Jane Austen: Überredung

Annes Absicht war es, niemandem im Weg zu sein …

austen-ueberredung„Überredung“ ist der letzte Roman Jane Austens, den sie wenige Monate vor ihrem Tod fertiggestellt hat und der von ihrem Bruder zusammen mit dem üb­er­ar­bei­te­ten, älteren „Northanger Abtei“ postum her­aus­ge­ge­ben wurde. „Überredung“ hat nur etwa den halben Umfang seiner beiden Vorläufer „Mansfield Park“ und „Emma“, was dem Buch erzählerisch sehr zugute kommt. Es ist unklar, ob diese Entscheidung zugunsten der kürzeren Form eine ästhetische war oder Austen durch ihre Erkrankung aufgenötigt wurde.

Auch in diesem Fall variiert Austen wieder Charakter und sozialen Stand ihrer Protagonistin: Anne Elliot ist die zweite von drei Töchtern des Barons Walter Elliot, der nach dem Tod seiner Frau für einige Jahre deutlich über seine Verhältnisse gelebt hat und sich nun beträchtlich einschränken muss, um seine Schulden begleichen zu können. Seine jüngste Tochter Mary ist verheiratet mit einem Mann, der sich zuerst um Anne beworben hatte, von dieser aber abgewiesen worden war. Anne hatte vor dem Antrag ihres späteren Schwagers bereits einen Heiratsantrag von dem damals mittellosen Marine-Offizier Frederick Wentworth erhalten, diesen aber entgegen ihrer Neigung auf Zureden ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell abgelehnt. Aufgrund dieser Situation hat man sie im väterlichen Haushalt quasi aufgegeben; die wenige Aufmerksamkeit, die der eitle und egozentrische Baron überhaupt aufbringen kann, gilt nun ihrer älteren, ebenfalls noch unverheirateten Schwester Elizabeth.

Der Roman beginnt mit der Auflösung des Haushaltes auf dem Herrensitz der Elliots: Walter Elliot ist gezwungen, sein Haus zu vermieten und in bescheidenere Verhältnisse nach Bath zu übersiedeln. Ins Haus zieht ein Admiral ein, der mit einer Schwester Frederick Wentworth’ verheiratet ist. Wentworth hat in den napoleonischen Kriegen sein Glück gemacht, ist nun ein wohlhabender Kapitän und – entsprechend dem ersten Satz von „Stolz und Vorurteil“ – auf der Suche nach einer Frau. Durch die Verbindung mit dem Haushalt seiner Schwester kommt es natürlich zur Wiederbegegnung mit Anne …

Auch in diesem Fall ist es nicht nacherzählenswert, wie Austen die letztliche Wiedervereingung der füreinander bestimmten Liebesleute bewerkstelligt. Interessant ist dagegen die Gestaltung der Protagonistin: Anne Elliot ist einmal mehr ein Gegenentwurf zu einer von Austens früheren Figuren: Wo Emma Woodhouse das Zentrum der sie umgebenden Gesellschaft bildet, ist Anne Elliot so etwas wie eine graue Maus. Von ihrer Schwester Mary wie eine bessere Bedienstete behandelt, von ihrer Familie als schwieriger Fall abgeschrieben, mit ihrer einzigen Liebe zu Wentworth gescheitert, hat sich Anne resignierend mit ihrer Rolle abgefunden. Sie hat keine realistischere Aussicht auf eine Zukunft als als alte Jungfer im Haushalt ihres Vaters oder einer ihrer Schwestern ihr Leben zuzubringen, als ihre zukünftigen Neffen und Nichten umsorgende, geliebte Tante und guter Geist des Haushalts. Austen stellt diesem Leben am Rande einer Familie des niederen Adels ganz bewusst den weit menschlicheren Umgang in der bürgerlichen Sphäre der anderen Marine-Offiziere um Kapitän Wentworth entgegen, in der allein Anne unabhängig von ihrem familiären und ehelichen Status wahrgenommen wird. Wenn bei Austen irgendwo eine gesellschaftliche Utopie zu finden ist, dann hier.

Es kann nur als sehr bedauerlich angesehen werden, dass Austen nur eine so kurze Karriere als Schriftstellerin beschieden gewesen ist. „Überredung“ zeigt, dass sie in der Lage war, sich von den literarischen Klischees ihrer Zeit weitgehend zu befreien und zu erzählerischen Konzepten vorzustoßen, die wir normalerweise erst Autoren des bürgerlichen Realismus zuschreiben. Von dieser Autorin wäre noch viel zu erwarten gewesen.

Jane Austen: Überredung. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 7972. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 320 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.

Jane Austen: Emma

Die Zeit verging.

austen-emmaBei „Emma“ handelt es sich um Austens längsten und – gemessen an ihrem eigenen Gesamtwerk – zugleich langweiligsten Roman. Für ihn spricht zwar der anspruchsvolle Versuch, beim Publikum mit einer negativen Heldin durchzukommen, aber Emmas Wandlung zur idealen Gattin im zweiten Teil des Romans verdirbt das ohnehin nur halbherzig unternommenen Experiment. Der Roman erschien 1815 und war die letzte Veröffentlichung Austens zu Lebzeiten; ihre letzten beiden Romane gab ihr Bruder Henry aus dem Nachlass heraus.

Erzählt werden einige Monate aus dem Leben von Emma Woodhouse. Emma unterscheidet sich von allen bisherigen Heldinnen Austens darin, dass sie zum einen wohlhabend ist – sie lebt in einem wohlversorgten Haushalt und ist die einzige Erbin ihres Vaters – und zum anderen keinerlei Ambitionen zu haben scheint zu heiraten. Damit Austen sich aber nicht zu weit von ihrem einzigen und zentralen Thema entfernt, pflegt Emma als Hobby die Eheanbahnung für andere, eine Tätigkeit, für die sie sich besonders begabt glaubt, in deren Verlauf sich ihr Mangel an Menschenkenntnis, Selbsterkenntnis und Bescheidenheit aber nur zu deutlich erweist. Doch unter dem Einfluss des unbestechlichen Mr. Knightley, der sie bereits seit ihren Kindertagen kennt, wandelt sich Emma zu einer hehren Lichtgestalt, bemerkt, dass sie – wie jede andere Frau – natürlich auch nichts anderes zum Lebensglück braucht als einen Ehemann und heiratet den unerträglich moralisierenden, zum Hintüberfallen aufrechten Mr. Knightley; sie hat auch nicht anderes verdient.

Es mag sein, dass Jane Austen selbst von dem Abziehbild, das ihre Fanny Price im Wesentlichen darstellt, so gelangweilt war, dass sie auf den Gedanken verfiel, ob es nicht möglich sei, einen Roman mit einer negativen Heldin zu schreiben. Emma wird also als absolutes Gegenteil gestaltet: reich, verwöhnt, eingebildet und zu selbstverliebt, um heiraten zu wollen. Woran Austen letztlich scheitert, ist, für diese neue Art von Heldin ein Schicksal zu erfinden, das sich ebenso radikal von der Schablone der zeitgenössischen Romane unterscheidet wie die Grundkonzeption der Protagonistin. Stattdessen liefert Austen einmal mehr eine vollständig geradlinige, vorhersehbare und kaum über ihre Konstruktion hinausreichende Fabel. Auch von ihrem Humor ist in diesem Roman wenig zu spüren, so dass es kein Wunder ist, dass dieser Roman mit großem Erfolg und Gwyneth Paltrow zu einer Seifenoper verarbeitet worden ist.

Jane Austen: Emma. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 7633. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 560 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.

Jane Austen: Mansfield Park

Ich kenne so viele, die in der festen Erwartung und im Vertrauen auf einen ganz besonderen Vorteil bei der Verbindung oder ein Talent oder eine gute Eigenschaft bei ihrem Partner geheiratet haben, sich dabei völlig getäuscht sahen und gezwungen waren, sich mit dem genauen Gegenteil abzufinden. Was ist das anderes als ein Reinfall?

austen-mansfield-park-reclamDer dritte Roman Jane Austens, wenn man nach der Reihenfolge der Veröffentlichung geht, erschienen 1814. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern hat er nicht mehrere Stufen der Überarbeitung durchlaufen, was ihm auch deutlich anzumerken ist: Ihm fehlt sowohl die erzählerische Dichte als auch in weiten Teilen jene durchgängig ironisch distanzierte Erzählhaltung, die die beiden Romane zuvor auszeichnet. Statt dessen wirken lange Passagen der Erzählung ausschließlich impressionistisch; sie schildern zwar präzise die Verhältnisse und Beschäftigungen der Bewohner von Mansfield Park, sie tragen aber kaum etwas zur Entwicklung der Protagonistin oder der Handlung bei.

Erzählt wird die Geschichte der etwa 18-jährigen Fanny Price. Fanny entstammt einer kinderreichen, bürgerlichen Familie, die in bescheidenen Verhältnissen in Portsmouth lebt. Im Alter von neun Jahren wird Fanny auf Anregung einer ihrer Tanten – der durchweg als egozentrisch und missgünstig geschilderten Witwe Mrs. Norris – in den Haushalt ihres sehr wohlhabenden Onkels Sir Thomas Bertram aufgenommen. Die Bertrams haben bereits vier ältere Kinder: Tom, der den Besitz der Bertrams einmal erben wird, Edmund, für den die für einen jüngeren Sohn eines Adeligen durchaus typische Karriere eines Geistlichen vorgesehen ist, und Maria und Julia, die natürlich gut verheiratet werden sollen. Es entwickelt sich früh schon eine besondere Freundschaft zwischen Fanny und Edmund, die sich zum Zeitpunkt der Haupthandlung zumindest bei Fanny zu einer handfesten, insgeheimen Liebe gemausert hat, ohne dass Fanny sich Hoffnungen machen dürfte, dass Edmund sie heiratet. Aber natürlich geht es aus, wie es ausgehen muss.

Im Gegensatz zu den beiden früheren Romanen ist die Fabel des Romans sehr geradlinig erzählt; ihr fehlt jede überraschende Wendung, jede verdeckte Motivation, jedes Geheimnis. Alle Absichten der Figuren werden stets sofort ausgeplaudert, der Leser verfügt zu jeder Zeit über alle zum vollständigen Verstehen der Handlung benötigten Informationen. Weder ist er überrascht, als sich der Bösewicht als Bösewicht herausstellt, noch ist es überraschend, wie sich dies erweist. Auch wird der Bösewicht nur zu dem einen Zweck entlarvt, die Protagonistin auf einfache Weise von der Bedrohung durch seine Heiratsabsichten zu befreien. Austen gelingt es nur an ganz wenigen Stellen, sich erzählerisch über das Niveau jedes beliebigen Romans ihrer Zeit zu erheben.

All das dürfte zum einen der vergleichsweise raschen Entstehung des Romans geschuldet sein: Austen hatte mit den beiden Veröffentlichungen zuvor (die beide mehrfache Überarbeitungen deutlich älterer Entwürfe waren) außergewöhnliche Erfolge gefeiert und sah sich gedrängt, möglichst rasch den nächsten Roman nachzuliefern. Zum anderen kann man Austen zugestehen, dass sie in „Mansfield Park“ den Versuch macht, eine für sie gänzlich neue Art von Protagonistin zu entwickeln: Im Gegensatz zu Elinor Dashwood oder Elizabeth Bennet, die beide durch Selbstbewusstsein und sicheres Urteil charakterisiert sind, befindet sich Fanny Price nicht nur in einer gedrückten und abhängigen äußeren Lage, sondern sie hat zudem einen von Bescheidenheit, Zurückhaltung und Selbstzweifeln geprägten Charakter. Ihr wird von ihrer Tante Mrs. Norris keine Chance gegeben, ihre Position als arme Verwandte im Hause Bertram zu vergessen; dass sie sich in diese Position klaglos einfindet, dass sie Vernachlässigung und Zurücksetzung als ihrer Position im Haus angemessen empfindet, dass sie sich schließlich lesend selbst ausbildet, macht sie zu einer Heroin des Tugendkults ihrer Zeit, und genau das ist es, was Austen in der Masse des Textes daran hindert, ihren früheren ironischen Ton fortzusetzen: Fanny ist am Ende in jedem Detail eine positive Protagonistin – oder ist wenigsten so beabsichtigt –, mit der Austen durch und durch einverstanden ist und deren Tugend sich auf das Herrlichste bewähren muss. Genau das ist der Kern der Langeweile, die der Roman über weite Strecken verbreitet.

Jane Austen: Mansfield Park. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. RUB 8007. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 572 Seiten. In dieser Ausgabe nicht mehr lieferbar. Lieferbare Ausgabe.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil

Zwar war Mr. Collins nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet; seine Gesellschaft war ermüdend und seine Liebe zu ihr war wohl nur Einbildung. Aber immerhin war er bald ihr Ehemann. Von Männern und Ehe hatte sie nie viel gehalten; alles was sie wollte, war verheiratet sein.

austen-stolz-vorurteil

Dieser der Veröffentlichung nach zweite Roman Jane Austens gilt im englischen Sprachraum zu Recht als ihr Meisterwerk. Auch dieses Buch war in einer frühen Fassung bereits lange vor seiner Veröffentlichung 1813 entstanden; erst der Erfolg von „Verstand und Gefühl“ (1811) führte zum Druck, obwohl das Buch bereits 16 Jahre zuvor einem Verleger angeboten worden war. Die Handlung ist deutlich komplexer gebaut als in den anderen Romanen Austens, ohne dass dies zu einem Ausufern des Personals geführt hätte.

Im Mittelpunkt der etwas mehr als ein Jahr umfassenden Fabel steht die Familie Bennet, die auf dem Landsitz Longbourn lebt. Das Ehepaar Bennet hat fünf Töchter, aber keinen Sohn, was zu der damals durchaus üblichen, für die Familie aber unangenehmen Lage führt, dass der Land- und Geldbesitz der Familie bis auf 5.000 £ nach dem Tod des Vaters einem Sohn seines Bruders – Mr. Collins – zufällt. Die 5.000 £ müssen zur Versorgung von Mutter und Töchtern und für die Aussteuer der fünf Mädchen genügen. Die Töchter der Familie Bennet sind also keine gute Partien, und können nur darauf hoffen, dass sich jemand in sie verliebt, der auf eine hohe Mitgift keinen Wert legt oder legen muss.

Austen-Pride_1stEd

Die Aufregung unter den weiblichen Angehörigen der Familie Bennet ist daher groß, als in der Nachbarschaft ein reicher Junggeselle für den Sommer einen Landsitz mietet. Mr. Bingley kommt zudem nicht allein, sondern bringt seinen noch wohlhabenderen, ebenfalls noch unverheirateten Freund Fitzwilliam Darcy mit. Außerdem begleiten ihn seine beiden Schwestern, deren jüngste auf eine Ehe mit Darcy spekuliert, und sein Schwager. Aus dieser Grundkonstellation entsteht unvermeidlich die bei Austen stets vorhandene Eheanbahnungshandlung: Bingley und Jane, die älteste Bennet-Schwester, verlieben sich ineinander, doch bevor die Affäre ernst werden kann, verschwindet Bingley wieder nach London. Jane reist, von Onkel und Tante eingeladen, ihm dorthin nach, wird aber von Bingleys Schwester geschnitten und trifft Bingley vorerst nicht wieder.

Elizabeth Bennet, die zweitälteste Schwester und eigentliches Zentrum des Romans, entwickelt derweil eine starke Abneigung gegen Mr. Darcy und eine Vorliebe für den Miliz-Offizier Mr. Wickham, dem von Darcy angeblich vor einigen Jahren übel mitgespielt wurde. Im Wesentlichen dient der Roman dazu, diese beiden Verwerfungen zu überwinden und am Ende dem lesenden Publikum zwei glückliche Ehepaare zu liefern. Den ironischen Gegensatz zu dem an sich schon nicht ganz lupenreinen Happy End des Romans liefert bereits sein erstes Kapitel, in dem uns das glückliche Ehepaar Bennet vorgeführt wird: ein stoischer Philosoph, der nur an einer Stelle des Romans überhaupt in wirkliche Aufregung gerät, als er sich seinem Schwager gegenüber in Schulden wähnt, und seine stets überschwängliche, grunddumme Gattin, deren einziges und wenig subtil betriebenes Geschäft es ist, ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und sie sind nicht das einzige Beispiel glücklicher Ehepaare im Roman.

Es ist die die Romane bestimmende souverän-ironische Grundhaltung der Erzählerin, die ihren anhaltenden Erfolg begründet: Einerseits hat Austen nicht mehr zu erzählen als die empfindsamen Romane ihrer Zeit, andererseits verfügt sie über einen weit realistischeren und zugleich humorvolleren Blick auf die Gesellschaft ihrer Lebenssphäre, die englische Gentry. Wo man heute Richardson nur noch aus historischer oder sentimentaler Perspektive heraus goutieren kann, leben Austens Figuren immer noch mit den Lesern mit.

Wenn man sonst nichts von Austen kennt, sollte man wenigstens diesen einen Roman lesen! Er ist eines der wichtigen Vorbilder für die großen Romane des 19. Jahrhunderts.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20408. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 478 Seiten. 7,95 €.

Jane Austen: Verstand und Gefühl

austen-verstand-gefuehlDer erste veröffentlichte Roman Jane Austens, nachdem sie viele Jahre nur für die Schublade geschrieben hatte. Es handelt sich um eine scharfe und intelligente Parodie des zeitgenössischen empfindsamen Romans, nicht ohne Schwächen im moralischen Abschluss, die aber durch das gnadenlos ökonomische Bild der englischen Gesellschaft und einen beißenden Spot der Erzählerin mehr als aufgewogen werden.

Die Handlung sollte auch in Deutschland aufgrund der Verfilmungen im Großen und Ganzen bekannt sein: Die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood werden zusammen mit ihrer Mutter und einer noch jüngeren Schwester durch den unglücklich frühen Tod des Vaters mit einer nur gerade so ausreichenden Versorgung zurückgelassen. Ihr Halbbruder John, der der Haupterbe des väterlichen Vermögens ist, wird von seiner Frau von dem väterlichen letzten Wunsch, er möge sich um seine Schwestern kümmern, abgebracht. So sind die jungen Frauen zwar in bescheidenem Umfang finanziell abgesichert, auf eine Ehe haben sie bei ihrem geringen persönlichen Vermögen aber nur Aussichten, falls sich zufällig ein vermögender Herr in sie verlieben würde. Bald stellen sich zwei potenzielle Bewerber ein, die sich aber beide als anderweitig engagiert erweisen. Der sich für Elinor interessierende Edward, ein Bruder von Johns Frau, ist bereits verlobt, und Willoughby, der Marianne intensiv den Hof macht, verschwindet eines Tages nach London, wo er sich später als der Verlobte eines reichen, adeligen Fräuleins erweisen wird.

Warum und auf welche Weise es dennoch gut ausgeht, braucht hier nicht erzählt zu werden und ist für die Qualität des Romans auch eher unerheblich. Wesentlich ist dagegen der charakterliche Gegensatz der beiden Schwestern, den schon der Titel in zwei Schlagwörtern zusammenfasst: Elinor hat ihre Gefühle weitgehend unter Kontrolle, versucht den Forderungen der guten Gesellschaft nachzukommen, sieht ihre Zukunftsaussichten stets realistisch, wagt wenig zu hoffen etc. Marianne dagegen ist das Muster der empfindsamen Protagonistin: sich ganz ihren Gefühlen überlassend, verächtlich gegenüber der gesellschaftlichen Höflichkeit, ideologisch beschränkt bis zur Dumpfheit (man kann nur einmal lieben, wahre Liebe ist absolute Seelenharmonie und ähnlich hochtrabender Pubertätsunfug), unfähig zu einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Umwelt etc. Beide Schwestern werden durch den Verlauf des Romans in gewisser Weise reformiert, wenn auch die Besserung Mariannes deutlicher ausfällt als die ihrer Schwester.

Diese Wandlungen finden vor dem Hintergrund einer harschen und ironischen Beschreibung der englischen besseren Gesellschaft statt: Hier regiert ausschließlich das Geld, und am erfolgreichsten sind jene Dummköpfe, die genau dieses Teil des menschlichen Miteinanders begreifen und sonst nicht viel mehr. Kaum jemand genügt den Bildungsansprüchen, die insbesondere von Elinor verkörpert werden; hat man nicht Kinder oder Klatsch als Thema, muss man sich ins Kartenspiel flüchten, wenn man einander nicht anöden möchte. Und die meisten Figuren sind von einer zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit, dass man schreien möchte. Natürlich sind dies alles Karikaturen, doch die Variationsbreite und die nonchalante Boshaftigkeit der Erzählerin machen diese Charaktere zu einem reinen Vergnügen. Wie sooft im Roman des 19. Jahrhunderts spielt sich das Wesentliche im Hintergrund ab.

Allen, die Jane Austen noch nicht gelesen haben, sei die präzis und mit viel trockenem Humor übersetzte Ausgabe bei Reclam empfohlen.

Jane Austen: Verstand und Gefühl. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20409. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 466 Seiten. 7,95 €.