Charles Dickens: Bleakhaus

Dieser in Deutschland eher unbekannte Roman von Dickens gehört in der angelsächsischen Welt zu seinen bekantesten und gelobtesten. Er ist ab 1852 entstanden und gilt als Auftakt des Spätwerks. Die figurenreiche Handlung erzählt im Kern die Geschichte Esther Summersons, einer Waise, die als junge Frau in den Haushalt ihres Vormunds John Jarndyce aufgenommen wird. John Jarndyce hat ebenfalls die Vormundschaft über Ada Clare und Richard Carstone, die, ebenso wie ihr Vormund, in einen langwierigen Erbschaftsprozess verstrickt sind, der in gewisser Weise das Rückgrat der Erzählung bildet. Denn während der Roman die Geschichte Esthers entfaltet, begleitet er zugleich den moralischen und gesellschaftlichen Fall Richards, dem der schier endlose Prozess »Jarndyce kontra Jarndyce« langsam aber sicher zur fixen Idee und einzigen Lebensperspektive wird. Dickens nutzt diesen Erzählstrang zu einer sorgfältigen Satire des englischen Rechtswesens, in dem er selbst für einige Jahre als Rechtsanwalts-Gehilfe tätig gewesen war.

Der Gang der Handlung ist bei weitem zu komplex und vielfältig, um auch nur zu versuchen, hier eine Inhaltsangabe zu liefern. Neben den eindimensionalen und moralisch blitzsauberen Hauptfiguren tummeln sich zahlreiche skurrile und höchst reizvolle Nebenfiguren, so etwa der intrigante und kaltherzige Anwalt Tulkinghorn oder der hochnäsige und elitäre Sir Leicester Dedlock oder der joviale und zugleich unbestechliche Inspektor Bucket, um nur einige wenige als Beispiele zu nennen. Die Fülle der verwendeten Figuren bedingt eine hohe Komplexität der Handlung, die in zahlreichen Handlungssträngen zugleich vorangetrieben wird. Dabei erweist sich keiner der Stränge als rein dekorativ, sondern alle erfüllen eine genau bestimmte erzählerische Funktion. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat Arno Schmidts herzusetzen, das den Gesamteindruck des Buches sehr gut wiedergibt:

Es ist, allein was das ‹Gerüst› der Fabel, die Konstruktion im Großen wie im Kleinsten, anbelangt, von mathematischer Perfektion. Der bloße ‹Leser› merkt das, bewußt, zunächst überhaupt nicht; wogegen der Fachmann auf jeder der 1000 Seiten ein paarmal neidisch die Zähne aufeinandersetzen, und bewundernd die Luft einziehen muß. Es gibt in der ganzen Weltliteratur nur noch 3 oder 4 weitere, ähnlich umfangreiche Stücke, die derart ‹berechnet› wären, derart ‹aufgebaut›. / Vom ersten Satz an, wo Nebel und Dämmerung und die übliche unmenschliche Staats=Justiz=Maschinerie mit einander identifiziert werden, steht kein Wort, keine Episode mehr umsonst: nie sind Zufall – oder, wenn Sie so wollen, Notwendigkeit! – als so eisernes Netz über Menschen und Dinge gespannt worden. Scheinbar zufällige Nebensätzlichkeiten, Ausrufe, Einsilbiges aller Art: wirken sich im Lauf der Handlung aus. Scheinbar belanglose – nicht ‹Taten›, sondern Handgriffe! – führen maschinenhaft, 500 Seiten später, Verbrechen & Tod herbei, Glück oder Unglück Unbekannter, Nie=Gesehener, Nie=Bedachter.

Diese Durchkonstruiertheit des Buches, die sicherlich ein artistisches Glanzstück darstellt, ist zugleich sein wesentliches Manko, da es sich besonders gegen Ende hin in Auflösung und Zusammenführung der zahlreichen Stränge abarbeitet, dabei sogar kurz vor Ultimo noch einen Mordfall in die Handlung einbaut, um sie wenigstens noch ein bisschen spannend zu halten, so dass der geübte Leser dem Schmidtschen Wort »maschinenhaft« oft nur seufzend beipflichten kann. Natürlich stellt das Buch eine beeindruckende schriftstellerische Leistung dar, aber zu vieles bleibt letztlich leerlaufendes Räderwerk einer hybriden erzählerischen Konstruktion. Die Geschichte Esther Summersons bleibt flach – nicht umsonst ist das Buch inzwischen mehrfach mit großem Aufwand als Soap opera verfilmt worden – und vorhersehbar (wenn der Leser nicht immer wieder vergäße, um was es eigentlich geht), und der satirische Gehalt des Buches, der den Zeitgenossen Dickens wohl weit mehr Freude bereitet hat als uns, blitzt nur hier und da in der schieren Masse des Textes auf. Beeindruckend bleiben – wie so oft bei Dickens – einige Nebenfiguren und die Beschreibung des Elends und der Not in den Londoner Slums des 19. Jahrhunderts.

Charles Dickens: Bleakhaus. Aus dem Englischen von Gustav Meyrink. detebe 21166. Zürich: Diogenes Verlag, 1984 ff. 843 Seiten mit zahlreichen Druckfehlern. 14,90 €.

James Hamilton-Paterson: Kochen mit Fernet-Branca

hamilton-paterson Ein Buch mit zwei Ich-Erzählern als Protagonisten: Gerald, Engländer, der sein Geld als Ghostwriter für Sportstars verdient, und Marta, Staatsangehörige des fiktiven »Woinowien« (wahrscheinlich nach dem polnischen »Woiwod«, Herzog), eine junge Komponistin, gerade dabei einen Film-Score zu schreiben. Beide leben als Nachbarn in der Toskana und finden einander unerträglich. Der Leser kann sich in beide Meinungen leicht einfühlen. Beide zeichnen sich durch »tragische Dummheit« aus, wie der Autor Gerald während einer seiner zahlreichen unerträglichen Raunzerein einmal äußern lässt.

Das Buch weist über die erste Hälfte hin keinerlei erkennbares Thema auf. Da das auch dem Autor aufgefallen ist, versorgt er uns auf der Seite Geralds mit obskuren Kochrezepten und auf Martas mit der Geschichte ihrer Gangsterfamilie. Wenigstens das letztere zeigt im weiteren Gang der Handlung noch einige belanglose Konsequenzen. Ansonsten geistern noch Gerald nächster Kunde, ein zu verbiographierender Popstar, der vor Geralds endloser Arroganz am Ende doch noch Gnade findet, und Martas Auftraggeber, ein italienischer Regisseur, der gesellschaftskritische Pornos dreht. Er ist zwar als einzige Figur in der Lage, wenigstens ein annähernd menschliches Gespräch zu führen, quatscht am Ende aber auch bloß seitenweise Unfug über das Kino und die Gesellschaft daher, der wahrscheinlich witzig gemeint ist.

Klassischer Humor erschöpft sich in einigen bemühten Slapstick-Einlagen und einem zaghaften Versuch, eine Komödie der Irrungen zu starten, mit der der Autor aber gleich seine eigene Gangstergeschichte stört, weshalb er den Versuch nach wenigen Seiten durch eine umfassende Aufklärung abbricht. Ansonsten soll man es wohl lustig finden, dass wer schlecht Englisch spricht, an UFOs glaubt oder ständig im Hubschrauber ankommt und wegfliegt.

Insgesamt wohl ein Buch, das auf ein allgemeines Ressentiment der Leserschaft spekuliert, obwohl zu befürchten ist, dass der Autor dies teilt, es aber durch eine durchgängig ironische Erzählhaltung unkenntlich zu machen versucht. An einer Stelle fällt der Name Hegel und sticht so einsam aus dem ganzen unsäglichen Gequatsche heraus, dass er allein genügt klarzumachen, dass der Autor auch nicht den geringsten Schimmer hat, worüber er da eigentlich schreibt.

James Hamilton-Paterson: Kochen mit Fernet-Branca. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. btb 73565. Verlagsgr. Random House, 2007. 364 Seiten. 9,00 €.

Die Britannica lesen …

britannicaIn der westlichen Welt, dem Gebiet der sogenannten christlich-abendländischen Kultur wird man heute schon als Ausnahme-Erscheinung angesehen, wenn man die Bibel, das Buch der Bücher, komplett gelesen hat. Aber es gibt ein Buch, bei dem es noch weitaus ungewöhnlicher ist, es komplett gelesen zu haben: Die Enzyclopædia Britannica! Die Britannica oder die EB, wie Ihre Benutzer sie liebevoll abkürzen, ist das umfangreichste moderne Lexikon der westlichen Welt. Und sie ist nicht nur umfangreich, sie ist auch gut! Der amerikanische Journalist A. J. Jacobs hat es unternommen, die rund 33.000 Seiten der Britannica zu lesen. Und er hat ein Buch darüber geschrieben! Nun wird manch einer denken, was soll schon dabei herauskommen, wenn einer über eine so langweilige Sache wie das Lesen eines Lexikons ein Buch schreibt. Sie werden sich wundern, was für ein erstaunlich lebendiges und witziges Buch dabei herausgekommen ist!

Die Geschichte, die Jacobs von seiner Lektüre erzählt, ist von Anfang an eine sehr persönliche: Er versucht nämlich mit seiner Lektüre der Britannica seinen Vater zu übertreffen, einen erfolgreichen Anwalt, der auch einmal damit begonnen hatte, die EB zu lesen, aber früh schon stecken geblieben war. Außerdem versuchen Jacobs und seine Frau seit einiger Zeit ein Kind zu bekommen und angesichts der von seinem Sprößling zukünftig zu erwartenden Fragen will Jacobs dringend etwas für seine Bildung tun. Er arbeitet als Journalist beim New Yorker Magazin »Esquire«, und wie viele Menschen fürchtet er, langsam zu verblöden, nachdem er mit dem aktiven Lernen aufgehört hat. Und last not least will er mit seinem neu erworbenen Wissen auch ein wenig angeben und auftrumpfen – aber das legt sich mit der Zeit.

All dies führt dazu, dass er sich die aktuelle Ausgabe der EB (2002) bestellt und einfach bei A mit dem Lesen beginnt. Dazu muss man denjenigen, die nie in die EB hineingeschaut haben, erklären, dass die EB grob gesprochen in zwei Teile gegliedert ist (eigentlich sind es mehr, aber das soll uns hier nicht interessieren): Von den 29 Lexikon-Bänden sind nur die ersten zwölf so aufgebaut, wie man es von einem »normalen« Lexikon kennt: Viele Stichwörter und zu jedem eine mehr oder weniger kurze Erklärung, eventuell einige Hinweise zur weiteren Lektüre – fertig, nächstes Stichwort. Diese Bände 1–12 heißen Micropædia, durchlaufen das gesamte Alphabet und umfassen gut 13.000 Seiten. Auf sie folgen 17 weitere Bände (13–29), die Macropædia, etwa 20.000 Seiten (jede Seite der Britannica umfasst dabei den Text von mehr als vier (!) Schreibmaschinenseiten), die nur durch etwa 600 Stichwörter gegliedert sind. Zu jedem dieser Stichwörter bietet die Macropædia einen umfassenden Einführungstext. Um das in diesen umfangreichen Texten enthaltene Wissen sinnvoll aufzuschlüsseln, verfügt die EB über zwei zusätzliche Indexbände.

Durch diesen Aufbau ist die EB wie kein anderes Lexikon für eine vollständige Lektüre geeignet, denn die Nutzer bekommen in der Macropædia große Wissensgebiete in systematischer Darstellung präsentiert. Und so liest Jacobs sich durch beide Teile der EB zugleich, immer dem Alphabet folgend. Das Glück für die Leser des Buches ist nun, dass Jacobs ein witziger Kopf ist, der uns nicht nur an ausgewählten Stichwörtern seiner 15 Monate dauernden Wissens-Odysee teilnehmen lässt, sondern der uns auch erzählt, wie seine Frau, seine Verwandten und Bekannten, nicht zuletzt seine Kollegen auf sein Projekt reagieren, wie ihn das Wissen verändert, was ihn betroffen macht, was ihm merkwürdig vorkommt usw. usf. Jacobs kümmert sich überhaupt um die Kultur und den Kult der Information: Er interviewed den Moderator von »Jeopardy!« und wird Kandidat beim amerikanischen »Wer wird Millionär?«, nur um an der 32.000-$-Frage zu scheitern, weil sein Gedächtnis und sein »allwissender« Telefonjoker versagen. Und schließlich besucht er die Redaktion der Britannica in Chicago und macht unmittelbare Bekanntschaft mit der mühsamen Arbeit der Lexikon-Recherche.

Und nebenher versöhnt er sich mit seinem Vater, zeugt mit seiner Frau endlich ein Kind, lernt lauter Sachen, die er vorher nicht wusste, erinnert sich an Dinge und Zusammenhänge, die er schon einmal vergessen hatte, und behält zugleich seine Distanz zu all dem, was er da liest. Mit der Zeit kennt er den Jargon der Britannica und benennt ihn auch, er lernt ihre Vorlieben und Idiosynkrasien (gleich mal im Lexikon nachschlagen, was das nun wieder bedeutet!) erkennen, schärft seinen Blick für Skuriles, Absurdes und Erschreckendes. Und das wichtigste: Er hält durch! Nach 15 Monaten kommt er tatsächlich beim Stichwort »Żywiec« an und hat es geschafft. Er gibt zu, nicht jedes Wort und nicht jede Seite stets mit der gleichen Aufmerksamkeit studiert zu haben, aber er hat alle Seiten gelesen. Was er tatsächlich davon behalten hat und wird, wird keiner – auch er selbst nicht – jemals wirklich wissen.

Das Buch ist vom Verlag List sorgfältig und liebevoll ausgestattet worden: Es hat einen Goldschnitt (sogar an allen drei Schnitten, wo sich die EB mit einem vergoldeten Kopfschnitt begnügt), ein Lesebändchen, trägt das Markenzeichen der EB, die schottische Distel, auf dem Umschlag und am Fuß jeder Seite, hat lebende Kolumnentitel, die das jeweilige Stichwort, bei dem man sich gerade befindet, anführen und – natürlich! – ein Register. Einzig Kunstledereinband und Fadenheftung fehlen, aber die hätten das Buch nur unvernünftig teuer gemacht. Ein Reiseabenteuer durch die Wissenskreise, eine äußerst vergnügliche und intelligente Unterhaltung zwischen Sachbuch und Autobiographie. Ich habe mich lange nicht mehr so vergnügt mit einem Buch unterhalten!

A. J. Jacobs: Britannica & ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. List, 2006. Pappband mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 427 Seiten. 19,95 €.

Richard P. Feynman: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!«

121017247_b1fcf96245Eine anekdotische Lebensgeschichte Feynmans, von ihm selbst erzählt. Seine wissenschaftliche Karriere kommt natürlich auch vor, aber eher in den äußerlichen Umständen, weniger in den zahlreichen herausragenden Entdeckungen, die Feynman im Verlauf seines Lebens gemacht hat. Das Buch ist amüsant, hier und da etwas selbstgefällig, was mich aber nicht wirklich gestört hat, eine nette Lektüre. Feymans Leben erweist sich als äußerst vielfältig und reichhaltig: Schon früh autodidaktisch an Mathematik interessiert, beschäftigt er sich mit allen drei großen Naturwissenschaften, studiert nicht nur Physik, sondern hospitiert auch in der Chemie und Biologie, und landet schließlich als Theoretiker im Team um Oppenheimer in Los Alamos. Dort betätigt er sich umfänglich als Safeknacker – auch dies hauptsächlich Zeugnis seiner unstillbaren, eigenwilligen Neugier, die ihn dazu geführt hat, sich im Laufe seines Lebens mit sehr unterschiedlichen Themen zu beschäftigen. Feynman ist dabei von erfrischender Offenheit und Ehrlichkeit, zögert auch nicht, die Grenzen seines Verständnisses sichtbar werden zu lassen.

Was man bedauern könnte, ist, dass Feynman mit allem was er erzählt, den Bereich des Privaten kaum verlässt: Politik und erfahrene Historie kommen so gut wie gar nicht vor, Begegnungen mit anderen Physikern nur am Rande etc. Man sollte also keine »Erinnerungen« oder »Bekenntnisse« in diesem Band voller »Abenteuer« erwarten.

Feynmans Anekdotensammlung ist ganz unabhängig davon, ob man sich für Physik oder die Naturwissenschaften überhaupt interessiert, eine sehr kurzweilige, wenn auch letztendlich etwas belanglose Lektüre.

Feynman, Richard P.: »Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!« Abenteuer eines neugierigen Physikers. Aus dem Amerikanischen von Hans-Joachim Metzger.
Piper, Sonderausgabe 2005. ISBN 3-492-04726-2
Gebunden – 464 Seiten – 14,90 Eur[D]