Joseph Conrad: Nostromo

Jedem sein eigenes Schicksal, geformt von Leidenschaft und Empfindung.

Zum 100. Todestag Joseph Conrads legt Manesse seinen Roman „Nostromo“ (1904) in einer neuen Übersetzung vor. Bereits Conrad selbst hatte das Gefühl, der Roman habe eine neue Epoche in seinem Erzählen eingeleitet, und viele Kritiker sind dieser Einschätzung gefolgt. Der Roman ist denn auch ungewöhnlich genug geraten und braucht eine ganze Weile, bis er in Fahrt kommt, nur um dann seine rattlin’ good story plötzlich wieder abzubrechen und zu einem mehr historisierenden Erzählen zurückzukehren.

Erzählt wird im Wesentlichen von den Ereignissen in und um Sulaco herum, einer fiktiven Hafenstadt im ebenso fiktiven südamerikanischen Staat Costaguana (was soviel wie Palmenküste heißen kann; allerdings hat guano auch noch eine andere Bedeutung). Costaguana zerfällt in eine Zentral- und eine Westprovinz, die durch einen hohen, unwegsamen Gebirgszug voneinander getrennt sind. Sulaco ist zu Zeiten der Segelschiffe aufgrund seiner sehr windstillen Bucht ein eher verschlafener Hafen von untergeordneter Bedeutung, bekommt aber durch die aufkommende Dampfschifffahrt und die erfolgreiche Wiedereröffnung einer lokalen Silbermine eine ganz neue Bedeutung. Die Lizenz zur Ausbeutung der Mine hat Charles Gould, der als Kind in Europa erzogen worden ist und dort auch studiert hat, von seinem englischstämmigen costaguanischen Vater geerbt, und die Mine zu einem Erfolg zu machen, ist ihm ein wenig zur fixen Idee geworden.

Doch Costaguana ist politisch instabil, und die in der Zentralprovinz ansässige rechtsliberale, republikanische Regierung, die selbst durch den Umsturz einer Tyrannei an die Macht gekommen ist, wird wiederum vom Militär gestürzt. In der Westprovinz bricht bei den Landbesitzern und Charles Gould eine milde Panik aus. Zwar schickt man eine zusammen­gewürfelte Armee aus, um sich der Bedrohung entgegenzustellen, aber die revolutionären Truppen halten sich nicht an den Plan der Verteidiger, sondern steuern über See und Berge Sulaco und seinen vermeintlichen Schatz an Silber direkt an. Diesen hat man allerdings kurz vor Ankunft der feindlichen Truppen auf einen Leichter verladen und in stockfinsterer Nacht hinaus in die Bucht geschickt, auf dass er in einen Nachbarstaat gerettet und von dort aus zur Finanzierung der Konterrevolution, vielleicht sogar zum Erringen der staatlichen Unabhängigkeit der Westprovinz dienen möge.

Erst mit diesem Rettungsversuch des Schatzes bekommt nach ca. 240 von 520 Seiten der Titelheld Nostromo endlich seine entscheidende Rolle zugeschrieben. Es handelt sich um einen genuesischen Seemann namens Giovanni Battista Fidanza, der in Sulaco gestrandet ist. Dort ist er aufgrund seines großspurigen und freigiebigen Auftretens und auch wegen seines Erfolgs bei Frauen zu einer Art Volksheld geworden (bei seinem ersten größeren Auftritt gestaltet Conrad ihn als einen Operetten-Don-Juan), der allgemein nur unter seinem Spitznamen Nostromo (einem verschliffenen nostro uomo) bekannt ist. Nostromo, der alles kann und alles wagt, ist der rechte Mann um den Silberschatz in der Nacht herauszuschmuggeln; er hat außerdem noch Martín Decoup an Bord, einen Journalisten und politischen Schwärmer, dem von den heranziehenden Truppen sicher der Tod droht, und einen Blinden Passagier, der an sich nicht weiter von Bedeutung ist, aber noch eine entscheidende Nebenrolle zu spielen hat.

Es ist nicht nötig, die eigentliche Handlung zu referieren und so den Erstlesern die Spannung zu rauben. Wichtig ist nur, dass der Abenteuerroman Episode bleibt. Vorangegangen ist eine gründliche Historie der jüngsten Vergangenheit Costaguanas sowie eine ausführliche Schilderung der Hauptcharaktere und ihrer Vorgeschichten (mit Ausnahme Nostromos, der, wie schon gesagt, in der ersten Hälfte des Buches beinahe nur als Randfigur vorkommt). Dabei ist diese erste Hälfte in einer mäandernden Erzählweise verfasst, die sich von Figur zu Figur hangelt und dabei weder Rücksicht auf eine strenge Chronologie, noch auf Vollständigkeit zu nehmen scheint. Trotzdem entwickelt sich mit der Zeit ein reiches und komplexes Bild Sulacos und seines politischen und gesellschaftlichen Umfeldes. Wie ebenfalls bereits gesagt, endet das Buch ähnlich historisierend wie es anfängt, wenn auch mit einer dramatischen, kaum vorhersehbaren Schlusspointe.

Alles in allem ein außergewöhnlicher Roman, der zwischen Fiktion und alternativer Geschichte, wie man das heute wohl nennt, seinen Weg sucht; ein geadelter Räuberroman, wenn man so will. Die Neuübersetzung ist angenehm zu lesen; an keiner Stelle merkt man ihr an, dass sie von zwei Übersetzern erstellt wurde. Auch haben sich Verlag und Übersetzer nicht dem herrschenden Zeitgeist gebeugt und heute politisch inkorrekte Ausdrücke, die Conrad wie selbstverständlich verwendete, abgeschwächt oder gar überschrieben. Auch sind die den Text durchsetzenden spanischen Wörter stehen geblieben (ein kleines Glossar am Ende hilft jenen, denen das Spanische fremd ist). Einzig, dass man den Untertitel “A Tale of the Seaboard” hat entfallen lassen, hat mich ein wenig irritiert.

Ein durchweg gelungenes Memento zur Feier Conrads!

Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 536 Seiten. 38,– €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

A. C. Grayling: Die Grenzen des Wissens

… unser Denken und Fühlen ist [sic!] immer noch verteufelt primitiv, wir führen immer noch Kriege, zanken uns, glauben Unsinn, vertun unser kurzes Leben mit Trivialitäten …

Cover

Eigentlich könnte man den obenstehenden Motto-Text zitieren und es dabei belassen. Das Buch ist eine weitere der so beliebten Mogelpackungen unserer Sachbuch-Kultur, denn in der Hauptsache geht es in diesem Buch nicht um die Grenzen des Wissens (the frontiers of knowledge), sondern um eine der üblichen populistisch gehaltenen Nacherzählungen des aktuellen Wissenstandes und seiner Heraufkunft, diesmal begrenzt auf Technik und Physik (die beiden müssen herhalten für die Naturwissenschaft insgesamt), Geschichte und Vorgeschichte sowie Hirnforschung und Psychologie. Der Autor rät selbst dazu an, dass jene, die schon über Kenntnisse der Gebiete verfügen, die darstellenden Teile überspringen sollten, wobei diese Teile tatsächlich kaum mehr bringen als man an sieben Tagen bei ZDF info auch erfahren kann (falls nicht gerade mal wieder ägyptische Woche ist).

Was die Frage nach den Grenzen des Wissens angeht, so gibt Master Grayling zwar zu, dass man solche vermuten könnte, aber man sollte besser nicht an sie glauben:

Aufgrund der genannten Probleme sagen manche Denker, es gäbe Dinge, die wir niemals wissen könnten: Fragen etwa, die die Beschaffenheit des Bewusstseins betreffen, könnte nie beantwortet werden, weil der Versuch, sie zu beantworten, dem Versuch eines Auges gliche, sich selbst zu sehen. Aber das ist ein Argument, das auf Resignation hinausläuft und das kein Forscher akzeptieren sollte. Wäre die Frage »Gibt es Grenzen des Wissens?« sinnvoll, so ist sie bestenfalls defätistisch, da sie implizieren würde, dass es solche Grenzen geben könnte. Doch sie ist nicht sinnvoll, da sie nicht beantwortbar ist – sie könnte nur beantwortet werden, wenn es uns, was in sich widersprüchlich ist, gelänge, die Grenzen des Wissens zu überschreiten und auf sie zurück zu blicken, um zu sehen, wo sie liegen.

S. 20 f.

Damit wäre das auch geklärt. Mehr sollte man von diesem Denker nicht erwarten.

A. C. Grayling: Die Grenzen des Wissens. Was wissen wir von dem, was wir nicht wissen. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Stuttgart: Hirzel, 2023. Pappband, 445 Seiten. 34,–€.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen

Langweilig ist’s auf dieser Welt, Herrschaften!

Der Band umfasst das gesamte erzählerische Werk Gogols mit Ausnahme der Toten Seelen. Dies sind vier Sammelbände, die eine deutliche Entwicklung des Erzählers Gogol erkennen lassen, und eine fragmentarische Erzählung mit dem Titel Rom. Die Erzählungen der frühesten beiden Sammlungen, Die Abende auf einem Weiler bei Dikanka (1831 und 1832) und Mirgorod (1835), sind in Gogols Heimat, der Ukraine lokalisiert, und hatten sowohl wegen des geschilderten bäuerlichen Milieus als auch wegen des Schauer-Genres (besonders in der ersten Sammlung vorherrschend) einen großen Erfolg beim Publikum. Gogols russische Variation des Schauermotivs arbeitet hauptsächlich mit Hexen und dem Teufel, wobei diese als wirkende Mächte in einer sonst idyllischen, bäuerlichen Welt vorgestellt werden. Oft ist es eine Liebesgeschichte, die den anekdotisch aufgereihten Episoden ein Rückgrat geben.

In Mirgorod tritt das Schauerliche dann schon deutlich zurück: Die Sammlung beginnt mit der Erzählung Altväterliche Grundbesitzer, die kaum eine konkrete Handlung besitzt, sondern hauptsächlich das idyllische Leben und Sterben eines älteren Ehepaars schildert. Dies wird dann unmittelbar mit einer Kriegserzählung aus dem 15. Jahrhundert kontrastiert, die von Männlichkeitsgehabe und Kriegsverherrlichung nur so strotzt; auch hier wird der eigentliche Handlungsknoten erst spät und wieder mittels einer Liebesgeschichte geschürzt. Den Abschluss bildet die Geschichte, wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikoforowitsch zerstritt, eine hübsche Dorf-Farce, die es verdient hätte, bekannter zu sein.

Es folgen noch zwei Sammlungen: Novellen und Arabesken. Hier finden sich unter anderem die bekanntesten Sachen Gogols wie Die Nase, Der Mantel oder Der Newskijprospekt. Reizvoll sind hier besonders auch die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, die versuchen, das langsame Abrutschen in den Wahn aus der Perspektive des Erkrankten darzustellen.

Das Fragment Rom zeigt stilistisch und thematisch am deutlichsten den Einfluss, den E. T. A. Hoffmann auf Gogol gehabt hat, kommt über Ansätze zu einer phantastischen Erzählung aber nicht hinaus.

Über die zurecht bekannten Stücke hinaus ist kaum eine Entdeckung zu machen; wer an Gogol als Erzähler interessiert ist, findet hier eine halbwegs chronologische Darstellung seiner Entwicklung bis hin zu den Toten Seelen.

Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Russischen von Josef Hahn. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1961. Leinen, Dünndruck, Fadenheftung, 882 Seiten. Nur noch antiquarisch lieferbar.

Jean Canavaggio: Cervantes

Miguel de Cervantes hat für einen Schriftsteller – wenigstens nach unseren bürgerlichen Vorstellungen – ein recht abenteuerliches Leben geführt. Er wurde geboren in dem Jahr, als der Konquistador Hernán Cortés starb, also noch unter der Herrschaft Karls I., als eines von sieben Kindern eines Wundarztes, der seine Familie mehr schlecht als recht über die Runden brachte. Er machte schon in seiner Kindheit zusammen mit seiner Familie eine unruhige Wanderzeit durch, die sein Leben für sehr lange Zeit prägen sollte. Trotz der Armut seiner Familie erhält Miguel eine solide Schulbildung, man spekuliert, ob in einer jesuitischen Schule in Córdoba; ein nachfolgendes Studium der Theologie, das ihm einige Biographen zuschreiben, ist nicht nachweisbar. Wahrscheinlich träumt er in diesen Jahren schon von einer Karriere als Schriftsteller.

Bevor er überhaupt Zeit gehabt hätte, sich an einer Universität einzuschreiben, flieht er nach Italien, wahrscheinlich um sich einer Verhaftung aufgrund eines Duells zu entziehen, arbeitet dort kurzzeitig als Kammerdiener für den späteren Kardinal Giulio Acquaviva und tritt dann ins spanische Heer ein, wird also Teil der spanischen Besatzungsmacht in Italien. Er nimmt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Rodrigo als Soldat an der Seeschlacht von Lepanto teil, wird dort von drei Kugeln verletzt, von denen eine seine linke Hand durchschlägt und unbrauchbar macht.

Da die Kriegstätigkeit der Spanier danach in eine etwas ruhigere Phase eintritt, entschließt er sich, zusammen mit Rodrigo nach Spanien zurückzukehren, doch kurz vor der Ankunft wird das Schiff von Piraten aufgebracht und alle Passagiere als Sklaven bzw. Geiseln nach Algier verschleppt. Da Miguel Empfehlungsschreiben hoher Militärs bei sich hat, vermutet man in ihm und seinem Bruder lohnende Geisel, so dass beide gefangengesetzt, aber nicht als Sklaven verkauft werden. Miguel wird fünf Jahre in Algier bleiben, bis es endlich gelingt, ihn freizukaufen und nach Spanien zurückzubringen. In diesen fünf Jahren unternimmt er vier erfolglose Fluchtversuche; am Ende steht er kurz davor, als Galeerensklave eingesetzt zu werden, als buchstäblich in letzter Minute sein Freikauf gelingt. Nach zehn Jahren Abwesenheit kehrt Miguel im Dezember 1580 zu seiner Familie zurück.

In der Folgezeit arbeitet er zum einen an seinem ersten Roman Galatea – einem Schäferroman, wie sie damals überaus beliebt waren –, dessen erster Teil 1585 erscheint (der zweite Teil wurde wohl nie geschrieben). Zum anderen versucht er gleichzeitig als Veteran und ehemalige Geisel vom Hof eine Sinekure zu erhalten, doch ist seine Familie dafür offenbar nicht einflussreich genug. Nicht, dass man ihm bei seinem Schicksal nicht entgegenkommen möchte, aber nur, indem man ihn mit konkreten Missionen beauftragt, die zwar bezahlt werden, aber das Wann ist eher ungewiss. So schlägt sich Cervantes ab 1587 jahrelang als Kommissar zur Requirierung von Öl und Getreide für die spanische Flotte durchs Leben. Das bedeutet nicht nur umständliche Verhandlungen mit unwilligen Bauern und Magistraten, die die unzuverlässige Zahlweise des königlichen Schatzamtes kennen und ihre Ernte lieber auf dem freien Markt anbieten möchten, Cervantes hat sich auch selbst ständig mit der Finanzbehörde herumzuschlagen, ist böswilligen Verleumdungen ausgesetzt und gerät einmal sogar wegen eine falschen Beschuldigung kurzzeitig ins Gefängnis.

Erst Mitte 1594 gibt er dieses Geschäft auf, um Steuereintreiber zu werden. Seine Besoldung kann er in diesem Fall direkt von den eingetriebenen Steuern in Abzug bringen, was ihm aber nichts nützt, da er die gesamten eingezogenen Gelder bei einem Kaufmann hinterlegt, der das zum Anlass nimmt, einen betrügerischen Bankrott zu veranstalten und sich mit dem Bargeld aus dem Staub zu machen. Zwar gelingt es Cervantes, die Steuergelder aus der Konkursmasse zu retten, sein eigenes Geld aber ist unrettbar verloren. Auch diese Affäre geht nicht ohne einen erneuten Gefängnisaufenthalt ab.

Ab 1598 wieder frei, beginnt Cervantes mit der Arbeit am Don Quijote, an dessen erstem Teil er über sieben Jahre hinweg arbeiten wird. Als der Roman Anfang 1605 in Madrid erscheint, macht er seinen Autor nahezu sofort zu einem der bekanntesten Schriftsteller, und das innerhalb weniger Monate nicht nur in Spanien sondern in ganz Europa und Südamerika (bereits im Februar 1605 wird ein erstes Kontingent des Buches nach Peru exportiert). Von dieser Zeit an scheint Cervantes in der Hauptsache als Autor gelebt zu haben.

Neben 16 Theaterstücken erscheinen in den elf Jahren bis zu seinem Tod – in denen Cervantes übrigens ein weiteres Mal für kurze Zeit ins Gefängnis geworfen wird – noch die Novellas Exemplares (ein weiterer europaweiter Erfolg), ein poetologisches Versepos Die Reise zum Parnass und schließlich im November 1615 der 2. Teil des Don Quijote, nachdem bereits im Jahr zuvor ein pseudonymer 2. Teil erschienen war, der sich nicht nur an den Erfolg des Buches anhängen wollte, sondern dessen Vorwort auch eine üble Beschimpfung des Original-Autors enthielt. Cervantes geht sowohl in der Vorrede als auch im Text seines eigenen 2. Teils auf diese Fälschung und besonders auf die Verleumdungen ein und zahlt es dem anonymen Fälscher mit besserer Münze heim. Am 22. April 1616 – so jedenfalls sein Biograph Canavaggio – stirbt Cervantes in Madrid. Postum erscheint 1617 sein letzter Roman Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda.

All dies schildert in erstaunlicher Detailfülle die musterhafte akademische Biographie Canavaggios, der als einer der bester Kenner Cervantes’ gelten muss. Sein Buch ist – soweit ich das sehe – immer noch die präziseste Beschreibung dieses Lebens, obwohl es bereits aus dem Jahr 1986 stammt. Canavaggio liefert nicht nur die bekannten Tatsachen, sondern auch die zahlreichen biographischen Spekulationen und Legenden seiner Kollegen, jeweils mit einer exakten und verlässlichen Einordnung. Zudem werden der historische Hintergrund und die sehr dynamische ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung Spaniens während der Lebenszeit Cervantes’ kurz und eingängig vermittelt. Dabei ist das Buch durchweg gut lesbar und klar strukturiert. Bei all diesen Vorteilen ist es selbstverständlich, dass es nicht mehr im Druck ist und nur noch antiquarisch erworben werden kann.

Jean Canavaggio: Cervantes. Aus dem Franzöischen von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Zürich u. München: Artemis, 1989. Leinen, 387 Seiten. Nicht mehr lieferbar.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen

Aber wozu die vielen Worte?

Giovanni Boccaccio ist durch ein Jugendwerk, das Decamerone, berühmt geworden. Das Buch hat ihm den Weg in das Umfeld Petrarcas eröffnet, den er später nicht müde wurde, seinen Lehrer zu nennen. Er ist dann von der Volkssprache zum Lateinischen übergegangen und hat an­ge­fan­gen, gelehrte Bücher zu verfassen, so eine heute nur wenig bekannte, umfangreiche Genealogie der heidnischen Götter und eben auch eine Anthologie kurzer Bio­gra­phien berühmter Frauen ‒ De mulieribus claris ‒, die gerade bei C. H. Beck in kleiner Auswahl neu übersetzt in der Reihe textura wieder erschienen ist.

Das Büchlein enthält 31 der ursprünglich 106 Kurzportraits, bei denen Boc­cac­cio der Antike ein absolutes Übergewicht einräumt: 100 seiner Texte behandeln Frauengestalten der Antike, wobei er mit der biblischen Ur­mut­ter Eva beginnt, um auch im Weiteren keine Unterschiede zwischen my­tho­lo­gi­schen und historischen Figuren zu machen. Die vom Übersetzer getroffene Auswahl ist amüsant und unterhaltsam und hat gerade die richtige Länge, um den Leser nicht zu strapazieren. Die Übersetzung kommt dem modernen Leser entgegen, ohne dabei die Herkunft des Originals aus dem Lateinischen gänzlich zu verleugnen.

Eine moderne Lektüre dieses spätmittelalterlichen Textes ist nicht ohne Reiz, denn so sehr sich Boccaccio auch bemüht, die berühmten Frauen nicht nur „als Frauen“ zu rühmen, so sehr ist es am Ende immer wieder ihre Tu­gend­haf­tig­keit, auf der ihre Berühmtheit gründet. Dort, wo sich andere Qua­li­tä­ten beim besten Willen nicht verleugnen lassen, setzt sich sein Weltbild letztlich doch durch:

Ich würde meinen, dass die Natur bisweilen Fehler begeht, wenn sie Seelen mit menschlichen Körpern verbindet: wenn sie beispielweise eine Seele in eine weibliche Brust gießt, die sie für eine männliche vor­ge­se­hen hatte. Da jedoch Gott selbst der Schöpfer solcher Menschen ist, wäre es verwerflich zu glauben, er sei bei seiner Schöpfung kurz eingenickt.

Ganz niedlich wird es dort, wo er sich gezwungen sieht, die rezente Königin von Neapel, Johanna von Anjou, als Schlussstück aufzunehmen, und an ihr unter anderem dies zu loben findet:

In den von ihr beherrschten Gebieten sorgte sie dafür, dass nicht nur Arme, sondern auch Reiche Tag und Nacht sicher und furchtlos ihrer Wege gehen können.

Wer es gelingt, dass sogar die Reichen vor Räubern sicher sind, muss über wahre Herrscherinnenqualität verfügen!

Mit ein wenig Ironie gelesen, eine überraschend frische und vergnügliche Lektüre.

Giovanni Boccaccio: Von berühmten Frauen. Ausgewählt und aus dem Lateinischen übersetzt von Martin Hallmannsecker. München: C. H. Beck, 2021. Bedruckter Pappband, 159 Seiten. 18,‒ €.

George Orwell: Farm der Tiere / 1984

George Orwell ist – zumindest in Deutschland – der Autor zweier Bücher oder vielleicht auch nur zweier Sätze: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“ und “Big Brother is Watching You”. Das zeigt sich nun einmal mehr, nachdem am 1. Januar seine Texte gemeinfrei geworden sind: Es sollen allein acht Neu-Übersetzungen von Nineteen Eighty-Four und fünf von Animal Farm erscheinen,* und das obwohl Michael Walters Übersetzungen aus den 80er Jahren sicherlich immer noch tadellos und lesbar sind. Orwell zeigt also zumindest noch wirtschaftliches Potenzial. Ob es über die üblichen Schlagworte hinaus noch eine Auseinandersetzungen mit ihm geben kann, wird sich zeigen müssen.

Farm der Tiere

Wurde er gefragt, ob er seit Jones’ Verschwinden nicht glücklicher sei, sagte er nur: «Esel haben ein langes Leben. Keiner von euch hat je einen toten Esel gesehen», und mit dieser kryptischen Antwort mussten sich die anderen begnügen.

Der Text wurde Ende 1943, Anfang 1944 geschrieben, aber Orwell hatte ein wenig Mühe, einen Verleger dafür zu finden. Orwell machte dafür in einem Essay, der der Erstausgabe als Vorwort beigegeben war und den Manesse zusammen mit Orwells Vorwort zur ukrainischen Übersetzung im Anhang dieser Neu-Übersetzung mitliefert, die freiwillige Selbstzensur der Verlage verantwortlich, die in Kriegszeiten keinen Text drucken wollten, der offensichtlich gegen einen wichtigen Verbündeten und seinen politischen Führer polemisiert. Das ist nicht unwahrscheinlich, bleibt aber natürlich letztendlich Spekulation. Es mag auch sein, dass den Verlegern die Allegorie zu offensichtlich oder auch zu platt gewesen ist.

Erzählt wird von einer Revolution auf der etwas heruntergekommenen „Herrenfarm“, auf der ein sterbender alter Eber die Tiere, insbesondere die anderen Schweine, für die Ungerechtigkeit ihrer Existenz sensibilisiert. Anlässlich eines eher beiläufigen Falls herrschaftlicher Gewalt des stets betrunkenen Farmers Jones entsteht ein Aufstand der Tiere, der zur Vertreibung der Menschen von der Farm führt. Die so befreiten Tiere bilden nach der Lehre des alten Ebers eine sozialistische Kommune, in der die Schweine aufgrund ihrer Intelligenz natürlicherweise die Führungsebene bilden. Die beiden anführenden Eber, Napoleon und Schneeball, leben eine Weile in Konkurrenz zueinander, bis Napoleon, der einen Wurf junger Hunde von den anderen Tieren isoliert und zu seiner Leibgarde ausgebildet hat, in einem Putsch die Macht übernimmt, Schneeball vertreibt und alle demokratischen Strukturen abschafft.

Unter der Diktatur Napoleons treten für die Tiere – außer den Schweinen und der Polizeitruppe der Hunde – bald ärgere Verhältnisse ein als zuvor: Mehr Arbeit – es muss nicht nur die übliche Arbeit erledigt werden, sondern zudem wird noch eine weitgehend sinnlose Windmühle errichtet – und wenigerer Futter, da man statt Jones, seiner Frau und seinen Knechten nun die Oberschicht der Schweine durchfüttern muss, die langsam – und das ist die Endpointe des Buches – immer mehr zu Menschen werden und von ihren Nachbarn nach und nach als Geschäftspartner akzeptiert und auch hofiert werden.

Alles in dieser Erzählung ist offenbar und vorhersehbar, aber es ist auch detailliert und intelligent umgesetzt: Die Katze als Individualistin, der Esel als zynischer Stoiker und der zahme Rabe als Vertreter des Klerus sind schön ausgespielt. Es war Orwells Absicht, seine Allegorie verständlich und durchsichtig zu gestalten:

Nach meiner Rückkehr aus Spanien wollte ich den Sowjetmythos in einer Geschichte entlarven, die jedermann ohne Weiteres verstehen und die unschwer in andere Sprachen übersetzt werden konnte. [S. 159]

Der bis heute anhaltende Erfolg des Buches beweist, wie gut ihm dies gelungen ist. Das Buch eignet sich durchaus nicht nur als Allegorie auf den Stalinismus, sondern kann als Beschreibung zahlreicher Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Nur bleibt das „Märchen“ letztendlich fatalistisch; die politische Vision des Sozialisten Orwell kann und sollte auch nicht thematisiert werden. Auch das machte das Buch für ein großes, besserwisserisches Publikum der westlichen Hemisphäre attraktiv.

Die Übersetzung Blumenbachs ist, wie zu erwarten, tadellos und eingängig; auf einen detaillierten Vergleich mit dem Original oder den beiden älteren Übersetzungen habe ich verzichtet.

George Orwell: Farm der Tiere. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 190 Seiten. 18,– €.

1984

Die Sache konnte unmöglich glücklich enden; so etwas geschah im wirklichen Leben nicht.

Nur vier Jahre nach dem Erscheinen von Farm der Tiere und dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte Orwells nächste Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Diesmal richtet sich der Text nicht nur gegen Stalinismus oder Nationalsozialismus, sondern gegen das System des staatlichen Totalitarismus schlechthin. Zu diesem Zweck entwickelte Orwell die Utopie des absoluten Machtstaates Ozeanien, der sich im Jahr 1984 seit 25 Jahren als eine von drei verbliebenen Supermächten in einem endlosen Krieg befindet. Der Staat wird beherrscht von einer namenlosen Partei, an deren Spitze wiederum der wahrscheinlich fiktive Große Bruder steht, eine absolute Führerfigur, zu der die Mehrheit der Parteigenossen bewundernd aufblickt.

Die Gesellschaft Ozeaniens ist ein Drei-Klassen-System, in dem die Arbeiterschicht – genannt Prolos – 85 % der Bevölkerung ausmachen; sie sind als Individuen vollständig bedeutungslos und dienen nur als Quelle von Arbeitskraft und Reservoir von Soldaten. Die restlichen 15 % bilden Die Partei: Mehr als 13 % gehören zur Äußeren Partei, die die alte Verwaltung abgelöst hat. Die Mitglieder der Äußeren Partei stehen potenziell unter ständiger Überwachung, die sowohl technisch als auch durch gegenseitige Bespitzelung und Indoktrination ihrer Kinder realisiert wird. Die Verwaltung ist in vier riesigen Ministerien organisiert, die als Ministerien der Wahrheit (Propaganda), des Friedens (Krieg), der Liebe (Hass, eigentlich die Geheimpolizei) und Fülle (Produktion) das Stadtbild Londons beherrschen. Die verbleibenden weniger als 2 % (immerhin noch sechs Millionen Menschen) bilden die Innere Partei, die staatliche Führung Ozeaniens im engeren Sinne. Sie leben in Luxus und Reichtum, und ihre Überwachung scheint zwar vorhanden zu sein, ist aber weniger rigoros als die der Äußeren Partei. Es gibt in Ozeanien nicht viele Informationen über die Gesellschaften der beiden anderen Großmächte Eurasien und Ostasien, aber es darf vermutet werden, dass in ihnen ganz ähnliche Verhältnisse herrschen.

Die wirtschaftliche Situation ist durch den permanenten Kriegszustand bestimmt. Die Prolos und, wenn auch in geringerem Maße, die Mitglieder der Äußeren Partei leben in ständigem Mangel. Die Ernährung ist schlecht und von Ersatzstoffen geprägt. Genussmittel existieren zwar für die Mitglieder der Äußeren Partei: Sie haben etwa Gin, Zigaretten und Schokolade, aber von so schlechter Qualität, dass selbst ihr dauerhafter Genuss keine vollständige Gewöhnung herbeiführt. Die ständige Reduzierung der Rationen wird begleitet von einer Propaganda, die deren Erhöhung und überhaupt eine kontinuierliche Steigerung der Lebensqualität verkündet. Es wird von Parteimitgliedern erwartet, dass sie diesen offensichtlichen Widerspruch ignorieren bzw. als positive gegenseitige Verstärkung begreifen können. Ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet, ist zumindest ungewiss. Da die Partei sämtliche Nachrichtenkanäle beherrscht, ist es für ein einfaches Parteimitglied nicht möglich, die Nachrichten über den Krieg zu prüfen. Sicher aber scheint zu sein, dass niemand in der Staatsführung daran interessiert ist, den permanenten Kriegszustand zu beenden.

Konkret erzählt wird die Geschichte des Parteigenossen Winston Smith, der im Ministerium der Wahrheit an der beständigen Umarbeitung der Vergangenheit mitarbeitet. Die Aufgabe seiner Abteilung ist es, die Archive jeweils an den aktuellen Stand der Wirklichkeit anzupassen, wie sie von der Inneren Partei definiert wird. So müssen in alten Zeitungen etwa Statistiken gefälscht werden, um ehemalige Voraussagen an die aktuelle Produktion anzupassen und so die real nicht existierende Überproduktion zu beweisen. Allerdings ist es wahrscheinlich so, dass auch die aktuellen Zahlen keiner Realität entsprechen, was den betriebenen Aufwand ein wenig merkwürdig erscheinen lässt. Auch müssen die Biographien von Personen, die in politische Ungnade gefallen sind oder die ermordet wurden, aus den Archiven getilgt und die entsprechenden Passagen mit anderem Material aufgefüllt werden. Wozu diese Arbeit letztlich dient, wer also mit den gefälschten Archiven getäuscht werden soll, bleibt im gesamten Roman undeutlich. In anderen Abteilung des Ministeriums der Wahrheit werden Romane produziert, die weitgehend maschinell strukturiert und geschrieben werden. Andere wiederum arbeiten an der Ausgestaltung der Parteisprache Neusprech, die irgendwann die Alltagssprache ablösen und das Formulieren ketzerischer Gedanken unmöglich machen soll. (Bertrand Russells Konzept der Idealsprache lässt grüßen.)

Trotz seiner Zugehörigkeit zur Äußeren Partei ist Winston Smith ein heimlicher Ketzer. Er ist der Überzeugung, dass der Lebensstandard in seiner Kindheit – Winston ist 1944 oder 1945 geboren – höher gewesen sei, er glaubt zu wissen, dass das Essen früher besser war, er kann sich an den Geruch von echtem Kaffee erinnern und was der Dinge mehr sind. Außerdem weigert sich sein Gehirn, einander widersprechende Tatsachen einfach zu vergessen, also etwa dass vor wenigen Tagen die Ration an Schokolade gekürzt wurde, während jetzt die Nachricht ausgegeben wird, sie sei erhöht worden. Sein ketzerischster Gedanke aber ist, dass er sich erinnert, dass vier Jahre zuvor Eurasien der Kriegsgegner Ozeaniens war, während die Partei nicht nur behauptet, der Gegner sei Ostasien, sondern es sei auch immer schon Ostasien gewesen.

Der erste der drei Teile des Romans liefert eine Beschreibung der Ozeanischen Gesellschaft und des inneren Widerstandes Winstons. Gleich auf den ersten Seiten des Romans beginnt er, ein Tagebuch zu führen, was allein ein todeswürdiges Verbrechen darstellt. Nicht, dass es verboten wäre, das zu tun; es ist überhaupt nichts wirklich verboten, da es keine geschriebenen Gesetze mehr gibt. Zugespitzt wird Winstons Lage dadurch, dass sich ihm eine junge Frau aufdrängt, die auch im Ministerium für Wahrheit arbeitet. Beide treffen sich, haben Sex – für Genossen geächtet von der Partei, weil sie keine emotionale Bindung zu jemand anderem als dem Großen Bruder erlaubt –, richten sich ein geheimes Liebesnest ein und schließen sich auch noch der wahrscheinlich ebenfalls fiktiven Widerstandsbewegung des Staatsfeindes Emmanuel Goldstein an. Mit ihrer Verhaftung durch die Gedankenpolizei endet der zweite Teil des Romans. Der dritte beschreibt Winstons Umerziehung im Ministerium der Liebe. Die Partei legt großen Wert darauf, Winston von seinem Wahn zu heilen, dass er eine Realität wahrnimmt und erinnert, die den Aussagen der Partei widerspricht. Erst wenn das gelingt, ist Winston reif für seine Exekution.

Der Roman ist außergewöhnlich reich an Erfindungen und ideologischen Konzepten, ist überaus sorgfältig konstruiert, führt eine große Menge präziser Einzelheiten der erfundenen Welt vor, ist psychologisch glaubhaft und nimmt sowohl seinen Figuren als auch seinen Lesern jegliche Hoffnung, dass ein solcher Staat jemals zu besiegen wäre. Wie schon an anderer Stelle gesagt, ist Orwell so konsequent, dass er seinem Protagonisten jeden äußeren oder inneren Fluchtort verweigert. Orwells totalitärer Staat ist tatsächlich total. Dabei betreibt Orwell für die ideologische Seite seiner Fiktion einen ungewöhnlich hohen Aufwand. Ein nicht unerheblicher Abschnitt des zweiten Teils wird mit langen Zitaten aus einer theoretischen Analyse des Systems der Partei gefüllt, die einem Handbuch für den absoluten Staat entnommen sein könnte. Er fügt außerdem einen Anhang hinzu – wahrscheinlich der ungelesenste Teil des Romans –, der die Idee der Parteisprache Neusprech erläutert. All das macht klar, um welche Genauigkeit sich Orwell bemüht hat. Es ist, als solle diese Präzision im Detail der Beliebigkeit der Welt, die die Partei als Wirklichkeit erzeugt, gegenüberstehen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Roman auf breiter Front als Beschreibung eines Überwachungsstaates gelesen wurde und wird. Die Überwachung betrifft bei Orwell überhaupt nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und ist dort alles andere als absolut. Viel wichtiger als die tatsächliche Überwachung der Parteimitglieder ist die Drohung, jederzeit beobachtet werden zu können; sie vernichtet jegliches Privatleben eines Parteigenossen. In der Effektivität ihrer Überwachung sind die realen Staaten des 21. Jahrhunderts Ozeanien so weit voraus, dass Orwell wahrscheinlich staunend vor dem Phänomen stünde, dass sich in ihnen überhaupt noch irgendwer als frei empfinden kann. Andererseits ist der permanente Kriegszustand der alle anderen überwältigende Aspekt der Orwellschen Dystopie. Er dient nicht nur der Kontrolle der Bevölkerung, sondern auch dazu, sie in Armut und damit in Unwissenheit – „Unwissen ist Stärke“ ist eines der drei zentralen Schlagworte der Partei – zu halten, indem er die Überproduktion an Konsumgütern, die aufgrund des Einsatzes von Maschinen existiert, im Aufwand des Krieges vernichtet. Dabei ist es, wie Julia scharfsinnig feststellt, völlig unerheblich, ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet oder ob es den Krieg nur inszeniert, indem es seine Raketen auf die eigene Bevölkerung abschießt.

Es mag an der Zeit sein, Orwell historisch zu lesen, um vor dieser Folie zu begreifen, wie sich Machtergreifung und -erhaltung im 21. Jahrhundert entwickelt haben, gerade jetzt, wo ein Elefant im Porzellanladen der Macht gegen seinen Willen und unter Umsturzdrohungen von der Bühne abtreten muss. Dem Totalitarismus orwellscher Ausprägung sind wir anscheinend entgangen, aber wohl um den Preis, dass die Strukturen der Macht heute subtiler geworden sind, als es für Freiheit und Würde der Menschen gut ist.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 446 Seiten. 22,– €.


* Ich habe Ankündigungen gefunden von: Anaconda (beide Titel), dtv (beide), Fischer, Insel, Manesse (beide), Nikol (beide), Reclam (beide) und Rowohlt. Hinzukommen zwei Bearbeitungen von 1984 als Graphic Novel (Knesebeck und Splitter) und noch einige originalsprachliche Ausgaben.

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise

Wolfe war mit seinem Schau heimwärts, Engel für mich eine der großen Entdeckungen der letzten Jahre. Bereits eine flüchtige biographische Annäherung an den Autor macht klar, dass Deutschland unter allen europäischen Staaten den größten und nachhaltigsten Eindruck auf ihn gemacht hat. Nun ist bei Manesse eine Sammlung aller – so wenigstens der Herausgeber im Vorwort – Deutschland betreffenden Notizen, Briefe und kurzer Texte erschienen. Dokumentiert werden auf diesem Weg sechs Reisen Wolfes nach Deutschland zwischen 1926 und 1936. Während sich gleich zu Anfang eine Spannung zwischen seiner sentimentalen Begeisterung für die Landschaft und alten Städte einerseits und seiner Antipathie gegen eine bestimmte Sorte specknackiger Grobiane andererseits zeigt, steht am Ende sein Erschrecken über dass unter der Nazi-Diktatur unfrei gewordene Land.

Dabei dokumentiert Wolfe nicht nur die Unfreiheit, die Einzug ins private Leben der Deutschen genommen hat – Einschränkungen bei der Verfügung über das eigene Vermögen, Gastgeber, die Bedenken haben, wen Wolfe mit zu einer Party bringen könnte, ein Mann (Vorbild für ihn ist Heinz Ledig, der Sohn seines Verlegers Ernst Rowohlt), der sich Sorgen macht, man werde ihm seine wilde Ehe verbieten, wenn sie entdeckt wird etc. pp. –, sondern in einer Reiseerzählung auch die Judenverfolgung des Dritten Reichs.

Dem steht gegenüber, dass Wolfe in derselben Zeit in Deutschland eine Art von Ruhm und Prominenz erfährt, die ihm in seinem Heimatland weitgehend unbekannt sind. In Deutschland wird er nicht nur von seinem Verleger als bedeutender Autor gefeiert, er ist auch ein geschätzter Gast des US-amerikanischen Botschafters, unternimmt mit dessen Tochter einen Ausflug nach Eisenach und Weimar, wird von einer Party zur nächsten gereicht usw. usf. Finanziell zahlt sich das aber nur bedingt aus, da Wolfe seine Tantiemen nicht ins Ausland transferieren darf; so unternimmt er seine letzte Reise nach Deutschland wohl in der Hauptsache, um das Geld auszugeben, das sich aus dem Verkauf seiner Bücher dort inzwischen angesammelt hatte.

Insgesamt kann der Band natürlich kein sehr geschlossenes Bild liefern, da er sehr unterschiedliche Textsorten vereint, die mit recht verschiedenen Intentionen verfasst wurde. Die Notizbuch-Einträge gehen oft nicht über reine Erinnerungsnotate hinaus, die Briefe sind sehr unterschiedlich in Ton und Stilisierung je nachdem, wer ihr Empfänger ist, und kurze Erzählungen sind nicht unbedingt Wolfes Stärke als Erzähler. Dennoch alles in allem ein sehr lesenswerter und informativer Band, sowohl was die Person Wolfes angeht, als auch seinen Blick auf das sich verändernde Deutschland der Zwischenkriegsjahre betreffend.

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise. Hg. v. Oliver Lubrich. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Renate Haen, Barbara von Treskow und Irma Wehrli. Zürich: Manesse, 2020. Pappband, Lesebändchen, 410 Seiten. 25,– €.

Salman Rushdie: Quichotte

Solche Geschichten gehen alles in allem nicht gut aus.

Georg Christoph Lichtenberg hat einmal gemeint:

Ob ich gleich weiß, daß sehr viele Rezensenten die Bücher nicht lesen die sie so musterhaft rezensieren, so sehe ich doch nicht ein was es schaden kann, wenn man das Buch lieset, das man rezensieren soll.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe I. München: Hanser, 1968. S. 659. [J 46]

Woran allein man gut erkennen kann, dass Lichtenberg mit der Literatur unserer Zeit nicht hinreichend bekannt war. Denn die meisten Rezensionen zu Salman Rushdies neuem Roman, in die ich hineingeschaut habe, werden mit dem Buch spielend fertig, weil ihre Verfasser das Buch offenbar nicht oder wenigstens nur flüchtig gelesen haben. Hat man dagegen den Roman und halbwegs gründlich gelesen, sieht man sich vor die herkulische Aufgabe gestellt, das Buch in aller Kürze vorzustellen zu sollen, ohne es entweder in einem vollständig falschen Licht erscheinen zu lassen oder sich komplett in kryptisches Raunen zu verlieren. Versuchen wir es dennoch:

Erzählt wird diese Geschichte auf mindestens zwei fiktionalen Ebenen – Arno Schmidt hätte von einem Längeren Gedankenspiel gesprochen –, erstens der des fiktiven Schriftstellers Sam DuChamp (das ist nur sein Pseudonym, seinen wahren Namen erfahren wir nicht), eines mäßig erfolgreichen Verfassers von Agenten-Thrillern, der gerade dabei ist, die Geschichte eines Quichottes des 21. Jahrhunderts zu schreiben, die die besagte zweite Ebene bildet. Dieser Schriftsteller, der wie die meisten Figuren dieser Ebene nur nach seiner verwandtschaftlichen Beziehung benannt wird, Bruder also, lebt in New York und ist seit vielen Jahren mit seiner Schwester, Schwester genannt, zerstritten, nachdem er ihr vorgeworfen hatte, sich am väterlichen Erbe betrügerisch bereichert zu haben. Schwester ist Rechtsanwältin und lebt, verheiratet mit einem Richter, mit dem sie die Tochter Tochter hat, in London. Sie steht kurz vor dem Gipfel der gesellschaftlichen Anerkennung, da sie Sprecherin des englischen Oberhauses werden soll. Aber auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt.

Weder Bruder noch Schwester sind ihre Karrieren an der Wiege gesungen worden: Beide stammen – wie der sie erfindende Autor Salman Rushdie – aus Bombay. Auch der von Bruder erfundene Quichotte stammt aus dieser Stadt, lebt aber ebenfalls schon lange in den USA; er ist etwa 70 Jahre alt, wird zu Anfang des Buches von seinem Cousin zwangspensioniert – er hat zuletzt als Pharmavertreter gearbeitet. An seine Vergangenheit kann er sich nur lückenhaft erinnern, da er früher einmal einen Schlaganfall erlitten hat; seitdem ist er etwas wunderlich geworden, verbringt seine Freizeit hauptsächlich vor dem Fernseher (das sind seine Ritterromane!) und ist verliebt in die ebenfalls aus Indien stammende Talkshow-Moderatorin Salma R. (!) In die Freiheit des Ruhestandes entlassen, begibt er sich auf eine Quest, Salmas Liebe zu erlangen. Um den langen Weg nach New York nicht alleine zurücklegen zu müssen, erfindet er sich einen Sohn, Sancho, der auf gewisse Weise eine dritte fiktionale Ebene in das Buch einzieht. Dieser erfundene Sohn, obwohl zuerst eindeutig ein Gedankenprodukt Quichottes, gewinnt rasch an Selbstständigkeit und wird zur dritten Hauptfigur des Romans. Er erweist sich dabei weniger als ein Abbild des Sancho Pansa des Cervantes, sondern ist offenbar an Collodis Pinocchio entlang erfunden.

Das Buch erzählt in alternierenden Abschnitten die Geschichten Quichottes, Bruders und schließlich auch Sanchos. Dabei nutzt Rushdie alle Freiheiten des traditionellen pikarischen Romans: Immer wieder finden sich Nebengeschichten und unvorbereitete Abschweifungen, Pfade der Erzählung, die letztlich nirgends hin führen, fantastische Einschübe, albtraumhafte Sequenzen und was der Tricks mehr sind. Die Flut der Anspielungen auf Literatur, aber besonders auch auf Film und Fernsehen ist überwältigend – allein mit der Aufzählung der Offensichtlichsten ließen sich Seiten füllen –; ganz nebenbei wird ein Agententhriller eigebaut, in den Bruders Sohn Sohn verwickelt ist; es wird die Opioid-Sucht in der amerikanischen Gesellschaft thematisiert; der alltägliche Rassismus in den USA kommt ebenso vor wie das Problem des Kindesmissbrauchs in Familien; und nicht zuletzt sind auch Verschwörungstheoretiker prominent vertreten und ein wirtschaftlich erfolgreiches Genie, das den Weltuntergang prophezeit und die Menschheit auf die Erde eines Paralleluniversums hinüber retten will. Und bei all diesen Wendungen und Themen findet Rushdie immer erneut einen Weg, sie auf den Ritter von der traurigen Gestalt und seinen verzweifelten Kampf gegen die Realität zu­rück­zu­be­zie­hen.

Ich weiß wohl, dass Rushdies Bücher immer so sind, wenn ich auch von seinen Romanen zu wenige gelesen habe, um dieses Vorurteil tatsächlich inhaltlich füllen zu können, aber es hat mich überwältigt. Dieses Buch ist von einem Reichtum an Erfindung, einer Freiheit der Phantasie, einer Stringenz des Gedankens und nicht zuletzt einem so souveränen Humor, dass ihm eine Besprechung wohl nicht gerecht werden kann. Um auch mit Lichtenberg zu schließen, sei einmal mehr gesagt:

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Ebd. S. 359. [E 79]

Salman Rushdie: Quichotte. Aus dem Englischen von Sabine Herting. München: C. Bertelsmann, 2019. Pappband, 461 Seiten. 25,– €.