Das Unheil, das in den Kulissen wartet

everymanSpätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.

Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.

Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.

Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.

Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.

Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.

Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«

Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

lolita

Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.

Den großen Wal auf die Ohren!

Herman Melvilles großer Roman »Moby-Dick« (nur echt mit dem Bindestrich!) ist ein ungeheuerliches Buch – aber darüber mehr bei anderer Gelegenheit. Der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen hat die Mühe auf sich genommen, diesen Roman kongenial ins Deutsche zu übertragen. Nun erscheint die komplette Übersetzung auch als mp3-Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

»Moby-Dick« ist ein dickes und oft überwältigendes Werk. Viele Leser werden es bloß aus einer der zahlreichen »Bearbeitungen für die heranwachsende Jugend« kennen, die versuchen, das Buch zu zähmen und auf die Abenteuer-Handlung zu reduzieren. Wenn man sich aber die Mühe macht, einmal nachzusehen, was Melville tatsächlich geschrieben hat, so entdeckt man einen wilden, zerklüfteten Text mit einer rauhen Sprache, die wechselhaft ist wie die See, von der er so viel erzählt.

Den Deutschen ist dieses Buch in seiner ganzen Fülle lange Zeit vorenthalten worden, weil alle älteren Übersetzungen versucht haben, den Text zu glätten und damit leichter lesbar zu machen. Nun sind aber in jüngster Zeit gleich zwei neue Übersetzungen erschienen – wobei das Kuriose darin besteht, dass eine der beiden Übersetzungen sogar die andere zugrunde legt – die beide von sich selbst behaupten, das Buch getreu ins Deutsch zu übertragen. Die grundlegende Übersetzung stammt von Friedhelm Rathjen und ist im Jahr 2004 bei 2001 erschienen. Diese Übersetzung ist der bislang kompromissloseste Versuch, aus Moby Dick einen deutschen Wal zu machen und wird für lange Zeit die deutsche Übersetzung bleiben.

Wem die Lektüre eines Romans von über 800 Seiten zu anstrengend ist oder wer einfach lieber hört als liest, hat jetzt die Gelegenheit, sich dieses Stück Weltliteratur in einer hervorragenden Einspielung anzuhören: Christian Brückner hat die komplette Rathjensche Übersetzung vorgelesen und 2001 bietet diese Lesung als mp3-Hörbuch auf zwei CDs für 39,90 € an. Umgerechnet auf die ca. 30 Stunden Hörgenuss sind das nur etwas mehr als 2 Cent pro Minute. Das kann sich doch hören lassen, oder?

John Steinbeck: Tortilla Flat

106060846_41dd06354eEin immer noch ganz wundersames Buch, das wahrscheinlich von den meisten Lesern literarisch unterschätzt wird, weil es sich so angenehm und amüsant liest. Tatsächlich steckt es voller literarischer Bezüge und Parodien: Nicht nur ist es eine subtile Satire auf die europäische Adelsgesellschaft, sondern Steinbeck parallelisiert seinen Gruppe von Tagedieben ganz bewußt mit Artus und seiner Tafelrunde, die im Gegenzug als edle Räuberbande erscheinen. Außerdem steckt natürlich ein gerüttelt Maß an »Don Quixote« im Buch und zugleich auch viel vom »Lazarillo« und seinen Brüdern. Steinbeck erweist sich bei näherer Betrachtung als ein Autor mit gewichtigen literarischen Wurzeln. Dass er aus diesen Wurzeln eine so eingängige Kunst herauszutreiben versteht, zeichnet ihn umso mehr aus.

Auch dieses Buch ist wie »Von Mäusen und Menschen« noch in der schlechten Übersetzung von Elisabeth Rotten im Handel. Es ist zu hoffen, dass die Reihe der Steinbeck-Neuübersetzungen im Zsolnay Verlag auch diese Ausgabe bald ersetzt.

Steinbeck, John: Tortilla Flat. Deutsch von Elisabeth Rotten.
Roman
dtv. ISBN 3-423-10764-2
Kartoniert – 176 Seiten – 7,50 Eur[D]

John Steinbeck: Von Mäusen und Menschen

84998200_1985ed1e21Das Buch selbst ist ein Klassiker und gehört für zahlreiche deutsche Leser dem Kanon ihrer Schullektüre im Englischunterricht an. Der Text kommt dem Verständnis entgegen durch seine klaren intentionalen Strukturen, seine theatralische Form und seine bewusst einfache Sprache (sieht man einmal von den eventuellen Schwierigkeiten deutscher Leser mit der von Steinbeck phonetisch abgebildeten Alltagssprache ab) und ist daher für eine schulische Lektüre gut geeignet.

Es ist allerdings aus dem gleichen Grund unverständlich, dass gerade diese Übersetzung aus dem Jahr 1940 durch Elisabeth Rotten noch immer lieferbar ist. Ohne der Übersetzerin einen Vorwurf machen zu wollen, besonders da mir die näheren Umstände, unter denen sie gearbeitet hat, nicht bekannt sind, muss man feststellen, dass ihre Übertragung eine mittlere Katastrophe darstellt. Nicht nur trifft Rottens besserwisserische Übersetzungsmethode Steinbecks Ton höchstens einmal zufällig, ihr Vokabular ist gänzlich unzureichend, viele idiomatische Phrasen sind ihr unbekannt und werden daher aufs Geratewohl übertragen und hier und da läßt sie ganze Sätze oder Satzteile einfach aus, ohne dass dafür andere Gründe als Flüchtigkeit erkennbar wären. Warum dtv diese Version des Textes immer noch im Druck hält, wird noch unverständlicher durch die Tatsache, dass mit der Neuübersetzung von Mirjam Pressler eine um Klassen bessere Alternative im selben Verlag vorliegt, wenn sie auch deutlich teuer ist als die alte Ausgabe.

Steinbeck, John: Von Mäusen und Menschen. Deutsch von Elisabeth Rotten.
dtv, 1987. ISBN 3-423-10797-9
Kartoniert – 120 Seiten – 6,00 Eur[D]

Empfohlene Ausgabe:
Steinbeck, John: Von Mäusen und Menschen
Deutsch von Mirjam Pressler
dtv, 2002. ISBN 3-423-62072-2
Kartoniert – 144 Seiten – 7,50 Eur[D]