»Herr Ober, in der Suppe fehlt was.«
»Das ist nicht möglich, mein Herr. Da ist alles drin, was in der Küche war.«
Ein Buch aus der Kategorie »viel Soße, wenig Fleisch«. Greenblatt ist es als Shakespeare-Biograph natürlich gewohnt, mit nahezu nichts soviel Umstände zu machen, dass sich ein ansehnliches Buch ergibt. Dass man mit dem Bohren eines solch dünnen Bretts allerdings jetzt schon einen Pulitzer-Preis gewinnen kann, ist kein gutes Zeichen.
Das Zentrum des Buches bildet die Wiederentdeckung des Textes »De rerum natura« von Lukrez im Jahre 1417. Wir kennen hierfür leider nur wenige konkrete Fakten: Weder wissen wir, in welcher Klosterbibliothek Gianfrancesco Poggio den Fund machte, noch ist das ursprünglich aufgefundene Manuskript jemals wieder aufgetaucht. Auch die im Auftrag Poggios erstellte Kopie ist verloren; erhalten blieb nur eine italienische Abschrift dieser Abschrift, die dann die Grundlage der Verbreitung des Textes im 15. Jahrhundert wurde. Das ist auch schon beinahe die ganze Geschichte, die Greenblatt zu erzählen hat. Damit gut 270 Seiten zu füllen, ist kein kleines Kunststück, weshalb wir viel oberflächlich Angelesenes über Pompei und Herculaneum erfahren, weil dort in einer Villa ein antikes Exemplar des Buches gefunden wurde. Auch wird uns ausführlich von Jan Hus und Giordano Bruno berichtet, nicht weil die Lukrez gelesen hätten, sondern weil der eine ebenso wie Poggio auf dem Konzil von Konstanz war (allerdings mit deutlich schlechterem Ausgang) und der andere auch sowas ähnliches wie Lukrez gemeint hat, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderen Absichten, aber was macht das schon, wenn es nur Seiten füllt. Auch erfahren wir einiges über die Kirchenpolitik des 15. Jahrhunderts, über Petrarcas Latein, mittelalterliche Skriptorien (wobei Greenblatt von den drei dort am häufigsten verwendeten Tinten gerade einmal eine zu kennen scheint), Lesevorschriften für Mönche und die Mühen des Kopierens und vieles, vieles andere mehr. Nichts von dem hat zwar irgend etwas mit Lukrez oder »De rerum natura« zu tun, aber Greenblatt hat es eben irgendwo gelesen und nun soll es auch mit ins Buch hinein. Wer wird so kleinlich sein und verlangen, dass ein so umfassend halbgebildeter Autor beim Thema bleibt.
Wie wesentlich fremd Greenblatt die Welt des 15. und 16. Jahrhunderts am Ende bleibt, zeigt vielleicht am deutlichsten diese Stelle:
Tatsächlich konnte es den Anschein haben, als gebe der Atomismus den Reformatoren so etwas wie eine geistige Massenvernichtungswaffe an die Hand. [S. 263]
Was wird sich ein Mensch des 16. Jahrhunderts wohl unter einer »Massenvernichtungswaffe« vorgestellt haben?
Gänzlich irreführend aber sind der Untertitel und die Verlagswerbung zum Buch: Während die ursprüngliche Ausgabe den ebenso vagen wie historisch irritierenden Untertitel »How the World Became Modern« trug, wurde das Buch dann schon für die englischen Ausgaben bei Random House in »How the Renaissance Began« umgetauft, was dann konsequent zu dem deutschen »Wie die Renaissance begann« führte. Nun spricht Greenblatt nebenbei und fragmentarisch auch darüber, wie die Renaissance begann, wobei er sich dabei in der Hauptsache auf Pertrarcas Vorliebe für klassisches Latein konzentriert, alles in allem ist im Buch aber nur ganz wenig und sehr oberflächlich davon die Rede, wie die Renaissance begann. Die Verlagswerbung setzt noch eins oben drauf:
Spannend und farbenfroh beschreibt Stephen Greenblatt, wie die Verbreitung des Buches die Renaissance beeinflusste und bedeutende Künstler wie Botticelli und Shakespeare, aber auch Denker wie Giordano Bruno und Galileo Galilei prägte. Greenblatt bietet einen neuen Blick auf die Geburtsstunde der Renaissance, der zugleich zeigt, wie ein einzelnes Buch dem Lauf der Geschichte eine neue Richtung geben kann. [Siedler Verlag / Random House]
Genau dies tut Greenblatt nicht! Zwar suggeriert er einen Einfluss des Lukrezschen Weltbildes auf Botticellis »La Primavera«, aber das ist auch schon der einzige bildende Künstler, der erwähnt wird. Von einer Einordnung Botticellis in die Gesamtentwicklung der Kunst geschweige denn der Kultur der Renaissance, die eine gänzlich ausreichende Erklärung ohne einen Rekurs auf Lukrez liefert, kann natürlich keine Rede sein. Einen möglichen Einfluss auf Shakespeare macht der Shakespeare-Experte Greenblatt ausgerechnet an der Verwendung des Wortes »atomi« in »Romeo and Juliet« fest, nachdem er einige Seiten zuvor explizit festgestellt hat, dass Lukrez das griechische »atomos« überhaupt nicht verwendet. Auch von einem konkreten Einfluss auf Giordano Bruno oder Galilei ist keine Rede, auch wenn beide im Buch natürlich prominent vertreten sind.
Einen konkreten inhaltlichen Einfluss kann Greenblatt überhaupt erst für das 17. Jahrhundert nachweisen, also zu einer Zeit, als dem physikalischen Materialismus längst auf anderem Wege der Boden bereitet ist. Das 15. und 16. Jahrhundert haben Lukrez wohl ausschließlich als einen außerordentlichen Stilisten zur Kenntnis genommen, dessen Theorien aber in keiner Weise ernst zu nehmen waren.
Ein geschwätziges und seichtes Buch, das, so lange man nicht erwartet, das vorzufinden, was der Untertitel und die Verlagswerbung versprechen, für die meisten sicherlich ganz nett zu lesen ist. Für diejenigen, die schon eine allgemeine Vorstellung davon haben, dass es so etwas wie eine Antike und eine Renaissance gegeben hat, ist das Herausklauben relevanter Informationen wahrscheinlich etwas zu mühsam und die Lektüre eine Zeitverschwendung.
Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. Aus dem Englischen von Klaus Binder. München: Siedler, 2012. Leinen, Lesebändchen, 345 Seiten. 24,99 €.