarbeitet habe, stimmt Wollschläger sofort und gänzlich unkritisch zu. Danach tritt er Schmidt hier wie auch überall sonst die Brücke.

Für Freunde oder Bewunderer Wollschlägers – inzwischen ist auch bei ihm von einer Gemeinde seiner Leser die Rede, wie es früh schon für die Leser Schmidts üblich geworden war –  ist der Briefwechsel insoweit ergiebig, als er Schmidts Bemühungen um den jungen Autor gut dokumentiert: Schmidt ermutigt Wollschläger immer wieder zur Fertigstellung seines Romans Herzgewächse, empfiehlt das Manuskript bei den Verlagen, zu denen er Kontakt hat, verschafft Wollschläger seine ersten Aufträge als Übersetzer und holt ihn zu dem großen Projekt der Poe-Übersetzung mit ins Boot. Als Schmidt dann in die Niederschrift von Zettel’s Traum abtaucht und der Briefwechsel immer loser wird, ist Wollschläger so weit etabliert, dass er von Suhrkamp – trotz seiner Verbindung zu Arno Schmidt, von dem Verlagschef Unseld nicht viel zu halten scheint – den Auftrag erhält, den Ulysses neu zu übersetzen. Damit schreibt er sich dann endgültig in die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ein.

Und trotz der Koketterie des einleitenden Zitats ist es natürlich klug, sich beim Lesen von Briefen fremder Menschen klar zu machen, dass man damit unvermeidlich in einen privaten Bereich vordringt, den zu betreten man ganz eigentlich kein Recht hat. Mich hat die Lektüre dieses Briefwechsels von beiden Autoren weiter entfernt; ein wenig mehr von Schmidt, ein deutliches Stück mehr von Wollschläger, obwohl hier die Distanz ohnehin schon erheblich war. Aber das liegt nun ausschließlich an mir und tut für das Buch weiter nichts zur Sache. Nur einmal mehr hat sich das Wort Schmidts bestätigt, dass sich ein Schriftsteller langsam in seine Werke auflöse; „den zurückbleibenden schäbigen Rest besieht man sich besser nicht“.

Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Hans Wollschläger. Briefe IV. Hg. v. Giesbert Damaschke. Berlin: Suhrkamp, 2018. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1034 Seiten. 68,– €.

Arno Schmidt. Eine Bildbiographie

Arno Schmidt ist einer der wenigen Schriftsteller, die das Glück gehabt haben, dass sich bereits kurz nach ihrem Tod eine finanzkräftige Institution ihres Werks angenommen hat. Im Fall Schmidts haben der Mäzen Jan Philipp Reemtsma und Arno Schmidts Witwe Alice im Jahr 1981 Arno Schmidt Stiftung gegründet, in die Reemtsma das Grundkapital, Alice Schmidt die Werkrechte eingebracht hat. Erste und vornehmste Aufgabe dieser Stiftung war es, eine solide Text­grund­lage für die Beschäftigung mit dem Werk Arno Schmidts zu erstellen. Die zuerst im Zürcher Haffmans Verlag und nach dessen Konkurs im Suhrkamp Verlag fortgesetzte Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts wurde mit der gesetzten Ausgabe von „Zettel’s Traum“ im Jahr 2010 abgeschlossen. Neben der Werkausgabe sind einige Ein­zel­ver­öf­fent­li­chun­gen aus dem Nachlass erschienen, so etwa die Fragmente „Die Feuerstellung“ und „Lilienthal 1801“ oder das Manuskript zur „See­land­schaft mit Pocahontas“; derzeit arbeitet Susanne Fischer an einer Edition der Zettel zum ungeschriebenen Teil des letzten Romans, an dem Schmidt bis zu seinem Tod gearbeitet hat, „Julia, oder die Gemälde“. Auch mehrere Briefbände sind erschienen – am letzten, wichtigen Desiderat, dem Briefwechsel mit Hans Wollschläger, arbeitet derzeit Giesbert Damaschke – und drei Jahrgänge des Tagebuchs von Alice Schmidt, die einen Ausschnitt aus der Lebens- und Arbeitswelt Schmidts in den 50er Jahren liefern. Hinzukommen Ausstellungen zu Leben und Werk, die die Erinnerung an Arno Schmidt lebendig erhalten. So kann die Stiftung auf eine kontinuierliche und ertragreiche Arbeit in den 35 Jahren ihres Bestehens zurückblicken.

Worauf aber die Leser und Freunde des Werks Arno Schmidts lange vergeblich gewartet haben, ist die große Biographie Arno Schmidts, die Bernd Rauschenbach – früherer Secretär, jetziger Vorstand der Arno Schmidt Stiftung – schreiben wollte. Dieses Projekt wurde von ihm aber vor einiger Zeit offenbar aufgegeben. Sozusagen als Ersatz erschien nun in diesem Jahr einen großformatige und umfangreiche Bildbiographie mit reichem Bildmaterial aus dem Archiv, das zu einem Großteil erstmals gedruckt erscheint. Die Biographie ist aufgeteilt nach Wohnorten Schmidts, was bei ihm, für den sein unmittelbares Lebensumfeld immer auch von entscheidender kreativer Bedeutung war, eine sinnvolle Einteilung liefert. Jeder Abschnitt der Biographie wird durch einen geschlossenen Text aus der Feder Bernd Rauschenbachs eingeleitet, der im anschließenden Bildteil dann dokumentarisch eingeholt wird. Die Auswahl des Materials und die Gestaltung der Texte und Doppelseiten ist, soweit ich das beurteilen kann, superb.

Entstanden ist so ein umfassendes und gut gewichtetes biographisches Porträt Arno Schmidts nicht nur als Schriftsteller und Übersetzer, sondern auch als Ehemann sowie als politische Figur der Bundesrepublik besonders der 50er Jahre. Dem Leser wird die selbstgewählte Isolation Schmidts deutlich, seine sozialen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Literaturbetrieb und Kollegen, die monomanische Konzentration auf sein Schreiben und auch die langjährige Armut, in der er zusammen mit seiner Frau existiert hat, um – in seinem Selbstverständnis – der deutschen Literatur zu dienen. Allein um dieser in der deutschen Nachkriegsliteratur wohl einmaligen Mischung aus Sendungsbewusstsein und durchlittener mediokerer Existenz lohnt sich die Kenntnisnahme dieses Schrift­stel­ler­schick­sals.

Natürlich hinterlässt eine solche Bildbiographie, wie umfangreich sie auch immer sein mag, auch das Bewusstsein der Lücken, die sie zwangsläufig lassen muss. So ist an mehreren Stellen von der Privatmythologie des Ehepaars Schmidt die Rede, wahrscheinlich eines der wichtigsten Bindemittel für diese merkwürdig Kampfgemeinschaft gegen die grobe Welt. So erfahren wir zwar hier und da Details (die „drei Mohren“, der „private Kalender“ etc.), aber es wird eben durch diese Andeutungen klar, wieviel Privates im Leben der Schmidts noch verborgen liegen mag. So schön und gelungen diese Bildbiographie auch sein mag, sie macht einmal mehr das Desiderat einer umfangreichen, aus dem Bargfelder Archiv gespeisten dokumentarischen Biographie fühlbar. Hoffentlich schreibt sie jemand, bevor es zu spät ist.

Arno Schmidt. Eine Bildbiographie. Hg. v. Fanny Esterházy. Mit einf. Texten v. Bern Rauschenbach. Berlin: Suhrkamp, 2016. Bedruckter Pappband mit Leinenrücken, Fadenheftung, 456 großformatige Seiten. 68,– €.

Drei Liebesromane

Beisserbuch

Frank Duwald von dandelion fragt Blogger-Kollegen nach den drei schönsten Liebesgeschichten. Auf Anhieb würde ich mich für den denkbar Ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage halten, und das aus gleich zwei Gründen: Zum einen ist der Liebesroman eines der klischeebehaftetsten Genres überhaupt. In meiner Zeit als Buchhändler nannten wir eine bestimmte Sorte von Romanen, die sich durch Variation des immer selben Cover-Motivs auszeichneten, aus offensichtlichen Gründen „Beißerbücher“. Wenig lässt daran zweifeln, dass der Inhalt dieser Romane den Bildern auf den Umschlägen gleicht wie eine Boulevard-Komödie der anderen.

Zum anderen hege ich arge Zweifel daran, dass eine schöne Lie­bes­ge­schich­te eine schöne Liebesgeschichte sein kann. Schon 1764 bemerkt Christoph Martin Wieland in seinem „Don Sylvio von Rosalva“:

Die Moralisten habens uns schon oft gesagt, und werdens noch oft genug sagen, daß es nur ein einziges bewährtes Mittel gegen die Liebe gebe; nehmlich, so bald man sich angeschossen fühle, so schnell davon zu laufen als nur immer möglich sey. Dieses Mittel ist ohne Zweifel vortrefflich; wir bedauern nur, daß es unsern moralischen Ärzten nicht auch gefallen hat, das Geheimnis zu entdecken, wie man es dem Pazienten beybringen solle. Denn man will bemerkt haben, daß ein Liebhaber natürlicher Weise eben so wenig fähig sey, vor dem Gegenstande seiner Lei­den­schaft davon zu laufen, als er es könnte, wenn er an Händen und Füßen gebunden oder an allen Nerven gelähmt wäre; ja man behauptet sogar, vermöge einer unendlichen Menge Erfahrungen worauf man sich beruft, daß es in solchen Umständen nicht einmal möglich sey, zu wünschen daß man möchte fliehen können.

Literarische Liebe ist daher wahrscheinlich dann am besten, wenn ihre Protagonisten sich als jene Patienten erweisen, von denen Wieland spricht. Aus diesen beiden Gründen fällt die Auswahl meiner „schönsten Liebesgeschichten“ für die eine oder den anderen vielleicht etwas zu defätistisch aus.

Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Wäre der Protagonist nicht ein Mann, so ließe sich bei diesem Buch von der Mutter aller unglücklich Liebenden sprechen. Das Buch war nicht nur ein internationaler Erfolg, der Goethe binnen kurzem zu einer Berühmtheit machte, es löste auch eine Propaganda aus, die zum Teil bis heute nachwirkt, so etwa die immer wiederholte, aber gänzlich unbelegte Behauptung, das Buch habe eine Welle von Selbstmorden ausgelöst, ein Gerücht, dem offenbar sogar Goethe teilweise Glauben geschenkt hat. Erzählt wird die Geschichte des jungen Werther, der sich in die bereits anderweitig verlobte Lotte verliebt, sich loszureißen versucht, in die Welt flieht, trotz allem zurückkehrt und am Ende keinen besseren Ausweg findet, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und es anderswo zu versuchen, da er in der sublunaren Welt seinen Platz nicht hat finden können. Goethe achtet schon in der ersten Fassung des Textes sorgfältig darauf, Werthers Leiden als eine Art sich steigernden Wahn der Leidenschaft darzustellen, als eine Art von Geisteskrankheit, der sich der an ihr Leidende ab einem gewissen Punkt nicht mehr selbst entziehen kann. Noch Hunderte von unglücklich liebenden Romanfiguren des 19. Jahrhunderts sollten auf diesem Wege aus ihrem papiernen Leben scheiden.

Vladimir Nabokov: Lolita (1955)

nabokov lolita 1955

Wohl seufzend hat Nabokov einmal festgestellt, nicht er sei berühmt, „Lolita“ sei es. Und ebenso seufzend könnte man anmerken, dass diese Berühmtheit wie so viele andere auf einem Missverständnis beruht, nämlich auf dem, bei „Lolita“ handele es sich um einen erotischen Roman. Dabei ist „Lolita“ die Geschichte einer tiefen Wunde, die der Protagonist und Erzähler Humbert Humbert in seiner Jugend empfangen hat, als er sich zum ersten Mal und für immer unglücklich verliebte. Seit jenen frühen Jugendtagen wiederholt er das Muster dieser Liebe immer und immer wieder, um ebenso selbstverständlich wie notwendig zu scheitern. Jetzt, während er uns die Geschichte seiner letzten verzweifelten Liebe zu Lolita erzählt, sitzt er im Gefängnis und erwartet die Todesstrafe, nicht, weil er ein minderjähriges Mädchen verführt und missbraucht hat, sondern weil er einen seiner Rivalen um die Liebe Lolitas erschossen hat. „Lolita“ ist ein in jeglicher Hinsicht tief trauriges Buch, das nur Verlierer und Unglück kennt und eine treffliche Antwort zu jener Frage bei E.T.A. Hoffmann ist: „Was ist der Mensch, und was kann aus ihm werden?“

Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas (1955)

Schmidt-Seelandschaft-Handzeichnung

Vielleicht in den Augen manch eines Lesers kein Roman, sondern nur eine Erzählung (Schmidt selbst nannte es einen Kurzroman), aber eben auch eine unglückliche Liebesgeschichte, vielleicht eine der schönsten der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts: Erzählt wird von zwei Kriegs­ka­me­ra­den, Erwin und Joachim, die sich in den 50er Jahren wiedertreffen und am Dümmer in Niedersachsen Urlaub machen. Erwin ist ein erfolgreicher Anstreicher, Joachim ein erfolgloser Schriftsteller, und so zahlt der Handwerker für das Kopftier. Und weil er zahlt, kann er sich, als die beiden am Urlaubsort auf ein sympathisierendes Pärchen von Damen treffen, seine aussuchen – Annemarie, rund und handfest – und Joachim muss sich um die andere kümmern – Selma, dürr, lang und hässlich wie eine UKW-Antenne (das Bild stammt von Schmidt, nicht von mir). Doch was als Verpflichtung beginnt, wird rasch zu einer Liebesgeschichte, einer, in der beide Liebenden nicht an eine gemeinsame Zukunft glauben: Selma ist schon einem groben Menschen versprochen, der sie wegen eines zu erwartenden Erbes genommen hat, und Joachim weiß nicht einmal von einer Gegenwart, geschweige denn könnte er eine Zukunft versprechen. Und so endet auch diese Liebe nach wenigen Tagen, als der Urlaub der Damen zu Ende geht:

Das Trauerkleid der letzten Nacht. / […] »Ach Du.« Kam inbrünstig und drückte sich an; seufzte galgenhumorig: »Na dann atterdag.«; zog auch die Füße an und gab schnelle Tritte auf einen unsichtbaren Hintern (des Schicksals?). / »Knips Du bitte aus.« Noch einmal sah ich so eine lange Indianerin. Am Schalter. Dann ging die Unsichtbare still um mich herum. (Gleich darauf Wadenkrampf, etwa auch souvenir d’amour, und ich ächzte und zischte und massierte: teuflischer Einfall: vielleicht hält sies für Schluchzen!). / Gleich darauf raste der Wecker schon; wir erhoben uns geduldig. Sie reichte sich stumm zum letzten Biß: – »In Beide«: »Schärfer!«; prägte auch ihre Zahnreihen mächtig ein. (Schon klopfte Annemie vorsichtshalber: ?: »Ja wir sind wach!«. Und hastende Stille). / »Sieh mich nich mehr an, damit ich abreisen kann!« / Erich, unverwüstlich, rühmte schon wieder die Autobusschaffnerin: »Haste die gesehn?!«: Kaffeebrauner Mantel, gelber Schal, die schräge schwarze Zahltasche, eine Talmiperle im rechten Ohr, blasses lustiges Gesicht; ich gab Alles zu. / Wolkenmaden, gelbbeuligen Leibes, krochen langsam auf die blutige Sonnenkirsche zu. Erich räusperte sich athletisch: »Na, da wolln wer erssma …..« und wir marschierten zurück, »weiter penn’: verdammte Fützen!«. Mein Kopf hing noch voll von ihren Kleidern und ich antwortete nicht.

(geschrieben für dandelion)