Amélie Nothomb: Biographie des Hungers

Wirklich, die Welt war ziemlich komisch. Und es gab Sprachen ohne Ende. Es würde nicht einfach sein, sich auf diesem Planeten zurechtzufinden.

Amélie Nothomb schreibt ganz wundervolle, autobiographisch unterfütterte Erzählungen. Ich habe sie vor vielen Jahren mit »Liebessabotage« entdeckt, das sich inhaltlich zu »Biographie des Hungers« wie ein kleiner, nicht konzentrischer Inkreis verhält. »Biographie des Hungers« erzählt etwa fünfzehn Jahre aus dem Leben der Tochter eines belgischen Diplomaten, die es aufgrund der regelmäßig alle drei Jahre erfolgenden väterlichen Versetzungen von Japan über China, den USA und Bangladesch nach Burma und schließlich Laos verschlägt; »Liebessabotage« war die Geschichte der ersten Liebe des jungen Mädchens im Pekinger Diplomatenviertel. Auch Nothombs Bücher »Mit Staunen und Zittern« und »Der japanische Verlobte« (von dem ich das allerdings nur vermute, da ich es bislang nicht gelesen habe) gehören zu diesen autobiographischen Zirkel. Ansonsten schreibt Nothomb auch noch Krimis, von denen zumindest einer ein ziemlich grobes Plagiat eines Hörspiels von Friedrich Dürrenmatt (lustigerweise im selben Verlag!) darstellt. Belesen ist die junge Frau also auch noch!

Wie der Titel schon besagt, fokussiert Nothomb diese Erzählung auf das Phänomen des Hungers, das sich zuerst als Gier des kleinen Mädchens nach Süßigkeiten und – man staunt – Wasser darstellt, sich dann in Bangladesch ganz in den unerträglichen Hunger der einheimischen Bevölkerung veräußerlicht, um sich schließlich als Anorexie der Ich-Erzählerin zu manifestieren, die sie fast zu Tode bringt. Alles rundet sich mit einer Rückkehr der 21-Jähringen an den Ort ihrer kindlichen Selbstvergottung in Japan und der Begegnung mit ihrem ersten Kindermädchen.

Nothombs Erzählen zeichnet sich in der Hauptsache durch drei Eigenschaften aus: Einen knappen, lakonischen Stil, präzise, von allem Überflüssigen befreite Beobachtungen und einen distanzierten, oft ironischen Humor. Man darf wahrscheinlich nicht zuviel auf einmal von ihr lesen, aber wenn man von Zeit zu Zeit bei ihr vorbeischaut, ist sie immer wieder ein Genuss.

Amélie Nothomb: Biographie des Hungers. Aus dem Französischen von Brigitte Große. detebe 24042. Zürich: Diogenes, 2010. Broschur, 207 Seiten. 9,90 €.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter

Ich denke, dass der Wandel der Einstellung gegenüber dem Kaufmann der wichtigste Ausgangspunkt für diese psychische wie kulturelle Wende war.

978-3-608-94693-2Es ist immer angenehm, wenn Historiker unumwunden zugeben, dass für eine ausreichende Darstellung der verhandelten Sache keine ausreichende Quellenlage vorhanden ist, so auch für einen bedeutenden Teil des von Jacques Le Goff in diesem Buch abgedeckten Zeitraums. Zumindest während des Früh- und weiten Teilen des Hochmittelalters hat Geld – sowohl Münzgeld als auch Buchgeld – keine bedeutende Rolle gespielt, ja der exzessive Umgang mit Geld wurde mit Misstrauen, wenn nicht gar mit Abscheu betrachtet. Zinsnahme galt als unchristlich und moralisch verwerflich, wobei wirtschaftlicher Gewinn im neuzeitlichen Sinne überhaupt unter dem Generalverdacht stand, nur eine Form von Wucher zu sein.

Worauf Le Goffs kurze, bis zum 14. Jahrhundert aber wohl dennoch erschöpfende Darstellung der Geschichte des Geldes im Mittelalter wesentlich abzielt, ist der Nachweis, dass sich von einem mittelalterlichen Kapitalismus nicht sprechen lässt. Dazu stellt er im letzten Teil des Buchs ausführliche den Gedanken der Caritas dar, der im Zentrum mittelalterlich-wirtschaftlichen Denkens gestanden hat. Was Le Goffs Buch sehr deutlich werden lässt, ist, dass neuzeitliche Konzeptionen von Ökonomie im Mittelalter höchstens rudimentär vorhanden waren und im gesellschaftlichen Selbstverständnis eine diametral andere Wertung erfahren haben. Vielleicht ist deshalb gerade das Paradigma des Geldes gut geeignet, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie gänzlich anders mittelalterliche Menschen sich und die Welt begriffen haben.

Ein knappes, informatives und zuverlässiges Buch, das allerdings gerade in den frühen darstellenden Passagen aufgrund der dünnen Quellenlage etwas sprunghaft wirkt. Man sollte daher etwas Geduld mit ihm haben.

Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011. Pappband, 279 Seiten. 22,95 €.

Colin Crouch: Postdemokratie

Die Demokratie hat einfach nicht mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus Schritt halten können.

978-3-518-12540-3Crouchs Schlagwort von der Postdemokratie wird gerade verstärkt genutzt, was Anlass war, mir den zugehörigen theoretischen Ansatz anzuschauen. Crouch geht von einem Lebenszyklus einer Demokratie aus, der einer nach unten offenen Parabel gleicht. Die westlichen demokratischen Gesellschaften hätten den Höhepunkt dieser Parabel bereits seit langem überschritten und näherten sich daher wieder un- bzw. vordemokratischen Verhältnissen, ohne zu diesen tatsächlich vollständig zurückzukehren. Der Durchgang durch die wahrhaft demokratische Phase hinterlasse untilgbare Spuren, die in der Phase des Verfalls scheindemokratische Strukturen erzeugen, die den Mangel an wirklicher Demokratie überdecken.

Nach Crouchs Auffassung sind die postdemokratischen Verhältnisse dadurch geprägt, dass globale Wirtschaftsunternehmen einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen, nicht nur in dem Sinne, dass sie durch Lobbyarbeit der Politik ihre Ziele vorgeben können, sondern auch in dem, dass Politik sich Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des industriellen Bereichs aneignet und ursprünglich originär politische oder administrative Aufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich auslagert. Dies gehe einher mit einem wachsenden Desinteresse eines Großteils der Bürger an Politik, was sich in schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien niederschlage. Außerdem sei eine fortschreitende Entmachtung der Gewerkschaften festzustellen, so dass der reale Einfluss der breiten Masse der Bevölkerung auf die Politik immer weiter zurückgehe. Die Parteien wiederum unterschieden sich programmatisch immer weniger und setzten in ihren Wahlkämpfen auf eine stärkere Personalisierung. Das Beispiel der Forza Italia, die in ihren Anfängen über die Person ihres Parteiführers Berlusconi hinaus kein weiteres konkretes politisches Programm aufgewiesen und zudem eine erfolgreiche Verbindung von Medienmacht und Parteiarbeit demonstriert habe, stellt für Crouch eine typische Erscheinung postdemokratischer Verhältnisse dar. Crouch setzt an mehreren Stellen als den Umschlagspunkt zwischen demokratischen und postdemokratischen Verhältnissen die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts an.

Ganz unabhängig davon, für wie einleuchtend oder zutreffend man Crouchs Analysen hält, ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dass es sehr prägnant die politische Position eines Sozialisten in postkommunistischer Zeit darstellt. Da Crouch ein vertretbares gesellschaftliches Ideal abhanden gekommen ist, setzt er auf einen relativ vagen Begriff wie Demokratie und identifiziert ihn mit all dem, was er gesellschaftspolitisch für erstrebenswert hält: starke Macht der Gewerkschaften, eine von der globalen Wirtschaft unabhängige politische Ebene, den aufgeklärten, mündigen Bürger, der sich in Parteien und gesellschaftlich engagiert. Ohne nachzuweisen, dass solche Verhältnisse jemals tatsächlich irgendwo existiert haben, wird aus ihrem Nichtvorhandensein eine gesellschaftliche und politische Entwicklung konstruiert, aus der sich ein dringender Handlungsbedarf ableiten lässt. Denn natürlich hat Crouch wenn schon keine Lösung, doch zumindest einen Ausweg aus dem Desaster der Gegenwart (was allerdings sein Modell vom parabelförmigen Lebenszyklus der Demokratie etwas konterkariert): Aktive Bürgerbeteiligung auf zahlreichen politischen Ebenen (so etwa der – Entschuldigung! – schwachsinnige Vorschlag, eine Kommission zufällig ausgewählter Bürger solle einen Monat lang Gesetzentwürfe diskutieren und anschließend rechtskräftig verabschieden) und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den jetzigen demokratischen Parteien und Institutionen und den rezenten Protestbewegungen. Natürlich verrät uns Crouch nicht, wie dies angesichts des von ihm diagnostizierten postdemokratischen Desinteresses der Bürger an der Politik und der grundlegenden Verflechtung von Wirtschaft und Politik realisiert werden soll.

Als Analyse der derzeitigen politischen Verhältnisse etwas grobschlächtig, aber durchaus anregend. In seinem kritischen Potenzial letztlich naiv und nicht ernst zu nehmen.

Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. edition suhrkamp 2540. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschiert, 160 Seiten. 10,– €.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen

978-3-89667-397-8Ungewöhnlich erfolgreiches Roman-Debut eines jungen italienischen Autors. Erzählt wird die Geschichte zweier Beschädigter: Alice, die sich als junges Mädchen beim verhassten Skitraining ein Bein bricht und deshalb hinkt und die sich außerdem eine Magersucht zuzieht. Mattia, der als hochbegabter Zwilling einer lernbehinderten Schwester geboren wird und beim ersten Mal, dass er auf einem Kindergeburtstag eingeladen wird, seine ihm peinliche Schwester auf dem Weg dorthin in einem Park zurücklässt und nicht mehr wiederfindet. Beide Lebenswege werden abwechselnd erzählt, wobei sich der Erzähler nur auf bestimmte Zeitabschnitte konzentriert. Beide lernen sich als Schüler kennen, beide entwickeln eine Freundschaft, die nicht intim wird, obwohl beide offenbar mehr füreinander empfinden. Nach seinem Mathematik-Studium bekommt Mattia die Chance, an eine bedeutende amerikanische Universität zu wechseln, und Alice, die inzwischen als Fotografin arbeitet, lernt gleichzeitig einen jungen Arzt kennen, der sich ernsthaft für sie interessiert. Mattia bleibt an seiner neuen Universität lange Zeit ein Einzelgänger; Alice durchlebt das, was man wohl eine normale Ehe nennen muss, bis ihr Mann endlich ein Kind haben will, was Alice in die missliche Lage bringt, ihre Magersucht eingestehen, vielleicht sogar aufgeben zu müssen. Stattdessen trennt sie sich lieber von ihrem Ehemann.

Es ist das Ende, das das Buch zu etwas Ungewöhnlichem macht: Giordano konstruiert ein erzählerisch gut vorbereitetes Happy End für seine behinderte Liebesgeschichte und hat dann den Mut, das angesteuerte Klischee nicht zu bedienen: Es wird eben nicht alles wieder gut! Im Gegenteil sind beide Figuren nach dieser letzten Chance für den Erzähler nicht mehr interessant. Es spricht für die Qualität des Originals, dass das Buch trotz dieser außergewöhnlichen Entscheidung seines Autors einen solchen Erfolg hatte. Leider ist die deutsche Übersetzung sprachlich etwas lax geraten.

Das Buch wurde 2010 in die Auswahlliste der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis aufgenommen, ist aber nicht das, was man sich normalerweise unter einem Jugendbuch vorstellt.

Paolo Giordano: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. München: Karl Blessing, 2009. Pappband, 365 Seiten. 19,95 €.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles?

978-3-15-010682-2 Auch dieser Band entstammt der Reihe A Very Short Introduction der Oxford University Press. Das Schöne an dieser »ganz kurzen Einführung in die Philosophie« ist, dass sie dem akademischen Betrieb gänzlich fernsteht. Sie ist geschrieben für Menschen, die von Philosophie, ihren Methoden und Fragestellungen nur eine geringe oder gar keine Vorstellung haben. Nagel entwickelt an neun klassischen Themen der Philosophie – Erkenntnis, das Bewusstsein anderer, Leib/Seele, die Bedeutung von Wörtern, Willensfreiheit, Recht und Unrecht, Gerechtigkeit, Tod und Sinn des Lebens – jeweils eine Reihe von Antworten, die er immer wieder sokratisch hinterfragt, abwandelt und von anderer Seite neu aufgreift. Wie nebenbei markiert er in wenigen Worten treffsicher bestimmte philosophische Positionen, ohne dabei in irgendwelche ideologischen Debatten abzuschweifen.

So liefert er eine schlichte und gut verständliche Einführung in Kernbestände philosophischen Denkens, ohne Anspruch darauf, auch gleich Antworten bereit zu halten. Im ganzen Buch fällt – wenn ich es richtig erinnere – nicht ein einziger Name eines Philosophen. Alles bleibt auf die Sache bezogen, nichts wird historisiert. Das könnte man unangemessen finden, da philosophische Antworten natürlich immer zugleich auch historische Antworten sind. Dem steht entgegen, dass Nagel mit dieser Vorgehensweise das Feld der Philosophie gerade jenen öffnet, die zwar an einer Auseinandersetzung mit den Fragestellungen interessiert sind, die aber nicht gleich den gesamtem Ballast der Philosophiegeschichte mit stemmen wollen.

Ein frischer, origineller und weitgehend voraussetzungsloser Zugang zur Philosophie.

Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Gebauer. Stuttgart: Reclam, 2008. Pappband, 108 Seiten. 6,90 €.

William Shakespeare: Das Wintermärchen

978-3-89716-175-7 Merkwürdiges Alterswerk, in dem Shakespeare das mythische Gerüst der Komödie nahezu unverstellt durchscheinen lässt: Auf einen sechzehn Jahre alten Winter folgt nahezu übergangslos ein Frühlingsfest mit der verliebten und heiratswilligen nächsten Generation, ja, der Frühling ist so stark, das er sogar die vorgeblich verstorbene Hermione wieder ins Leben zurückzubringen vermag. Auch sonst ist das dramaturgische Gestell kaum verhüllt: Als etwa im dritten Akt König Leontes, von wahnhafter Eifersucht umfangen, den Orakelspruch aus Delphi als Lüge verwirft, stirbt hinter der Szene augenblicklich sein geliebter Sohn, was Leontes ebenso unmittelbar bekehrt. Nahezu alle Gelenkstellen des Stückes liegen so geradezu an der Oberfläche.

Was die große Form angeht, kann das Stück als eine Umkehrung von Romeo und Julia gelesen werden, wo Shakespeare höchste Wirkung damit erzielte, eine als Komödie angelegte Handlung in der Tragödie enden zu lassen. Im Wintermärchen ist alles auf eine Tragödie eingestimmt, wenn im vierten und fünften Akt plötzlich die Komödienhandlung einsetzt. Auch hier kann eine mächtige Wirkung erzielt werden, wenn ein Zusammenspiel der beiden Teile gelingt.

Allzu bekannt ist natürlich der berüchtigte Fehler der böhmischen Meeresküste; weniger bekannt scheint zu sein, dass das Stück nicht nur über eine imaginäre Geografie verfügt, sondern auch zugleich in allen Zeiten spielt, da es nahtlos das Orakel von Delphi mit der Arbeit des Raffael-Schülers Giulio Romano verbindet. Offenbar handelt es sich beim Wintermärchen nicht um den Versuch eines Vorgriffs auf den Naturalismus.

Zur der Übersetzung Frank Günthers ist hier an anderer Stelle schon etwas gesagt worden, was nicht wiederholt zu werden braucht. Der Band ist, wie alle dieser Ausgabe, zweisprachig, mit Anmerkungen versehen und durch zwei Essays (einer des Übersetzers, der andere von Ingeborg Boltz) abgerundet.

William Shakespeare: Das Wintermärchen. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Frank Günther. Gesamtausgabe Bd. 20. Cadolzburg: ars vivendi, 2008. Geprägter und bedruckter Leinenband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 341 Seiten. 33,– €.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen

978-3-570-19532-1 Erzählt wird die Geschichte der Stadt Friendship und ihres Sheriffs, Predigers und Totengräbers Jacob Hansen, über die binnen weniger Tage gleich zwei Katastrophen hereinbrechen: Zum einen eine Diphtherie-Epidemie, zum anderen ein verheerendes Großfeuer, das sich aufgrund eines langanhaltenden trockenen Sommers unaufhaltsam ausbreitet. Weder die Zeit noch der Ort der Handlung werden präzise bezeichnet, doch offensichtlich handelt es sich um eine amerikanische Kleinstadt Ende des 19. Jahrhunderts: Der Telegraph ist schon etabliert, aber nicht das Telefon, Jacob Hansen fährt schon Fahrrad, aber es gibt noch keine Autos. Der Leser darf annehmen, dass O’Nan die Handlung absichtlich in die Zeit unmittelbar vor den ersten Erfolgen bei der Bekämpfung der Diphtherie in den 1890er Jahren gelegt hat.

Dabei geht es O’Nan nur in zweiter Linie um die Beschreibung der Folgen einer solchen Epidemie für eine Kleinstadt, sondern in der Hauptsache um die Auswirkungen auf seinen Protagonisten: Jacob Hansen verliert durch die Diphtherie bereits sehr früh im Roman seine kleine Tochter und seine Frau, bleibt aber dennoch bis zum Ende unermüdlich für seine Stadt tätig. Dies gelingt ihm durch eine Ablösung von der Realität des Geschehens, die er erst aufgibt, als das Ende der Stadt unmittelbar bevorsteht. Unterstützt wird die Beschreibung dieser Ablösung durch die durchgehende Verwendung der literarisch sehr seltenen Du-Erzählung: Der Erzähler – dass er mit dem Protagonisten identisch ist, kann nur vermutet werden – spricht den Protagonisten stets mit »Du« an. Diese Sonderform des personalen Erzählens erlaubt es O’Nan, eine deutliche Distanz zwischen Erzähler und Protagonist aufzubauen, ohne dabei auf einen auktorialen Erzähler zurückgreifen zu müssen. In dieser Hinsicht stellt das Buch ein interessantes erzähltechnisches Experiment dar.

Der Originaltitel des Buches A Prayer for the Dying setzt doch einen etwas anderen Ton als das etwas altruistische Das Glück der anderen, das der deutsche Verlag dem Buch aufs Titelblatt gepresst hat. Vielleicht war ihnen der Originaltitel zu negativ für ein  Buch, in dem mehr oder weniger alle Figuren am Ende tot sind. Der Originaltitel weist darauf hin, dass die Katastrophe bei Jacob Hansen auch eine religiöse Krise auslöst. Überhaupt ist die Hauptfigur recht differenziert und vollständig erfunden: Sein Umgang mit den Toten geht bis auf seine Zeit als Soldat im Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, aus der auch seine Aversion gegen Pferde – daher das Fahrrad als Fortbewegungsmittel – stammt. Seit langer Zeit von Toten umgeben, sind für ihn die Unterschiede zwischen den Lebenden und den Toten geringer als für einen Alltagsmenschen. Hansens Glaube ist nur ein weiterer Aspekt dieser Verbundenheit des Lebenden mit den Toten.

Alles in allem ein interessanter Roman mit einer außergewöhnlichen, aber überzeugend eingesetzten Erzählperspektive.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 235 Seiten. 10,– €.

Philip Roth: Exit Ghost

roth_exitDas neunte und – wie der Titel und das Ende des Buches andeuten – letzte Buch, in dem der Schriftsteller Nathan Zuckerman als Protagonist fungiert. Zuletzt hatte Zuckerman in Der menschliche Makel die Geschichte Coleman Silks erzählt, eines vorgeblich jüdischen, in Wahrheit aber schwarzen Professor der Altphilologie, der wegen einer unbedachten Äußerung, die als rassistisch ausgelegt wird, aus seiner Fakultät gemobbt wird. Zu dieser Zeit lebte Zuckerman zurückgezogen in Massachusetts.

Zu Anfang von Exit Ghost finden wir Nathan Zuckerman Ende Oktober 2004 in New York. Er hofft auf einen medizinischen Eingriff, der seine Inkontinenz beheben soll, die sich nach einer Prostata-Operation eingestellt hat. Neben der Inkontinenz, die ihm hauptsächlich lästig und peinlich ist, ist Impotenz eine weitere Folge der Operation, die Zuckerman Selbstbewusstsein und -bild arg zusetzt. Zuckerman ist nun 71 Jahre alt und war mit 60 in die Provinz geflohen, nachdem er eine Reihe von Morddrohungen erhalten hatte. Er hat sich in den elf Jahren weitgehend des gesellschaftlichen Umgangs entwöhnt und findet sich und New York nach dieser Zeit sehr verändert wieder. Trotz einigem inneren Widerstand, entschließt er sich, für eine Weile in New York zu bleiben, um den Erfolg der Behandlung abzuwarten und dies eventuell wiederholen zu lassen. Es wird schließlich nicht mehr als eine Woche werden.

Binnen kurzem ist Zuckerman in alte und neue Geschichten verstrickt: Er begegnet zufällig Amy Bellette wieder, trifft das junge Ehepaar Jamie und Billy, mit denen er für die Zeit, die er in New York verbringen will, die Wohnung zu tauschen plant, und schließlich nimmt ein Freund Jamies, Richard Kliman, Kontakt zu ihm auf, der eine Biografie über E. I. Lonoff schreiben will. Lonoff stand zusammen mit Amy Bellette im Zentrum des ersten Zuckerman-Romans Der Ghostwriter, in dem Zuckerman als junger Autor den von ihm verehrten Erzähler Lonoff besucht.

Zuckerman verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Jamie, nicht ohne sich schmerzlich seines Alters und seines körperlichen Unvermögens bewusst zu sein. Während er sich mit dieser Verliebtheit herumquält, wehrt er sich zugleich gegen die Vereinnahmung durch Kliman, der ein ehemaliger Kommilitone und Ex-Freund Jamies ist und den Zuckerman verdächtigt, ein Verhältnis mit Jamie zu haben. Kliman ist in jeglicher Hinsicht Zuckermans Konkurrent: Er ist ein junger und agiler sexueller Rivale, er ist ein aufstrebender junger Autor, er hat seine Karriere und sein Leben noch vor sich und erinnert Zuckerman mit all seiner Energie und seinem Enthusiasmus zu sehr an sich selbst in jungen Jahren, als dass er ihm nicht zugleich ständig die Mängel seiner Altersexistenz vor Augen führen würde.

Kliman will Zuckerman als Quelle und Autorität für seine Lonoff- Biografie einspannen. Klimans These ist, dass der einzige und unvollendet gebliebene Roman Lonoffs auf einer autobiografischen Konstellation beruht und Lonoff eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester gehabt habe. Während Kliman durch die Veröffentli- chung ein Revival des vergessenen Lonoffs herbeizuführen hofft, befürchtet Zuckerman, dass eine solche Biografie Lonoff und sein Werk auf den vorgeblichen Skandal dieses Inzests reduzieren und damit für immer beschädigen würde. Zuckerman selbst entwickelt spontan eine alternative, literarische Deutung des Inzest-Motivs, indem er die These aufstellt, Lonoff habe sich durch biografische Spekulationen über Hawthorne zu diesem Thema anregen lassen.

Aus dieser relativ einfachen Struktur gewinnt Roth überraschend reiches Material: Da das Flirten tête-à-tête mit Jamie nicht gelingen will, entwickelt Zuckerman in seinem Hotelzimmer imaginäre Dialoge, die schließlich auf das Ermöglichen des Unmöglichen hinauslaufen: Die fiktive Jamie erklärt sich bereit, sich mit dem fiktiven Zuckerman in seinem Hotelzimmer zu treffen, der daraufhin fluchtartig das Hotel, New York und wahrscheinlich auch gleich die Welt verlässt:

Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.

Gespiegelt wird diese imaginäre Beziehung in Zuckermans Gesprächen mit Amy Bellette, die in Der Ghostwriter als Studentin eine Beziehung mit alternden E. I. Lonoff begonnen hatte und Zuckerman nun von Lonoffs letzten Jahren, seinem unvollendeten Roman und seinem Sterben erzählt. In diesen und den Gesprächen zwischen Zuckerman und Kliman entwickelt Roth das zweite große Thema des Romans: Den Umgang der Öffentlichkeit mit Schriftstellern. Zuckerman wehrt sich gegen die Biografie Klimans auch deshalb so sehr, weil er befürchtet, dass auch sein Leben und Werk postum auf eine Reihe von Skandalen reduziert werden wird. Er setzt die Integrität des Werks, das für einen »unbefangenen Leser« geschrieben sei, der Integrität der Informanten eines Literaturbetriebs gegenüber, der Schriftsteller nicht anhand ihrer künstlerischen Leistungen, sondern ihrer moralischen Verfehlungen gewichtet.

Exit Ghost zeigt wie schon zuvor Der menschliche Makel einen erzählerisch deutlich entspannteren Philip Roth, als man ihn aus vielen früheren Romanen kennt. Motivisch rundet der Roman die Zuckerman- Reihe mit der Wiederaufnahme der Figuren Lonoffs und Amy Bellettes schön ab, und auch die Figur Zuckermans selbst findet mit diesem letzten Liebesabenteuer einen gelungenen Abschluss. Er zieht sich nun endgültig in die Provinz zurück und überlässt die Welt den Jungen. Mag sein, wir werden später einmal von seinem Tod und seiner Beerdigung lesen, mag auch sein, er ist für immer aus unserem Blickfeld verschwunden. Roth zumindest wird Zuckerman wohl auch nach diesem Buch nicht vollständig aus den Augen verlieren.

Philip Roth: Exit Ghost. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. München: Hanser, 2008. Pappband, 297 Seiten. 19,90 €.

William Shakespeare: König Richard II.

139681116_ad38eae79eFrank Günthers Neuübersetzung des Shakespeareschen Gesamtwerks bringt seit einigen Jahren mit bewundernswerter Regelmäßigkeit etwa vier Bände pro Jahr hervor. Derzeit liegen 23 Bände von geplanten 39 vor; die Bände sind vorzüglich ausgestattet: Ein angenehm ganz leicht gelbliches Werkdruckpapier, ein silbergrauer Leineneinband mit für jeden Band individueller zweifarbiger Prägung, deren Motiv sich auf dem Vorsatzpapier wiederholt und zwei Lesebändchen in den Farben des Vorsatzes. Neben dem exklusiven Inhalt schlägt diese Ausstattung mit 25 bzw. 28 € pro Band zu Buche, von denen allerdings bei Subskription des Gesamtwerks noch 15 % nachgelassen werden.

Alle Bände liefern den kompletten englische Text und die Neuübersetzung Günthers auf gegenüberliegenden Seiten und einen umfangreichen Anhang mit ausführlichen Erläuterungen, Nachrichten des Übersetzers »aus der Übersetzerwerkstatt« zum jeweiligen Band und einem Essay eines Shakespeareforschers, der sich mit der Entstehung, den Quellen, der zeitgeschichtlichen Einordnung und der Rezeption des Werkes beschäftigt. Von Geschmacksfragen im Einzelnen abgesehen, kann diese Edition nur als vorbildlich bezeichnet werden.

Natürlich steht und fällt eine solche neue deutsche Gesamtausgabe Shakespeares mit der Qualität der angebotenen Übersetzung. Shakespeare hat in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine so reiche Übersetzertätigkeit hervorgerufen wie kein anderer englischsprachiger Autor sonst. Er wurde während des 19. Jahrhunderts dann nach Goethe und Schiller der »dritte Klassiker« im deutschen Sprachraum, und die Schlegel/Tiecksche Übertragung der Stücke bekam einen Normcharakter, der bald von den konkreten Zeitumständen, die diese Texte hervorgebracht hatten, gänzlich losgelöst erschien. Gegen diese scheinbare Zeitlosigkeit nicht nur einzelne Übersetzungen, sondern gleich eine komplette Neuausgabe eines einzigen Übersetzers setzen zu wollen, ist alles andere als kleines Unternehmen.

Günther versucht es daher bei seinen Übersetzungen mit so wenig Programmatik wie möglich und so viel Pragmatik wie nötig. Sein Ziel ist es, den heutigen deutschen Lesern und Zuschauern einen Text anzubieten, der ihnen Shakespeare so unmittelbar wie möglich zugänglich macht. Sprachliche Barrieren sollen weitgehend vermieden werden, Pointen als Pointen, Sprachspiele als Sprachspiele erkennbar sein. Das hat seine natürlichen Grenzen, die Günther auch anerkennt und deutlich macht. Günther erhebt auch nicht den Anspruch, dass seine Übersetzung alle anderen überflüssig macht, eher dass sie die anderen Versuche ergänzt und einen alternativen Zugang zum Werk Shakespeares öffnet. Er ist sich dabei der unvermeidlichen Subjektivität eines solchen Unternehmens bewusst, ohne diese Subjektivität als Ausrede für Beliebigkeit oder Bequemlichkeit zu missbrauchen.

Für mich ist die Übersetzung von Frank Günther rasch meine Leseausgabe Shakespeares geworden, nicht nur, weil sie bequem den englischen und einen guten deutschen Text parallel liefert, sondern auch wegen der Anhänge, die in der Regel alle wesentlichen Kommentare und Hinweise zur historischen Einordnung und zum Verständnis des Stückes enthalten.

William Shakespeare: König Richard II. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachiuge Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 10. Cadolzburg: ars vivendi, 2000. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen,352 Seiten. 28,– €.