William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung

Heiraten oder Hängen bleibt sich gleich.

Shakespeare-Guenther-13Auch eines der Stücke Shakespeares, mit denen sich die moderne Kritik schwer tut, endet es doch ausnahmsweise mit einer so unübersehbaren, platten und chauvinistischen Moral, dass es für den kritischen Menschen von heute das ganze Stück ruiniert. Da ist es doch einmal besser, kein Intellektueller zu sein und es so zu machen, wie das Publikum, das sich an der gut gemachten Komödie erfreut und Kätchens das Stück beschließende Predigt schlicht achselzuckend auf sich beruhen lässt. Denn gut gemacht ist das Stück:

Shakespeare exzelliert hier in der Parallelführung zweier Handlungsstränge. Zum einen geht es um das Liebeswerben Lucentios um Bianca, zum anderen um die Erziehung ihrer eigensinnigen Schwester Katharina durch den ihr frisch angetrauten Petruchio. Lucentio ist ein junger Mann aus Pisa, der nach Padua zum Studium kommt. Gleich und auf Anhieb verliebt er sich aber in Bianca, die Tochter Baptistas, und um sie umschmeicheln zu können, lügt er sich als Lehrer verkleidet in Baptistas Haus. Baptista allerdings hat ein dringenderes Problem, als die liebliche Bianca an den Mann zu bringen: Biancas ältere Schwester Katharina ist als unverträgliche Zanknudel verschrieen. Um sie aus dem Haus zu bekommen, verhängt Baptista das Gebot, dass Bianca erst nach der Vermählung Katharinas an die Reihe komme.

Da trifft es sich gut, dass bei einem der Bewerber um Biancas Hand ein alter Freund eintrifft: Petruchio, gerade Erbe des väterlichen Reichtums geworden, sucht eine Frau zur Ergänzung seines Vermögens und Haushalts. Ihm ist nicht bange vor Katharina und ihren Launen und der Überzeugung, schon Schlimmeres durchgestanden zu haben als ein bisschen Zank. So wirbt er um Katharina bei ihrem Vater, teilt dann seiner Braut in spe in einem kurzen Wortgefecht seine Absichten mit und verabschiedet sich in Geschäften nach Venedig. Am nächsten Sonntag taucht er erst kurz vor der Trauung in einem unmöglichen Aufzug auf, lässt sich unter unmöglichem Benehmen trauen und verschwindet mit seiner Frau umgehend aus Padua.

Während nun in Padua für die Bewerber Biancas der Weg frei ist, wird uns im Hause Petruchios Katharinas Erziehung vorgeführt: Der Ehemann benimmt sich ärger als seine Frau es je könnte und traktiert sie gleichzeitig durch Essens- und Schlafentzug. Dies Spielchen treibt er solange, bis Katharina sich in die Machtverhältnisse fügt, zu allem Ja und Amen sagt und als die Klügere ihrem Ehemann, dem sie nun einmal ausgeliefert wurde, endlich nachgibt. Die letzte Probe liefert dann ein Fest, das zugleich drei Hochzeiten feiert: Die Katharinas und Petruchios, die Biancas und Lucentios und eine weitere, die der Symmetrie wegen benötigt wird. Hier führt Petruchio seinen Sieg über Katharina öffentlich vor, indem er – im Gegensatz zu den anderen Ehemännern – in der Lage ist, seiner Ehefrau geradewegs Befehle zu erteilen, ohne irgendeinen Widerstand bei ihr zu erregen. Das ganze gipfelt in eben jener schon erwähnten Moralpredigt Katahrinas über die Rolle der Ehefrau als gehorsame Untertanin und Dienerin ihres Ehemannes.

Man kann nun versuchen, mit diesem Schluss auf ganz verschiedene Weise fertig zu werden: Man kann ihn ironisieren – was nicht das Schlimmste ist, was die Tradition mit Shakespeares Stücken so getrieben hat –, man kann ihn kritisieren – was etwa auch der Übersetzer Frank Günther tut –, man kann ihn als dramaturgische Notwendigkeit begreifen – schließlich ist es die Aufgabe des Dramas, die Harmonie der Bühnengesellschaft wiederherzustellen – oder man kann ihn schlicht auf sich beruhen lassen – was klugerweise die meisten Zuschauer tun. Und doch ist es bemerkenswert, dass Shakespeare, dessen Stücke in den meisten Fällen von platten moralischen Belehrungen so angenehm frei sind, gerade dort, wo er einmal auf gut einer Seite die offizielle Moral seiner Zeit unverstellt zu Wort kommen lässt, uns gleich ganz und gar unmodern erscheint. Ob er überhaupt berühmt wäre, wenn er geschrieben hätte, was er wirklich dachte?

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 13. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 304 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt

Ich bin Verstandesmensch so gut wie er, aber ich schau dankbar auf zum Himmel und trag’s nicht vor mir her.

Shakespeare Guenther 12Eine weitere leichte Komödie Shakespeares. Den dramatischen Anlass bildet ein doppelter Bruderzwist: Orlando wird ungerecht behandelt von seinem Bruder Oliver, der ihn als billige Arbeitskraft auf dem ererbten Hof verschleißt anstatt ihm eine höhere Ausbildung angedeihen zu lassen, wie der Vater es gewollt hatte, und der ältere Herzog ist von seinem Bruder Frederick aus Amt und Würden vertrieben worden und lebt nun fröhlich „wie Robin Hood“ mit einem Teil seines Hofstaats im Wald von Arden. Zu ihm gesellen sich nun auch Orlando und – in etwas größerer Distanz  – Rosalinde und Celia, die Töchter des alten und des neuen Herzogs, wobei sich Rosalinde als Mann verkleidet hat, um die Sicherheit der beiden Damen zu erhöhen. Bevor man in den Wald verschwindet, wird kurz noch Gelegenheit gemacht, dass Rosalinde und Orlando sich ineinander verlieben können: Orlando gewinnt einen Catch-Wettbewerb am Hofe Fredericks und kann so seine Männlichkeit strahlen lassen.

Im Wald leben alle fröhlich und harmonisch, nur die Liebe bringt Verwicklungen mit sich, die weidlich ausgekostet werden: Rosalinde, jetzt als Ganymed in Hosen, überredet Orlando an ihr/ihm sein Liebeswerben um Rosalinde zu üben (eine Posse, die in Shakespeares Theater noch dadurch zugespitzt wurde, dass alle Frauenrollen ohnehin von Männern gespielt wurden), eine Schäferin namens Phoebe verliebt sich in Ganymed/Rosalinde und wird wiederum vom Schäfer Silvius begehrt. Probstein, der Narr des alten Herzogs, verliebt sich sterblich in Käte, eine hässliche Ziegenhirtin, die ihm auch gern zu Willen ist, und schließlich werden sich auch Celia und der seinen Bruder suchende Oliver in rasender Geschwindigkeit einig. Am Ende hagelt es Hochzeiten, der junge Herzog bekehrt sich urplötzlich zum Besseren und wird Eremit, und alle laufen fort zum Fest und lassen das Publikum nach Hause gehen.

Höhepunkte des Stücks sind einerseits Lord Jaques selbst aus dem Hofstaat des alten Herzogs, ein melancholischer Philosoph –

Gut, gut, wenn ich jemals jemand danke schön sage, sag ich’s Ihnen; aber was Höflichkeiten tauschen heißt, kommt mir vor, als wenn sich zwei Nasenaffen am Hintern riechen.

– und andererseits seine vielzitierte “All the world’s a stage”-Metapher, die beide dem Stück gelegentlich ein wenig Tiefgang verpassen, ohne dass der ansonsten getriebene allgemeine Unfug groß gestört wird – der blankste Realismus, wie man sieht!

Dies ist eines jener Stücke, an denen man gut erkennen kann, dass Shakespeare Teil eines kommerziellen Unterhaltungsbetriebs war, in dem es darum ging, einem möglichst bunten und breiten Teil des vorhandenen Publikums Vergnügen zu bereiten und ihm damit das Geld aus der Tasche zu ziehen. Man wird diese Art des gehobenen Klamauks dann viel später etwa bei Nestroy wiederfinden, der in einer ganz ähnlichen Lage schrieb wie der Stratforder Meister.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 12. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 282 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: König Richard III.

Ich fürcht, ich fürcht, ’s wird rundgehn mit der Welt.

Shakespeare Guenther 11König Richard III. ist bekanntlich jener dialektische Tyrann, den es brauchte, um den englischen Sturz aus der politischen Unschuld in den Rosenkrieg so auf die Spitze zu treiben, dass er überwunden werden konnte. Nach ihm erschien jede Herrschaft annehmbarer und sei es die eines Heinrich VII. Und so sind Richards Tyrannei, seine moralische wie körperliche Verwachsenheit zentrale Elemente jenes Tudor-Mythos, der zur Rechtfertigung und Sicherung der Herrschaft seiner Nachfolger diente. Und Shakespeares Stück ist nur eine theatralische Verlängerung und dramaturgische Verwertung jenes Mythos.

Selbstverständlich ist eine durch und durch böse Figur von besonderem Reiz, zeigt sie doch die Vorzüge der Macht einmal unverstellt und beflügelt so die Phantasie derer, die selbst heimlich oder unheimlich von ihr träumen. Und so gerät Richard denn auch: Beredt, charmant, beliebt bei Kindern, erfolgreich selbst bei Frauen, deren Ehemänner er kurz zuvor noch ermordet hat, öffentlich fromm, privat gottlos, Solidaritäten einfordernd, selbst aber verweigernd – und alle, die ihm widersprechen, werden einfach hingerichtet. Was für ein angenehmes Leben!

Natürlich kann man solche unverstellte Selbstherrlichkeit nicht auf sich beruhen lassen, und das Schicksal schreitet rasch: Einige entkommen dem Zugriff des Tyrannen und wollen selbst Kalif sein anstelle des Kalifen. Was macht man unter Männern, wenn man sich über den Zugang zur Macht nicht einig wird? Man führt Krieg. Und in dem hat Richard das Pech, erschlagen zu werden und so sein historisches Porträt von den Siegern geschrieben zu bekommen. Wahrscheinlich war er in Wirklichkeit nicht bucklig, nur halb so bös und kaum viertels so beredt.

Shakespeare hat in „König Richard III.“ hauptsächlich mit einem Mangel an echter Handlung und Entwicklung zu kämpfen. Die Handlung setzt kurz vor dem Tod Edward IV. ein: Richard beseitigt seinen Bruder George, der ein möglicher Konkurrent bei der Thronfolge wäre, aber leider gelingt dies ohne viel Aufwand. Edward stirbt kurz darauf von selbst und anschließend muss nur der Thronerbe in den Tower gesperrt werden, damit die eigene Thronfolge mit geringem Aufwand inszeniert werden kann. Richards Streben nach der Macht wird zwar oft und wortreich beklagt, aber niemand leistet effektiven Widerstand. Der letzte Akt liefert dann endlich eine Schlacht, aber bis dahin ist nur wenig zu tun.

Auch kann von keiner Entwicklung des Protagonisten gesprochen werden: Seine Intentionen sind von der ersten Szene an so eindeutig und langweilig offenbar, dass von daher kaum irgendeine dramaturgische Bewegung erhofft werden kann. Shakespeare hilft sich heraus, indem er zahlreiche Szenen einbaut, in denen andere über Richard und die fatalen Folgen seines Strebens zur Macht klagen. Es ist ihm dabei zugute zu halten, dass es unter all denen, die Richard beschuldigen, keinen gibt, die oder der selbst frei von Schuld wäre; hier sitzt ein jeder, der Steine wirft, im eigenen Glashaus. So geht’s halt zu bei Königs daheim.

Ein Stück, das nahezu ausschließlich von der Faszination am unverstellten Bösen und dem Charakter des Protagonisten lebt. Wer Tyrannen, ihr Wirken, Meinen und Leiden eher nebensächlich oder weniger interessant findet, mag sich langweilen. Für alle, die glauben, die Macht könne sie oder gar uns erretten, eine Art Lehrstück. Am wirkungsvollsten in Diktaturen aufzuführen.

William Shakespeare: König Richard III. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 11. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 376 Seiten. 33,– €.

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Gebt mir Freiheit, sprach Patrick Henry und setze am 1. Mai seinen Strohhut auf, oder gebt mir den Tod. Den hat er dann ja gekriegt.

dos-passos-manhattanBei „Manhattan Transfer“ (1925) handelt es sich um einen der frühen, großen Romane, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Joyceschen „Ulysses“ (1922) entstanden sind. Daraus ergibt sich sein Status als einer der Gründungstexte der US-amerikanischen Moderne. „Manhattan Transfer“ hat sich für einen anspruchsvollen Avantgarde-Roman außergewöhnlich gut verkauft, was auch erklärt, dass er bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch vorlag – auch Georg Goyerts Übersetzung des „Ulysses“ erschien übrigens im Jahr 1927.

Nun haben solche raschen Übersetzungen einerseits den Vorteil, dass sie die deutsche Leserschaft darüber auf dem Laufenden halten, was jenseits der Grenzzäune so getrieben wird, andererseits stellen sie an den Übersetzer hohe Ansprüche, denn nicht nur muss er gerade erst im Entstehen begriffene formale Entwicklungen in seiner Sprache nachbilden, sondern er sieht sich auch oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er sprachliche Slang-, Alltags- oder Mode-Wendungen nirgends nachschlagen kann und sich aufs Raten oder – wie Baudisch – aufs Weglassen verlegen muss. Andere Produktionshemmnisse mögen hinzugetreten sein.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, es kann nur festgestellt werden, dass die Übersetzung von Paul Baudisch, die bislang „Manhattan Transfer“ im Deutschen vertreten musste, ihren Lesern nur ansatzweise einen Eindruck von der Qualität des Originals vermitteln konnte – und das ist noch freundlich formuliert. Schon Kurt Tucholsky fasste 1931 seinen Eindruck von Paul Baudischs Übersetzungen in dem Satz zusammen: „Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!“

Es ist daher nicht nur sehr löblich, sondern es war auch dringend nötig, dass Rowohlt diesen Text hat neu übersetzen lassen. Von Dirk van Gunsteren, der seine Kunst als Übersetzer auch schon an Thomas Pynchon, Philip Roth und T. C. Boyle unter Beweis gestellt hat, liegt nun eine sehr gut lesbare Neuübersetzung  vor, von der ich insgesamt den Eindruck habe, dass sie sich auf der Höhe des Originals bewegt. Auch van Gunsteren trifft einige befremdliche Entscheidungen  – so lässt er zum Beispiel in den meisten Fällen eine dialektale, soziale oder umgangssprachliche Einfärbung der Dialoge einfach weg und verflacht auf diese Weise den Text –, aber der Gesamteindruck seiner Übersetzung ist der Baudischs so weit überlegen, dass sich ein ernsthafter Vergleich verbietet.

Erzählt wird die Geschichte von ungefähr drei oder vier Hauptfiguren, die in der Hauptsache von 1904 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt werden: Ellen, später Elaine und noch später Helena Thatcher, Tochter eines Buchhalters, die früh ihre Mutter verloren hat, wird Schauspielerin, heiratet einen ungeliebten Kollegen, verliebt sich in einen jugendlichen Säufer, dann in einen Journalisten, den sie im Ersten Weltkrieg lieben lernt, und endet als unglückliche Ehefrau eines Staatsanwalts. Jimmy Herf stammt aus besseren Verhältnissen, wird aber früh Waise und schlägt sich als Reporter durch. Er lernt Ellen durch eine ihrer Kolleginnen kennen, verliebt sich in sie, kommt ihr aber erst während des Krieges in Europa näher und kehrt 1918 mit ihr als Ehefrau und mit einem kleinen Sohn nach New York zurück. Jimmy ist der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, aus dem Dunstkreis New Yorks und damit vielleicht auch seinem Unglück zu entkommen. George Baldwin ist ein aufstrebender, junger Anwalt mit einer Schwäche fürs schöne Geschlecht. Er macht berufliche Karriere, endet als Bezirksstaatsanwalt und potenzieller Kandidat für das Amt des Bürgermeisters. Auch er verliebt sich leidenschaftlich in Ellen, verliert zwischenzeitlich sogar einmal die Kontrolle über seine Gefühle so weit, dass er versucht sie zu erschießen, und endet, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aber mit Notwendigkeit als ihr letzter, unglücklicher Ehemann. Stanwood Emery ist ein junger, reicher Taugenichts und Ellens große und wahrscheinlich einzige Liebe. Stan ist ein notorischer Säufer, heiratet im Suff versehentlich die falsche Frau und kommt bei einem von ihm selbst verursachten Brand ums Leben.

Um diese Hauptfabel herum entwickelt Dos Passos ein reiches Panorama von Figuren und Geschichten: Bud Korpenning flieht als Mörder vom Land in die Stadt, fristet dort sein Dasein als Tagelöhner und Bettler und springt von einer der Brücken New Yorks in den Tod. Joe Harland war einst der König der Wall Street, hat sich verspekuliert und versäuft sein restliches Leben. James Merivale, ein Cousin Jimmy Herfs, ist ein opportunistischer Schwachkopf, kommt als Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg und wird ein erfolgreicher Banker, der seine Schwester an einen Hochstapler verheiratet. Congo Jake ist ein französischer Matrose und Barkeeper, der als Alkoholschmuggler reich wird. John Oglethorpe (Ellens erster Ehemann), Ruth Prynne, Nevada Jones und Tony Hunter sind Schauspieler, die nie so recht den Durchbruch schaffen. Gus McNiel und seine Frau Nellie haben Glück im Unglück und machen aus einem Beinbruch eine Karriere. Joey O’Keefe ist ein Spitzel, der sich später für die Veteranen des Krieges engagiert. Dutch Robertson ist einer dieser Veteranen und macht Karriere als Räuber. Anna Cohen ist eine lebenslustige Jüdin, die gern tanzt und sich als Näherin durchschlägt; auch ihr Leben ist letztlich schicksalhaft mit dem Ellens verbandelt. Rosie und Jake Silverman sind ein Betrügerpärchen, dem kein Erfolg beschieden ist. Man könnte diese Aufzählung problemlos weiter treiben.

Alle diese Geschichten, Kleinsterzählungen und Anekdoten werden in kurzen Abschnitten – von einer halben Seite bis zu einigen Seiten Länge – vorangetrieben, die einander nach einem nur scheinbar zufälligen Muster ablösen. Dazwischen finden sich immer wieder rein impressionistische Abschnitte, aber auch kurze Blitzlichter der sozialen und politischen Verhältnisse New Yorks im frühen 20. Jahrhundert. Das korrupte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird thematisiert, das Elend der Arbeitslosen, die Not der ungewollt Schwangeren, die Abschiebung politisch Unerwünschter, all dies und vieles mehr kommt oft nur wie nebenbei, aber dennoch unübersehbar in dem Gesamtbild vor, das der Roman zeichnet.

Der Roman ist mit seinem inhaltlichen und motivischen Reichtum sowie seiner musivischen Form eines der wichtigen Vorbilder für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert. Es ist sehr erfreulich, dass dieses wichtige, historische Musterbuch für deutsche Leser endlich in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Jeder und jedem, die an der Entwicklung der literarischen Moderne interessiert sind, sei die Lektüre dieser Neuübersetzung dringend empfohlen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2016. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,95 €.

Jane Austen: Verstand und Gefühl

austen-verstand-gefuehlDer erste veröffentlichte Roman Jane Austens, nachdem sie viele Jahre nur für die Schublade geschrieben hatte. Es handelt sich um eine scharfe und intelligente Parodie des zeitgenössischen empfindsamen Romans, nicht ohne Schwächen im moralischen Abschluss, die aber durch das gnadenlos ökonomische Bild der englischen Gesellschaft und einen beißenden Spot der Erzählerin mehr als aufgewogen werden.

Die Handlung sollte auch in Deutschland aufgrund der Verfilmungen im Großen und Ganzen bekannt sein: Die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood werden zusammen mit ihrer Mutter und einer noch jüngeren Schwester durch den unglücklich frühen Tod des Vaters mit einer nur gerade so ausreichenden Versorgung zurückgelassen. Ihr Halbbruder John, der der Haupterbe des väterlichen Vermögens ist, wird von seiner Frau von dem väterlichen letzten Wunsch, er möge sich um seine Schwestern kümmern, abgebracht. So sind die jungen Frauen zwar in bescheidenem Umfang finanziell abgesichert, auf eine Ehe haben sie bei ihrem geringen persönlichen Vermögen aber nur Aussichten, falls sich zufällig ein vermögender Herr in sie verlieben würde. Bald stellen sich zwei potenzielle Bewerber ein, die sich aber beide als anderweitig engagiert erweisen. Der sich für Elinor interessierende Edward, ein Bruder von Johns Frau, ist bereits verlobt, und Willoughby, der Marianne intensiv den Hof macht, verschwindet eines Tages nach London, wo er sich später als der Verlobte eines reichen, adeligen Fräuleins erweisen wird.

Warum und auf welche Weise es dennoch gut ausgeht, braucht hier nicht erzählt zu werden und ist für die Qualität des Romans auch eher unerheblich. Wesentlich ist dagegen der charakterliche Gegensatz der beiden Schwestern, den schon der Titel in zwei Schlagwörtern zusammenfasst: Elinor hat ihre Gefühle weitgehend unter Kontrolle, versucht den Forderungen der guten Gesellschaft nachzukommen, sieht ihre Zukunftsaussichten stets realistisch, wagt wenig zu hoffen etc. Marianne dagegen ist das Muster der empfindsamen Protagonistin: sich ganz ihren Gefühlen überlassend, verächtlich gegenüber der gesellschaftlichen Höflichkeit, ideologisch beschränkt bis zur Dumpfheit (man kann nur einmal lieben, wahre Liebe ist absolute Seelenharmonie und ähnlich hochtrabender Pubertätsunfug), unfähig zu einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Umwelt etc. Beide Schwestern werden durch den Verlauf des Romans in gewisser Weise reformiert, wenn auch die Besserung Mariannes deutlicher ausfällt als die ihrer Schwester.

Diese Wandlungen finden vor dem Hintergrund einer harschen und ironischen Beschreibung der englischen besseren Gesellschaft statt: Hier regiert ausschließlich das Geld, und am erfolgreichsten sind jene Dummköpfe, die genau dieses Teil des menschlichen Miteinanders begreifen und sonst nicht viel mehr. Kaum jemand genügt den Bildungsansprüchen, die insbesondere von Elinor verkörpert werden; hat man nicht Kinder oder Klatsch als Thema, muss man sich ins Kartenspiel flüchten, wenn man einander nicht anöden möchte. Und die meisten Figuren sind von einer zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit, dass man schreien möchte. Natürlich sind dies alles Karikaturen, doch die Variationsbreite und die nonchalante Boshaftigkeit der Erzählerin machen diese Charaktere zu einem reinen Vergnügen. Wie sooft im Roman des 19. Jahrhunderts spielt sich das Wesentliche im Hintergrund ab.

Allen, die Jane Austen noch nicht gelesen haben, sei die präzis und mit viel trockenem Humor übersetzte Ausgabe bei Reclam empfohlen.

Jane Austen: Verstand und Gefühl. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20409. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 466 Seiten. 7,95 €.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona

Außerdem: 1594 […] war [Shakespeare] 30 Jahre alt; vergleichsweise war Georg Büchner da schon sechs Jahre tot.

Wolfgang Wicht

Shakespeare Guenther 09

Bei den „Zwei Herren aus Verona“ handelt es sich um eines jener Stücke Shakespeares, die den Nachlebenden erhebliche interpretatorische Bauchschmerzen bereiten. Uneins ist man sich bereits bei der Frage der zeitlichen Verortung des Stückes: Einige halten es eindeutig für ein Frühwerk, andere weisen auf die raffinierte Gearbeitetheit des Stückes hin und wollen es auf jeden Fall dem reifen Dichter zuordnen. Was die einen nur als dramaturgische Hilflosigkeit verstehen können, ist für die anderen eine provokante Parodie auf spätmittelalterlichen Chauvinismus. Was auch immer es ist, wirklich gelungen scheint es nicht zu sein.

Einmal mehr handelt es sich bei den „Zwei Herren aus Verona“ um eine italienisch situierte Liebeskomödie Shakespeares: Valentin und Proteus, zusammen in Verona aufgewachsen und dicke Freunde, werden auf kurze Zeit voneinander getrennt: Valentin geht nach Mailand an den Hof des Kaisers, Proteus bleibt zurück, um seine geliebte Julia zu hofieren. Das allerdings nützt ihm nicht viel, denn sein Vater entscheidet bald, dass auch der Stubenhocker Proteus nach Mailand soll, wogegen der sich plötzlich nicht mehr wehrt. In Mailand eingetroffen findet er Valentin verliebt in Silvia vor, die Tochter des Herzogs. Ruck, zuck vergisst Proteus seine Julia, verliebt sich ebenfalls in Silvia und will sich nun den zum Widersacher gewordenen Valentin vom Halse schaffen. Daher verrät er Valentins und Silvias Fluchtplan dem herzoglichen Vater, der Valentin daraufhin verbannt. Auf dem Weg nach Mantua wird Valentin von einer Räuberbande aufgegriffen, die ihn kurzerhand zu ihrem Hauptmann macht, anstatt ihn auszurauben. Schließlich laufen auch Silvia, Proteus, der Herzog und dessen Ehekandidat für Silvia, ein Herr Thurio, in den Wald, wo sich alle zum Happy End treffen: Valentin und Proteus versöhnen sich wieder, Proteus wendet sich der als Page verkleideten Julia wieder zu, der euphorisierte Herzog verzeiht Valentin und allen seinen Räubern alles und erlaubt die Heirat mit Silvia, und selbst Herr Thurio wird mit zur Doppelhochzeit eingeladen.

Das Stück ist nach unserem Verständnis tatsächlich dramaturgisch abenteuerlich uneinheitlich: Einerseits lässt sich auf das schön gearbeitete gegenseitige Spiegelverhältnis der Paare Proteus/Julia und Valentin/Silvia hinweisen; auch die feinen Spitzen gegen höfisches Rittertum sind nicht von der Hand zu weisen. Andererseits überzeugen weder die urplötzliche Räuberhauptmannschaft noch die gesamte Konstellation der Konfliktlösung am Ende des Stücks. Als eigentliche Crux erweist sich dabei die Versöhnung der beiden Protagonisten, zwischen denen nicht nur nach einem kurzen Reuebekenntnis des Proteus alles wieder gut ist, sondern als deren Konsequenz Valentin auch noch ganz großzügig Silvia dem Proteus als Freundschaftspreis anbietet.

Nun weisen zwar Übersetzer Frank Günther und der Verfasser des beigebundenen Essays Wolfgang Wicht darauf hin, dass man dies – ob Parodie oder Ernst – im Rahmen der zeitgenössischen Ideologie der Männerfreundschaft lesen sollte, doch auch das befriedet nur, befriedigt aber letztlich nicht. Was auch immer der Grund für die augenscheinliche Unausgewogenheit des Stückes sein mag (man könnte geneigt sein, ein zeitgenössisches Stück erfinden zu wollen, das so schlecht und zugleich so bekannt war, dass Shakespeare mit „Zwei Herren aus Verona“ eine direkte Parodie darauf verfasst hat, die aber keiner mehr erkennt, weil die Vorlage vollständig verschwunden ist; natürlich würde das in unseren Zeiten der Vernunft kein Mensch gelten lassen), wir werden damit leben müssen, hier nur ein verwachsenes Kind des Schwans vom Avon vorliegen zu haben.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 9. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 246 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: Was ihr wollt

Jetzt geht’s zu End, die ganze großspurige große Welt wird ein salbaderndes Narrenhaus!

Shakespeare Guenther 08Im Jahr eines Shakespeare-Jubiläums soll man nach Möglichkeit auch Shakespeare lesen! Fangen wir also an: Bei „Was ihr wollt“ handelt es sich – wie schon der Titel erahnen lässt – um eine von Shakespeares leichten Komödien, die versuchen, einen möglichst breiten Publikumsgeschmack zu treffen. Im Vordergrund stehen daher Spaß und Klamauk, Wortspiele und Liebes-Gedöns. Als Gegengewicht wird ein alternder, zum Narren verkommener Philosoph mit in die Handlung verwickelt, und weil man dann immer noch nicht auf die notwendige Länge kommt, stecken wir noch eine kleine Verwechslungsgeschichte mit Zwillingen dazu.

Die Handlung ist im Grunde diese: A liebt B, B liebt C, C liebt A. D liebt heimlich auch B, wird aber dafür von E, F und G – die letztern beiden Saufkumpane, von denen G, um die Verwirrung komplett zu machen, es auch noch auf B abgesehen hat – auf den Arm genommen. C ist eigentlich eine Frau, hat sich zur Sicherheit aber als Mann verkleidet, da sie als Schiffbrüchige (beinahe hätte ich geschrieben ‚Alleinerziehende‘) im fremden Land – einem vollständig erfundenen Illyrien – leben muss. Verkleidet als Mann gleicht sie zum Verwechseln ihrem Zwillingsbruder C1. C und C1 glauben einander wechselseitig ertrunken. Den Rest kann sich jeder leicht selbst ausdenken, es kommt nicht so sehr aufs Detail an. Die Hauptsache ist ein üppiges Hin und Her, das ausreichend Gelegenheit zu gewollten und ungewollten Missverständnissen, Wortwechseln, Streitereien und Verwechslungen liefert, die sich schließlich alle durch eine, in diesem Fall sogar zwei Hochzeiten auflösen lassen.

Dieser weitgehend schematisierte Klamauk ist natürlich dadurch geadelt, dass er von Shakespeare stammt. Die Qualität der Wortspiele ist hoch, hier und da fällt sogar ein echter Gedanke dabei ab. So darf der neben der eigentlichen Handlung herlaufende Narr Feste wenigstens halbwegs Anspruch auf Originalität machen. Anlass für diesen speziellen Klamauk war eine Art von englischem Karneval, der um die Weihnachtszeit gefeiert wurde und dessen Höhepunkt auf den Dreikönigstag – der Twelfth Night nach Weihnachten; daher der englische Haupttitel des Stücks – fiel.

Es sind aber gerade die Wortspiele, die es dem Übersetzer schwer machen: Frank Günther, dessen erklärtes Ziel es ist, eine spielbare Übersetzung zu liefern, die dem heutigen deutschen Publikum einen ähnlichen Eindruck vermittelt wie das Original den Zeitgenossen Shakespeares, macht aus der Not eine Tugend und erfindet Dialoge zum Teil vollständig neu, da sich die englischen nicht ins Deutsche retten lassen. In den umfangreichen Anmerkungen werden die entsprechenden Entscheidungen vom Übersetzer ausführlich dokumentiert und erläutert; da die Shakespeare-Ausgabe Günthers immer zweisprachig daherkommt, kann sich jeder Leser auch selbst ein Bild davon machen, was der Übersetzer aus dem Original hat werden lassen.

Ein Stück, das man nicht zu ernst nehmen sollte – was offenbar, wie man dem angehängten Essay von Christa Jansohn entnehmen kann, auf deutschen Bühnen gern geschieht – und das, mit dem richtigen Tempo gespielt, auch heute noch seine Wirkung entfalten dürfte.

William Shakespeare: Was ihr wollt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 8. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 296 Seiten. 33,– €.

Philip Roth: Der menschliche Makel

Und so hatte all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.

Roth-Makel„Der menschliche Makel“ (2000) ist der dritte Roman der sogenannten Amerika-Trilogie von Philip Roth, der zweiten Trilogie von Romanen, in denen der fiktive Schriftsteller Nathan Zuckerman als Erzähler auftritt. Die Jetzt-Zeit des Romans ist das Jahr 1998, und Zuckerman beginnt seine Erzählung mit einer emotionalen Suada über die bigotten Reaktionen weiter Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die Lewinsky-Affäre. Damit ist mit einem wahrscheinlich allen Lesern Roth’ bekannten Beispiel das Hauptthema des Buches bezeichnet, das Zuckerman an späterer Stelle als „Tyrannei der Schicklichkeit“ (S. 175) benennen wird.

Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des emeritierten Professors für klassische Literatur Coleman Brutus Silk. Silk hat eine erfolgreiche akademische Karriere hinter sich, wurde bereits als relativ junger Professor Dekan seiner Fakultät am Athena-College und war federführend dafür verantwortlich, diese Fakultät zu modernisieren und die Professuren mit jungen, motivierten Lehrkräften neu zu besetzen. Er entschließt sich im Jahr 1993, seine Stelle als Dekan aufzugeben und sich in seinen letzten Semestern noch einmal der Lehre zu widmen. Jedoch bereits im ersten Semester, das er wieder unterrichtet, kommt es zu einem Vorfall, der Silk in der Konsequenz dazu bringt, seine Stelle aufzugeben und einen privaten Kleinkrieg gegen seine alte Fakultät zu beginnen: Silk bezeichnet zwei seiner Studenten, die er nie gesehen hat, weil sie an keiner seiner Veranstaltungen teilgenommen haben, obwohl sie auf der Teilnehmerliste stehen, scherzhaft als „spooks“, also in etwa als „Gespenster“ (der Übersetzer Dirk van Gunsteren übersetzt „spooks“ hilfsweise mit „dunkle Gestalten“). Es erweist sich im Nachhinein, dass es sich bei den beiden Studenten um Schwarze handelt, und eine der beiden beschwert sich bei der neuen Dekanin über den von Silk verwendeten Ausdruck, den sie – historisch durchaus begründet – als rassistisch empfindet. Diese Kleinigkeit, die sich von Silk mit ein wenig Demut und einer entschuldigenden Erklärung wahrscheinlich hätte ausräumen lassen, eskaliert, da Silk darauf beharrt, er könne diesen Ausdruck nicht rassistisch verwendet haben, da er die fraglichen Studenten nie gesehen und daher auch nicht gewusst habe, dass es sich um Schwarze handelt.

Wie bereits gesagt führt die Zuspitzung dieser Konfrontation dazu, dass Silk vom College emeritiert; als zudem überraschend auch noch seine Frau stirbt – Silk versteigt sich zu der Auffassung, die ihn verleumdenden bzw. nicht unterstützt habenden Kollegen hätten den Tod seiner Frau zu verantworten–, verbeißt sich Silk in ein Buchprojekt, in dem er seine Unschuld und die ungerechte Behandlung durch sein College entlarven will. In dieser Zeit entfremdet sich Silk von seinen Kindern und lebt allein und gesellschaftlich isoliert. Einzig zu Nathan Zuckerman scheint er sporadischen, freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Nach weiteren zwei Jahren – und damit ist die Jetztzeit der Erzählung erreicht – scheint er seine Krise endlich überwunden zu haben: Er hat sein Buch abgeschlossen und anschließend als gescheitert verworfen. Er hat eine Affäre mit Faunia Farley begonnen, einer Frau, die nur halb so alt ist wie er und unter anderem an seinem alten College als Putzfrau arbeitet. So sehr sich die beiden auch bemühen, ihre sexuelle Beziehung geheim zu halten, sie werden bald entdeckt: Zum einen von Faunia Ex-Ehemann Lester, einem Vietnam-Veteranen, der seine Aggressionen und seine Wut der Welt und besonders seiner Ex-Frau gegenüber, der er die Verantwortung für den Tod zweier gemeinsamer Kinder zuschreibt, nur unvollkommen unter Kontrolle hat; zum anderen von der Dekanin Delphine Roux, die Colemans Beziehung zu der angeblich analphabetischen Putzfrau nur als einen Akt der abscheulichsten sexuellen Ausbeutung begreifen kann.

Coleman und Faunia kommen schließlich in einem ungeklärten Autounfall ums Leben – Nathan Zuckerman hegt die nicht zu beweisende Theorie, dass dieser Unfall von Lester verursacht wurde –, und Zuckerman trifft auf Colemans Beerdigung dessen Schwester, die ihm den eigentlichen Skandal von Coleman Silks Leben offenbart: Bei Silk handelt es sich nämlich nicht, wie seine Familie, alle Kollegen am College und auch Zuckerman angenommen hatten, um einen Juden, sondern tatsächlich um einen Schwarzen, der sich bei seinem Eintritt in die Marine nicht nur ein falsches Geburtsdatum, sondern auch eine falsche Rassenzugehörigkeit zulegt hatte.

Coleman Silk ist allerdings nicht die einzige Figur, die versucht ihrer Herkunft und den sich aus ihr ergebenden Folgen zu entfliehen: Auch Delphine Roux ist aus Frankreich nach Amerika gegangen, um sich dem Einfluss einer übermächtigen Mutter zu entziehen und sich neu zu erfinden, und auch für Faunia Farley gilt, dass sie zumindest ihr Analphabetentum nur vortäuscht, um in der Gesellschaft eine Nische einnehmen zu können, die sie von ihrer eigenen Vergangenheit isoliert. Diese Scheinexistenzen, die sich gegenseitig auf merkwürdige Weise spiegeln und zugleich verhindern, dass diese drei Personen wirklich verstehen, wer der jeweils andere ist, bilden das Widerlager zu der Welt des Klatsches und der Gerüchte, die das Leben der Figuren beherrscht. Selbst für Lester gilt das, den der Erzähler Zuckerman zu einem Mörder macht, ausschließlich weil er gegen ihn ein Vorurteil hegt. Selbst die auf den letzten Seiten geschilderte, einzige persönliche Begegnung zwischen Nathan und Lester führt nicht dazu, dass Zuckerman sein Vorurteil aufgibt; am Ende ist auch er in denselben Strukturen gefangen, die er mit dem Erzählen der Geschichte Coleman Silks anklagt.

„Der menschliche Makel“ ist eine hoch komplexe Erzählung, der es auf eine außergewöhnliche Art und Weise gelingt, die Beziehungen einer Handvoll von Menschen zueinander zu thematisieren. Dabei gelingt es Roth seinen Erzähler als „Mensch mit Menschen“ erscheinen zu lassen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, Nathan Zuckerman verfüge über eine erhabene Moral oder sonst einen seinen Figuren überlegenen Standpunkt. Alles, womit er ihn ausstattet, ist ein moralischer Affekt, dem man zwar nur zu gerne zustimmt, ohne dabei aber über das hinauszukommen, was das Buch kritisiert: ein unbegründetes Ressentiment, das sich überlegen glaubt.

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. rororo 23165. Reinbek: Rowohlt 252012. Broschur, 400 Seiten. 9,99 €.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel

Oft ist der Tod die Pointe im Witz des Lebens.

nabokov_werke_03Dieser eher leichte Unterhaltungsroman mit beinahe tragischem Ausgang entstand unmittelbar im Anschluss an »Die Mutprobe« in der ersten Jahreshälfte 1931. Er hat eine etwas komplexe Entstehungsgeschichte, da er 1936 als erster Roman Nabokovs ins Englische übersetzt wurde. Nabokov war mit der für den britischen Markt erstellten Übersetzung sehr unzufrieden, so dass er sich, als er 1937 eine Anfrage eines US-amerikanischen Verlegers bekam, entschloss, den Text für die nordamerikanische Ausgabe selbst neu zu übersetzen. Er hatte kurz zuvor seinen Roman »Verzweiflung«, der nach »Gelächter im Dunkel« entstanden war, ins Englische übersetzt, wusste also, worauf er sich einließ. Die neue Übersetzung geriet aber – wie das später auch bei der Übersetzung anderer seiner frühen Romane der Fall sein würde – zugleich zu einer gründlichen Überarbeitung. In diesem Fall war die Neugestaltung so weitgehend, dass sich der Herausgeber der deutschen Nabokov-Ausgabe dafür entschieden hat, die deutsche Übersetzung der ursprünglichen Fassung des Romans – »Camera obscura« betitelt – als Variante im Anhang des Buches komplett mitzuliefern. Da ich die spätere Fassung nicht sehr überzeugend fand, habe ich auf die Lektüre der früheren vorerst verzichtet.

Erzählt wird die Geschichte des 30-jährigen Kunsthändlers Albert Albius, der aus seiner ihn  langweilenden bürgerlichen Ehe ausbricht, als er sich in das junge Mädchen Margot, eine Schönheit, die als Platzanweiserin in einem Kino arbeitet, verliebt, die in ihm die Chance zu einer Karriere wittert: Entweder Albert ermöglicht ihr, ihren Traum zu verwirklichen, Filmstar zu werden, oder aber er wird sie heiraten. Margot selbst hat eine frühe Leidenschaft für den Karikaturisten Axel Rex hinter sich, der, wie es der Zufall und der Autor wollen, zum entfernten Bekanntenkreis Alberts gehört und so später an passender Stelle aus der Kulisse heraus auftreten kann.

Albert verfällt Margot weitgehend, finanziert ihren ersten Film, der sich allerdings nur verbrennen lässt, um das Schlimmste zu verhindern, und lebt dann eine ganze Weile neben dem Liebespärchen Margot & Axel her, ohne etwas von ihrer intime Verbindung zu bemerken. Diese emotionale und soziale Blindheit genügt dem Autor aber noch nicht: Als Albert dem Paar endlich auf die Schliche gekommen zu sein scheint, verwickelt ihn Nabokov in einen Autounfall, der ihn auch noch leiblich erblinden lässt, was für einen Kunsthändler und gehörnten Liebhaber vergleichbar ungünstig ist. Margot & Axel treiben ihr Spiel noch eine Weile mit dem Blinden, den sie systematisch finanziell ausnehmen, bis ein weiterer Zufall auch dies auffliegen lässt. Als Abschluss konstruiert Nabokov noch ein tragikomisches Ende, in dem Albert versucht, Margot aus Rache zu erschießen, aber natürlich selbst Opfer der gewissenlosen Megäre wird.

Der Roman ist motivisch nett gestrickt, aber alle Figuren sind denkbar flach und schematisch und selbst dort, wo es Gelegenheit gäbe, ihnen ein wenig Tiefe und Spannung zu verleihen – etwa als Alberts Tochter stirbt –, geht sie vorüber, ohne dass sich etwas Wesentliches ereignet. Die Handlung ist sehr vorhersehbar; alles ist darauf angelegt, die Vorlage für ein Drehbuch zu liefern, in das das Buch viel später denn auch umgegossen worden ist. Bis auf wenige Motive – Menschen ohne Empathie, die zerstörerische Macht der Sexualität, Blindheit für das Offensichtliche – ein weitgehend harm- und folgenloser Roman.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel. Aus dem Englischen von Renate Gerhart und Hans-Heinrich Wellmann; bearb. von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 271 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Amélie Nothomb: Der japanische Verlobte

Es ist nicht selbstverständlich, dass ich eine Geschichte schreibe, wo keiner Lust hat, einen anderen zu massakrieren.

Nothomb_VerlobteDiese Erzählung schließt im Wesentlichen die autobiographische Lücke zwischen »Biographie des Hungers« und »Mit Staunen und Zittern«. Erzählt wird der erneute, etwa zwei Jahre dauernde Aufenthalt Amélies in Japan und ihre Beziehung mit dem Japaner Rinri, die beendet wird, als sie aus Versehen einen seiner zahlreichen Heiratsanträge annimmt und sich den Folgen nur noch durch eine Flucht nach Europa zu entziehen weiß. Einerseits ist es eine leichte, in ihrer Mischung aus Distanz und Nähe ungewöhnliche Liebesgeschichte, andererseits hat es ein so desaströses und wahrscheinlich auch aufrichtiges Ende, dass es schmerzt.

Zugleich ist das Buch auch eine Liebeserklärung an Japan und die Japaner, ohne dass Land und Leute romantisiert werden. Höhepunkte sind sicherlich die Beschreibung einer Besteigung des Fuji und der Besuch der Insel Sado. Zahlreiche kulturelle Verwerfungen werden ohne jede Belehrung des Lesers vorgeführt, und man beneidet Amélie und Rinri rasch um ihre Fähigkeit, Differenzen einfach stehen lassen zu können, ohne den Impuls zu haben, sie auflösen zu wollen. Ganz wundervoll etwa der Einfall, Rinri in Hiroshima Duras’ »Hiroshima mon amour« vorlesen zu lassen, in der Hoffnung, er könne den Text dort besser verstehen als anderswo.

Erzählerisch nicht ganz so dicht wie die anderen autobiographischen Texte, dennoch zu empfehlen.

Amélie Nothomb: Der japanische Verlobte. Aus dem Französischen von Brigitte Große. detebe 24151. Zürich: Diogenes, 2012. Broschur, 163 Seiten. 8,90 €.