Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer

Ich-Erzählung eines indischen Halbjuden, der in den spanischen Alpujarras in Gefangenschaft sitzt und genötigt wird, die Geschichte aufzuschreiben. In der ersten Hälfte ist das Buch eine Variation auf den Familienroman, vielleicht eine direkte Reaktion auf Vikram Seths Eine gute Partie, vielleicht auch auf ein anderes Werk der anglo-indischen Literatur. Nach der Geburt des Erzählers verliert das Buch rasch an Form und nähert sich für eine Weile der Tradition des picarischen Romans an, wird dann zu einer Variation des Mafia-Romans, um schließlich ins Traum- und Alptraumhafte abzuschweifen. Ganz zum Schluss soll die Mär von der Gefangenschaft des Erzählers, der nach einem alten literarischen Muster durchs Erzählen sein Leben erhält, die allgemeine Formlosigkeit und Beliebigkeit des Romans rechtfertigen.

Das Buch ist reich an motivischen Einfällen und lebt von der Reichhaltigkeit seines Personals. Einzelne Motive sind überzeugend durchgeführt, so die Familienlegende von der Abkunft des Erzählers einerseits von Vasco da Gama und andererseits von Muhammad XII., dem letzten arabischen Herrscher Granadas. Andere Motive erscheinen eher willkürlich, was aber auch daran liegen kann, dass ich die entsprechenden literarischen Quellen Rushdies nicht kenne. Für einen in der anglo-indischen Literatur eher nur mäßig Bewanderten ist vieles nicht exakt einzuordnen. Insgesamt war die zweite Hälfte des Romans eine ermüdende Lektüre für mich. Auch sekundär erarbeitete Zusammenhänge mit der Nachkriegsgeschichte Indiens und speziell Bombays machten das Buch für mich nicht spannender, weil mir die entsprechenden historischen Vorgänge nicht vertraut genug wurden. Aber da gehöre ich wohl einfach nicht in die Zielgruppe des Autors.

Der durchgängig phantastische Ton des Romans, der besonders auch gegen Ende recht volle Töne erzeugt, trägt das Buch nicht wirklich – dafür ist es einfach zu lang geraten. Natürlich begründet sich die Länge des Buches aus der oben schon angeführten existentiellen Situation des Erzählers, der um sein Leben schreibt. Interessant wäre es vielleicht, diese Struktur auf das Leben des Autors zurückzuprojizieren: Rushdie befand sich in einem gewissen Sinne in der Zeit der Bedrohung durch die Fatwa in einer ähnlichen Lage wie der, in der sein Protagonist um sein Leben schreibt. Hier ist biographisch sicherlich noch einiges zu heben.

Ein eher anstrengendes Buch, das in einigen Passagen zur »Pflichtlektüre« geriet.

Salman Rushdie: Des Mauren letzter Seufzer. Aus dem Englischen von Gisela Stege. rororo 24121. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006. 619 Seiten. 9,90 €.

P.G. Wodehouse: Monty im Glück

wodehouse-monty- Dieser humoristische Roman von P.G. Wodehouse stammt aus dem Jahr 1935 und liegt hier in der deutschen Erstübersetzung vor. Über Wodehouse im Allgemeinen und die in der Edition Epoca vorliegenden Übersetzungen durch Thomas Schlachter habe ich anlässlich von »Onkel Dynamit« schon einiges geschrieben, das nicht wiederholt zu werden braucht. »Monty im Glück« (»The Luck of the Bodkins«) ist nach »Heavy Weather« der zweite Roman von Wodehouse, in dem Montague »Monty« Bodkin als Protagonist auftritt. Monty gehört in das Umfeld des Londoner Drones Clubs, in dem, neben anderen, auch Wodehouse’ bekannteste Figur Bertie Wooster und Pongo Twistleton (vgl. »Onkel Dynamit«) Mitglieder sind.

»Monty im Glück« spielt aber in der Hauptsache weit entfernt von London, nämlich auf der Überfahrt des Passagierschiffs R.M.S. Atlantic von Europa nach New York. Monty nimmt an der Überfahrt nicht teil, weil er nach Amerika will, sondern ausschließlich, weil sich seine Verlobte Gertrude Butterwick auf dem Schiff befindet, die als Mitglied der englischen Damenhockey-Nationalmannschaft auf dem Weg in die Vereinigten Staaten ist.

Gertrude hat Monty kurz vor Abfahrt des Schiffes aus für ihn vorerst unerfindlichen Gründen die Verlobung aufgekündigt, womit Monty durchaus nicht einverstanden ist. Es stellt sich auch nur zu bald heraus, dass alles auf einem Missverständnis beruht, und die Verlobung ist rasch wiederhergestellt. Könnte sich Monty nun in aller Stille entfernen, hätte das Buch ein vorzeitiges Ende gefunden, aber durch die gemeinsame Überfahrt für sechs Tage auf engstem gesellschaftlichen Raum aneinander gefesselt, findet Gertrude problemlos weitere Anlässe für immer erneute Auflösungen des Verlöbnisses, wobei sich die Lage von Mal zu Mal zu dramatisiert. Der allzu ängstliche Leser darf sich aber angesichts des Titels über den letztendlichen Ausgang beruhigen. Auch für die Brüder Reginald und Ambrose Tennyson, seines Zeichens minder begabter Schriftsteller, der irrtümlich für Alfred, Lord Tennyson gehalten wird, die sich um Mabel Spence, die Schwägerin des Filmmoguls Ivor Llewellyn, der von seiner Gattin genötigt wird, ein Perlenkollier am US-amerikanischen Zoll vorbeizuschmuggeln, bzw. um die Schauspielerin Lottie Blossom bemühen, geht die Geschichte letztlich gut aus, ganz zu schweigen von Albert Peasemarch. (Dieser Satz wurde in der Absicht konstruiert, die Schlichtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen dieses Romans aufscheinen zu lassen.) Mit anderen Worten:

Männer sind in dieser Beziehung einfach goldig. Man kann sie wie den letzten Dreck behandeln, doch wenn’s auf die Schlußumarmung mit Abblende zugeht, ist auf ihre putzmuntere Präsenz Verlaß.

»Monty im Glück« zeigt Wodehouse einmal mehr als brillanten Konstrukteur von Komödien auf abgezirkeltem Raum und mit klar begrenztem Personal. Auch dieser Roman könnte, so wie er ist, als Vorlage für eine klassische Screwball-Komödie dienen. Alle Konflikte, Wendungen und Irrungen sind von langer Hand vorbereitet und bedingen einander mustergültig. Alle eingeführten Figuren verfolgen ihre eigenen Absichten und tragen zugleich zur Verwirrung des großen Ganzen bei, und je besser ein Plan zur Lösung eines Konflikts ausgedacht ist, desto sicherer erzeugt er die nächste Stufe des Chaos. Und ganz en passant stellt Wodehouse auch hier wieder seine Meisterschaft des ebenso lakonischen wie pointierten Dialogs unter Beweis:

»Ich könnte einfach nicht schauspielern. Ich käme mir furchtbar bescheuert vor.«
»Tun Sie das nicht ohnehin?«
»Doch, aber nicht auf diese Art.«

Ein Buch für alle, die gut geschriebene Unterhaltung zu schätzen wissen.

P.G. Wodehouse: »Monty im Glück«. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2005. Pappband, Fadenheftung, 351 Seiten. 22,90 €.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit

wodehouse-onkeldynamit Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.

In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.

Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:

Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.

Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.

Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.

Lushins Verteidigung / The Luzhin Defence

lushinsVladimir Nabokovs Roman über einen langsam dem Wahnsinn verfallenden Großmeister gehört unfraglich zum Besten, was über Schachspieler je geschrieben worden ist. Er überragt turmhoch – man verzeihe den faden Wortwitz – etwa die unverständlicherweise allgemein hochgeschätzte »Schachnovelle« Stefan Zweigs, die nicht nur vor faktischen, sondern auch vor psychologischen Unwahrscheinlichkeiten strotzt. Das liegt sicherlich auch daran, dass Nabokov selbst ein starker Schachspieler und ein Problemkomponist von einiger Bedeutung war.

Alexander Iwanowitsch Lushin – seinen Vor- und Vatersnamen erfahren wir erst auf der letzten Seite des Buches – ist ein gelangweiltes und träges Kind, das einzige aus einer nicht sehr glücklichen Petersburger Ehe. Lushin geht ungern zur Schule, hat keine Freunde und findet an nichts so recht gefallen, bis er als Zwölfjähriger das Schachspielen erlernt, das nun seine einzige Leidenschaft und der Fluchtpunkt seiner Existenz wird. Er macht in kurzer Zeit ungeheuerliche Fortschritte und durchreist bald zusammen mit seinem Vater und dem Impressario Walentinow als Schach-Wunderkind Europa.

Die Haupthandlung des Romans setzt im Jahr 1928 ein. Lushin befindet sich zur Erholung und zur Vorbereitung eines Berliner Turniers in einem Kurort, in dem er bereits als Kind einmal in einem bedeutenden Turnier Dritter geworden ist. Dort lernt der kontaktscheue Mann eine junge Frau kennen, die wie er aus Russland stammt und mit ihren wohlhabenden Eltern in Berlin im Exil lebt. Lushin macht Eindruck auf die junge Frau und aus einer Mischung von Faszination, Neugier und Mitleid heraus befreundet sich mit ihm. Lushin weiß sich gegen den plötzlichen nahen Umgang mit einer Frau nicht anders zu wehren, als ihr einen Heiratsantrag zu machen. Der Antrag bleibt vorerst unentschieden, auch weil die Mutter der Braut von Lushin alles andere als angetan ist.

Lushin reist nach Berlin ab, um dort das Turnier zu spielen. Wenig später kommen seine zukünftige Gattin und Schwiegermutter auch zurück nach Berlin, und Lushin verkehrt nun täglich in ihrem Haus. Das Turnier entwickelt sich dramatisch, und je weiter es fortschreitet, desto weniger vermag Lushin sich vom Spiel gedanklich zu lösen. Schließlich erleidet er während der entscheidenden Partie des Turniers einen kompletten nervlichen Zusammenbruch.

Nun übernimmt seine Verlobte das Ruder: Sie kümmert sich um seine Genesung, setzt die Hochzeit bei ihren Eltern durch und sorgt dafür, dass Lushin ein neues Leben fern vom Schachspiel beginnt. Aber das gelingt nur scheinbar: Langsam aber sicher kehren für Lushin die alten Denkmuster zurück, nur dass er sich diesmal selbst in eine gegen ihn geführte Schachpartie versetzt fühlt, in der er zugleich eine der Figuren ist. Er verliert zunehmend den Kontakt zur Realität und als schließlich auch noch sein alter Impressario Walentinow wieder auftaucht, sieht Lushin nur noch einen Ausweg aus der verfahrenen Partie seines Lebens.

Der Roman gehört noch in die russische Phase Nabokovs: Er ist 1929 in drei Fortsetzungen in einer russischen Exil-Literaturzeitschrift in Paris und ein Jahr später als Buch erschienen. Wie viele andere seiner Texten hat Nabokov auch diesen Roman selbst ins Englische übersetzt, dabei aber kaum Änderungen vorgenommen. Die deutsche Übersetzung stellt eine kleine Hybridfassung der russischen und englischen Versionen her, indem es der jeweils differenzierteren Textvariante folgt. Zum Beispiel siezen sich Lushin und seine Frau in der deutschen wie der russischen Fassung bis zum Ende, während diese Differenz in der englischen Übersetzung aus offensichtlichen Gründen entfallen musste.

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luzhindefence»Lushins Verteidigung« gehört zu jenen Büchern Nabokovs, die verfilmt wurden: »The Luzhin Defence« von Marleen Gorris aus dem Jahr 2000 illustriert die Geschichte mit den beiden Hauptdarstellern John Turturro und Emily Watson. Man muss dem Film dabei zugute halten, dass er mit einigen Details des Romans sehr sorgfältig und liebevoll umgeht; andere werden vereinfacht oder den Bedürfnissen des Films angepasst, ohne dabei im wesentlichen den »Geist« des Buches zu stören. Andererseits finden sich auch deutliche Eingriffe: Natürlich wurde der Ablauf der Handlung gerafft; die ganze Geschichte spielt sich nun in dem Kurbad ab, das offensichtlich an den Comer See verlegt wurde. Valentinov (Stuart Wilson) bekommt eine größere und aktivere Rolle zugeschrieben: Er ist nicht nur der endgültige Auslöser von Luzhins Wahn, sondern treibt ihn aus (nur schlecht motivierter) Rachsucht systematisch in die Krise hinein, die zum Zusammenbruch führt. Wesentlich verändert wird auch die Figur von Luzhins Frau – im Roman hat sie gar keinen eigenen Namen, was in einem Film zu umständlichsten Konstruktionen führen würde, weshalb sie hier Natalia Katkov heißt –, die im Film zu einer emanzipierten und nach Unabhängigkeit strebenden jungen Frau umgestaltet wird, die mit den gesellschaftlichen Usancen ihrer Mutter wenig anfangen kann und von Luzhin fasziniert ist, weil er weitgehend außerhalb gesellschaftlicher Konventionen lebt. Schließlich könnte man sich noch fragen, ob es eine glückliche Entscheidung ist, den dicken und kurzatmigen Luzhin Nabokovs mit dem hageren John Turturro zu besetzen, aber die Figur gewinnt durch dessen Schauspielkunst wahrscheinlich mehr als sie durch den körperlichen Unterschied verliert.

Woran aber die meisten Filme, in denen Schach und Schachspieler vorkommen, kranken, ist die gänzlich unrealistische und unprofessionelle Art und Weise, das Spiel darzustellen. Davor wollte man bei diesem Projekt wohl gefeit sein, und so hat man mit Jonathan Speelman einen der führenden englischen Großmeister als technischen Berater eingekauft. Letztlich genützt hat es aber auch hier nicht. Zwar muss man einräumen, dass die Turnierspieler hier wenigstens nicht »Schach« und »Schachmatt« rufen oder mit eindringlich-unheimlichem Blick auf den Gegner den entscheidenden Zug ausführen. Auch hat das Art Department ganze Arbeit geleistet und mit den Figuren der Players Series des House of Staunton ästhetisch eine ausgezeichnete Wahl getroffen; auch die verwendete Schachuhr passt genau in die Epoche. Und das ewige Königumlegen zum Zeichen des Aufgebens mag man noch als »notwendige Visualisierung« durchgehen lassen. Aber mehr Positives lässt sich kaum noch anführen.

Dem stehen schwerwiegende Fehler gegenüber: So präsentiert uns der Film zum Beispiel einige Kombinationen Luzhins, darunter auch zwei aus dem Turnier, das im Zentrum des Films steht. Die erste Kombination ist der Partie Vidmar–Euwe, Karlsbad 1929, entnommen.

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Weiß am Zug

Vidmar, einen Zug vor dem Matt stehend, ließ hier folgende brillante Kombination vom Stapel: 34.Te8+ Lf8 (das Ausweichen 34…Kh7 verliert nach 35.Dd3+ den Turm und die Partie) 35.Txf8+ Kxf8 36.Sf5+.

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An dieser Stelle gab Euwe auf; der Film nimmt Rücksicht auf die Zuschauer und zeigt auch das Ende der Kombination: 36…Kg8 (36…Ke8 37.De7#) 37.Df8+ Kxf8 (37…Kh7 38.Dg7#) 38.Td8#.

So weit, so gut. Nur passierte dem Filmteam beim Aufstellen der Figuren ein kleiner, verhängnisvoller Fehler, der die ganze Wirkung zunichte macht: Der schwarze Turm wurde nicht auf c2 platziert, sondern auf c1, und das mit schrecklichen Folgen!

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Nicht nur könnte Weiß hier mit dem einfachen Zug Txc1 die Partie für sich entscheiden, sondern noch schlimmer ist, dass Vidmars Kombination in dieser Stellung überhaupt nicht funktioniert, da nach dem einleitenden Zug 34.Te8+ der weiße Turm auf d1 gefesselt ist und daher nicht das abschließende Matt auf d8 geben kann.

Sie gingen auch ins Theater und in den Zoo und ins Kino, wobei sich herausstellte, daß Lushin noch nie im Kino gewesen war. Unter weißem Geflimmer liefen die Bilder vorüber, und nach vielen Abenteuern kehrte die Tochter – nun eine berühmte Schauspielerin – in ihr Elternhaus zurück, blieb in der Tür stehen, während in der Stube ihr ergrauter Vater mit dem Arzt, einem treuen Freund des Hauses, der sich in all den Jahren überhaupt nicht verändert hatte, Schach spielte und sie noch nicht sah. Plötzlich lachte Lushin in der Dunkelheit auf. «Eine völlig unmögliche Figurenstellung», sagte er […].

«Sehr, sehr gut, dieser Film.» Er dachte noch etwas nach und fügte hinzu: «Aber vom Spielen haben sie keine Ahnung.» – «Wie meinen Sie das, sie haben keine Ahnung?» fragte seine Frau überrascht. «Die Schauspieler waren doch erstklassig.» Lushin schaute sie von der Seite an und wandte den Blick sogleich wieder ab […].

Aber es kommt noch ärger. Die Abbruchstellung der Partie Turati–Luzhin, nach der Luzhin schließlich zusammenbricht, sieht wie folgt aus:

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Schwarz am Zug

Diese Stellung wird im Film von Valentinov wie folgt eingeschätzt: Schwarz könne zwar unmittelbar einen Offizier zurückgewinnen, sähe sich danach aber einem unangenehmen Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern gegenüber. Diese Einschätzung basiert etwa auf der folgenden, leicht zu sehenden Zugfolge: 43…Te3+ 44.Kg4 (44.Kf2 ist natürlich ein schwerer Fehler, da nach 44…Txc3+ nicht nur der Springer, sondern auch der weiße Turm verloren wäre) Ld4 45.Lxa6 Txc3 46.Txc3 Lx3 und Weiß hat aufgrund der verbundenen Freibauern am Damenflügel als einziger noch Gewinnaussichten. Allerdings ist in der Stellung eine Mattkombination versteckt, die Luzhin kurz vor seinem Zusammenbruch entdeckt und aufschreibt: 43…Te3+ 44.Kg4 f5+ 45.Kg5 Kg7 (droht 46…Le7#) 46.Sd5 Th3!! 47.gxh3 h6+ 48.Kh4 Lf2#.

Das ist alles fein ausgedacht und die Kombination – immerhin ein Matt in 5, für das ich kein Vorbild habe finden können – ist mit ihrem Schlüsselzug 46…Th3!! wirklich nicht leicht zu sehen. Es scheint, dass Speelman gute Arbeit geleistet hat. Was aber macht nun der Film daraus? Unzufrieden mit dem tragischen Ausgang des Romans wird uns folgender Wurmfortsatz präsentiert: Beim Packen von Luzhins Sachen findet Natalia den Notizzettel mit der Kombination. Sie lässt sich von einem Bekannten – Jean de Stassard (Christopher Thompson), der zuvor als mäßiger Schachspieler und potentieller Ehekandidat eingeführt worden ist – die Notizen erklären, und dann findet das Unglaubliche statt (wofür Speelman natürlich gar nichts kann): Natalia setzt mit Luzhins Zettel in der Hand die Partie gegen Turati fort, und Luzhin gewinnt auf diese Weise postum das Turnier, das, um allem die Krone aufzusetzen, auch noch eine Weltmeisterschaft darstellen soll. Ein solch blödsinniger Kitsch ist in einem Schachfilm schon lange nicht mehr produziert worden, und die einzige Hoffnung ist, dass Nabokov sich inzwischen so oft im Grabe hat herumdrehen müssen, dass er jetzt wieder richtig liegt.

Abschließend sollte noch erwähnt werden, dass die derzeit einzige Region-2-DVD nur eine 4:3-Letterbox-Version des Films ausschließlich in Englisch präsentiert. Die Extras sind kaum erwähnenswert.

Vladimir Nabokov: Lushins Verteidigung. Deutsch v. Dietmar Schulte, berarb. v. Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch 22550. 318 Seiten. 8,90 €.

The Luzhin Defence. UK/Frankreich, 2000. Entertainment in Video. Import-DVD (Region 2). Länge ca. 104 Minuten. Sprache: Englisch. Extras: Trailer; Featurette (ca. 4 Minuten!). Ca. 10,– €.

Der Schatten des Windes

zafonIch habe seit langer Zeit keinen Roman dieser Art mehr gelesen, das heißt einen, der nicht mehr will, als eine spannende, geheimnisvolle Geschichte vor einem vagen historischen Hintergrund zu erzählen. Präsentiert wird eine doppelte Biographie: Die Daniel Semperes, Sohn eines Antiquars in Barcelona, der als Zehnjähriger von seinem Vater in ein Geheimnis eingeweiht wird. Sie besuchen zusammen eine verborgene Bibliothek, voller vergessener – weil unter der Franco-Diktatur verbotener – Bücher, und Daniel darf sich ein Buch mitnehmen, um es zu adoptieren und dafür zu sorgen, dass es nicht endgültig verschwindet. Zufällig wählt er den Roman »Der Schatten des Windes« von einem beinahe verschwundenen Autor namens Julián Carax aus, an dessen Biographie sich Daniels weiteres Leben erstaunlich eng anschließen wird. In der nun bald über ihn hereinbrechenden Pubertät werden der Roman und sein verschollener Autor bald zu einer Obsession Daniels, nurmehr übertroffen von seiner Liebe zu Bea Agiular. Er stört durch seine Nachforschungen bald allerlei Geheimnisse auf und verstrickt sich in einer alten tragischen und hasserfüllten Rachegeschichte.

Das Buch ist routiniert geschrieben und zeugt von der erzählerischen Potenz Zafóns. Es spielt souverän mit Mustern des Detektiv- und des Schauerromans, verfügt über eine gelinde Breite sprachlicher Stile und hat sogar Humor. Ansonsten ist es flach wie ein Bügelbrett und verfügt in etwa über den Tiefgang eines Suppentellers. Das überzuckerte Ende ist zwar schwer erträglich, doch abgesehen davon bietet das Buch eine »rattling good story« und stellt wohl das dar, was Leser gemeinhin eine Urlaubslektüre nennen.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. st 3800. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2005. Broschur, 563 Seiten. 9,90 €.

No monkey business

dewaalFrans de Waal schreibt seit 15 Jahren Bestseller über Menschenaffen. Das liegt in erste Linie an seinem Talent, komplexe Zusammenhänge in einer klaren und auch dem Laien verständlichen Art und Weise darzustellen. Wie abstrakt auch immer sein Thema zu sein scheint, ihm gelingt es scheinbar mühelos, es mit einer passenden Geschichte aus seinem lebenslangen Umgang mit Primaten und anderen Affen zu illustrieren, ohne die Problemlage zu simplifizieren. Frans de Waal ist ein Erzähler, der in jedem Fall seiner Erfahrung mehr vertraut als jeder noch so ausgefeilten Theorie. In seinem neuen Buch stehen gleich drei Primatenarten im Zentrum seines Interesses: Schimpanse, Bonobo und Mensch.

In »Der Affe in uns« (»Our Inner Ape«) beschäftigt sich de Waal weit stärker als in den vorangegangenen Büchern (»Wilde Diplomaten«, »Der gute Affe«, »Der Affe und der Sushi-Meister«) außer mit Schimpansen und Bonobos auch mit dem Menschen. Ausgehend von den Versuchen anderer Primatologen und Verhaltensforscher, den Menschen durch Vergleiche mit seinen nächsten evolutionären Verwandten zu begreifen und einzuordnen, entwickelt »Der Affe in uns« eine Position, die die Menschen in einer doppelten Perspektive in das Kontinuum der Primaten einzugliedern versucht. Auch de Waal glaubt, dass der Mensch in vielen seiner wesentlichen Eigenschaften eine tiefe Verwandtschaft mit Schimpansen oder Bonobos aufweist, aber er betont eben zugleich, in welchen Fällen, auf welche Weise und unter welchen Umständen der Mensch die Verhaltensweisen unserer gemeinsamen Vorfahren modifiziert und ihre Grenzen im Guten wie im Bösen überschritten hat.

Gab es etwa nach der Entdeckung der Tatsache, dass Schimpansen untereinander Krieg führen und Mitglieder anderer Schimpansengruppen absichtlich töten, den Versuch, den Menschen als ins Extrem pervertierten Raubprimaten zu begreifen, so weist de Waal darauf hin, dass wir nicht nur die Aggressionen mit den Schimpansen teilen, sondern auch das Vermögen, Frieden zu stiften und Konflikte zu vermeiden. Es gelingt ihm mit wenigen, prägnanten Beispielen, Schimpansen und Bonobos mit ihren unterschiedlichen sozialen Gefügen darzustellen und zu zeigen, dass der Mensch seine beiden nächsten Verwandten im Tierreich in beiderlei Hinsicht – Aggression gegen die eigene Art und Fähigkeit, Frieden zu halten – übertrifft: Ihm gelingt es sowohl, sich seine Artgenossen soweit zu entfremden, dass er gewissenlos Genozid betreibt, als auch ist er in der Lage, über lange Perioden in und mit großen Gruppen Frieden zu wahren und Konflikte auszugleichen, anstatt sie eskalieren zu lassen.

Der Leser lernt während der Lektüre Schimpansen und Bonobos als erstaunlich sensible, einsichtsvolle und sozial hoch kompetente Lebewesen kennen. Es entsteht der Eindruck, dass die soziale Komplexität innerhalb einer Gruppe von Primaten, ihr Verständnis für die Zusammenhänge ihrer Gesellschaft und ihre Fähigkeit innerhalb dieser Zusammenhänge die Interessen des Individuums und der Gruppe ins Gleichgewicht zu bringen, mit denen in der menschlichen Gesellschaft durchaus vergleichbar sind. Sicherlich sind die Ausdrucksformen andere, aber wir haben keinerlei Schwierigkeiten, die grundlegenden gesellschaftlichen Bedingungen einer Primatengesellschaft zu verstehen, eben weil wir sie in unseren eigenen Lebenszusammenhängen nur zu gut wiederkennen.

Sicherlich ist auch de Waals Blick auf den Menschen verkürzt, aber das ist dem Autor durchaus bewusst. Er versucht auch nicht, ein Buch über den Menschen als Kulturwesen schlechthin zu schreiben, sondern er blickt auf die Menschen und ihre Gesellschaft mit dem geschulten Blick eines Primatologen. Und er erkennt vieles wieder – und wir mit ihm. Natürlich gibt es im Leben der Menschen noch andere Bedürnisse als Sex und Nahrung. Aber es gibt eben auch diese beiden Bedürfnisse und was sie betrifft, so unterscheiden wir uns zwar deutlich von Schimpansen und Bonobos, aber doch wieder nicht so wesentlich, dass wir uns nicht in de Waals Erzählungen wiedererkennen würden.

Selbst wenn man am Ende einige der Schlussfolgerungen de Waals nicht teilen mag, ist das Buch eine anregende und in vielen Fällen horizonterweiternde Lektüre. Auch wenn es am Ende nicht unseren Blick auf den Menschen verändert haben sollte, so werden wir doch auf jeden Fall für Schimpansen und Bonobos weit mehr Respekt aufbringen, als wir es vielleicht bislang getan haben. In jedem Fall ist das eine Lektüre wert.

Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert. München: Hanser, 2006. Pappband, 366 Seiten. 24,90 €.

Die Meuterei auf der Bounty

34908Am 28. April 1789 kam es auf der HMAV Bounty unweit der Küste der Südseeinsel Tofua zu einer Meuterei, in deren Folge der Kapitän des Schiffes, Leutnant William Bligh, zusammen mit 18 weiteren Mitgliedern der Besatzung im Longboat der Bounty auf See ausgesetzt wurde. Das Schiff übernahm einer seiner Unteroffiziere, Fletcher Christian, der sich mit diesem Akt der Auflehnung einen ewigen Platz in der Geschichte der britischen Navy sicherte. Der Fall erregte in England viel Aufsehen, sowohl nach der Rückkehr Blighs und seiner Leute, die dieser beinahe vollzählig in einem seemännischen Bravourstück über eine Strecke von 5.800 Meilen in einen sicheren Hafen brachte, als auch bei dem Prozess gegen eine Gruppe von Meuterern, die 1791/92 ebenfalls auf abenteuerlichste Weise nach England zurückgebracht wurden.

Zahlreiche Beteiligte an den Vorgängen um die Meuterei auf der Bounty haben ihre Version der Ereignisse zu Papier gebracht und veröffentlicht, allen voran Kapitän William Bligh, der immer neue Varianten seines Berichtes drucken ließ, die alle reißenden Absatz fanden. Bereits 1791 übersetze Georg Forster, der ebenso wie Bligh, wenn auch nicht auf derselben Reise, mit Cook die Südsee bereist hatte, einen ersten Bericht Blighs ins Deutsche. Auch sonst sorgte die Meuterei in ganz Europa lange Zeit für Gesprächsstoff.

Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff in der Hauptsache durch drei Verfilmungen prominent: 1935 unter der Regie von Frank Lloyd – bereits die dritte Verfilmung des Stoffs, aber die erste bleibende – mit Charles Laughton in der Rolle William Blighs und Clark Gable als Fletcher Christian, 1962 ein operettenhaftes Remake von Lewis Milestone mit Trevor Howard (hat sich stets bemüht) und einem dandyhaften Marlon Brando und schließlich 1984 von Roger Donaldson mit Anthony Hopkins und Mel Gibson in den Hauptrollen.

Den ersten beiden der angeführten Verfilmungen liegt ein Buch zugrunde, das 1932 zu ersten Mal erschien. Geschrieben hat es das amerikanische Autorenteam Charles B. Nordhoff (1887–1947) und James N. Hall (1887–1951), die Anfang der 20er Jahre zusammen nach Tahiti ausgewandert waren. Dem ersten Band »Meuterei auf der Bounty« folgten im Jahresabstand zwei weitere, die die Nachgeschichte der eigentlichen Meuterei noch einmal ausführlich erzählten: »Meer ohne Grenzen«, das die Fahrt des ausgesetzen Bligh nach Kupang thematisiert, und – in Deutschland selten gedruckt – »Die Insel Pitcairn«, das die weiteren Schicksale Fletcher Christians und seiner Meuterer in der Südsee beschreibt.

Der Insel Verlag hat nun den ersten Band dieser Trilogie wieder einmal im Taschenbuch nachgedruckt, und es ist sehr zu hoffen, dass auch die beiden anderen Bände dort in einer preiswerten und leicht erreichbaren Ausgabe aufgelegt werden. »Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen« wird von einem von den Autoren zur Besatzung der Bounty hinzuerfundenen sechsten Midshipman (Seekadetten) erzählt und umfasst die gesamte Geschichte der Meuterei von der Ausfahrt der Bounty über die Erlebnisse auf Tahiti, die eigentliche Meuterei, das Schicksal Blighs und den späteren Prozess gegen die Meuterer, ja es holt in einem Epilog sogar die Nachgeschichte Fletcher Christians noch ein. Es ist offensichtlich, dass Nordhoff und Hall sich nicht sicher waren, ob das Buch überhaupt ein Erfolg werden würde und sie dazu in der Lage wären, für die beiden Nachfolgebände einen Verleger zu interessieren.

Sie konnten nicht ahnen, wie sehr dieser erste Band und die auf ihm basierenden Verfilmung von 1935 den Stoff für das 20. Jahrhundert ausprägen sollten. Dabei versuchten Nordhoff und Hall durchaus keinen reißerischen Abenteuerroman zu schreiben, sondern sie näherten sich im Ton und der Art der Darstellung ganz bewusst den Reiseberichten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts an. Sicherlich waren sie hier und da etwas deutlicher und direkter als Bligh und seine Zeitgenossen, doch insgesamt ist der Roman von einer seltenen Dezenz. Aber die beiden Autoren prägen in diesem Buch das Bild von der Meuterei als Akt des Widerstands gegen einen ungerechten und tyrannischen Kapitän, für den der Stoff bis heute einen Archetypus bildet, obwohl inzwischen ein weit differenzierteres Bild von den tatsächlichen Vorgänge vorliegt.

Wer also einmal zur Quelle des Mythos von der Bounty zurückgehen will, der greife zu diesem Buch.

Charles B. Nordhoff und James N. Hall: Die Meuterei auf der Bounty. Schiff ohne Hafen. Aus dem Amerikanischen von Ernst Simon. Insel Taschenbuch 3208 (2006). 370 Seiten. 11,00 €.

Gary Taylor: Shakespeare – Wie er euch gefällt

154528500_e16ec1c2e4Gary Taylor war Mitarbeiter und einer der Herausgeber des neuen »Oxford Shakespeares«, und stellt seinen Rang als einer der führenden Experten für Shakespeare auch mit diesem Buch unter Beweis. Taylor schreibt eine Rezeptionsgeschichte, die das sich wandelnde Bild von der Person Shakespeares und seinem Werk von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt. Dabei liegt der Fokus auf der englischen und amerikanischen Rezeption und Forschung; die Entwicklungen in Deutschland und Frankreich werden nur am Rande gestreift, insbesondere dort, wo sie auf die englische zurückgewirkt haben. Das scheint für den deutschen Leser auf den ersten Blick ein Manko zu sein, allerdings zeigt es sich, dass sich die Rezeptionsgeschichte im deutschen Sprachraum zu großen Teilen mit der englischen parallelisieren lässt.

Das Buch zeugt von einer stupenden Kenntnis der Shakespeare-Literatur und -Inszenierungen aus über 300 Jahren. Taylor referiert alle wichtigen Stationen im historischen Gang der »Shakespearotik«, wie er die Darstellung, Deutung, Aneignung und Verehrung des englischen Dramatikers aus Stratford-upon-Avon nennt. Dabei bleiben weder die Machtstrukturen des englischen Buchhandels des 18., weder die moralisierenden Bearbeitungen und glättenden Entstellungen des 19. noch die akademischen Moden und Wirrungen des 20. Jahrhunderts unberücksichtigt, weder Positionen blinder Verehrung noch harscher Kritik am »größten Dramatiker aller Zeiten« werden unterschlagen. Alles wird nach bester englischer Manier in verständlicher und auch für den Laien interessanter Form präsentiert.

Dabei ist dem Autor jede Überheblichkeit, jeder Stolz auf das eigene Wissen, jede die sachliche Darstellung störende Eitelkeit fremd. Dies Buch macht durch seinen Stil deutlich, wie sehr dem Autor bewusst ist, dass sich sein Buch einreiht in die unüberschaubare Reihe von Shakespeare-Büchern, die die Zeiten nicht überdauert haben und heute zu Recht vergessen sind; Taylor weiß, dass wahrscheinlich in 50 oder 100 Jahren niemand mehr von Taylor sprechen oder über ihn schreiben wird; vielleicht noch ein zukünftiger »Taylor«, in dessen Buch der heutige Taylor auftauchen wird wie all die vergessenen Herausgeber, Schauspieler und Forscher in seinem. Das macht die Lektüre des Buches sehr angenehm, denn es versucht stets, mit dem Leser auf »gleicher Augenhöhe« zu kommunizieren.

Dargestellt wird die Genese des »Mythos Shakespeare«, wie er sich heute darstellt, sprich: wie es dazu gekommen ist, dass Shakespeare heute in der englischsprachigen und weitgehend auch in der europäischen Welt beinahe unwidersprochen als einzigartiges literarisches Genie gehandelt wird. Taylor macht die historische Stufenfolge sichtbar, die zu diesem Status geführt und die langsam aber sicher jeglichen Makel aus dem Werk Shakespeares hinausinterpretiert hat. Taylors Buch ist eines der klügsten und erhellendsten literarhistorischen Bücher, das ich gelesen habe. Auch für Nicht-Shakespeare-Kenner sehr zu empfehlen.

Das Buch ist leider nicht mehr im Druck (bibliographischer Nachweis). Sowohl die englische (»Reinventing Shakespeare: A Cultural History, from the Restoration to the Present«) als auch die deutsche Ausgabe sind aber noch leicht antiquarisch erhältlich.

James Risen: State of War

100244076_49372c6bcdEin recht oberflächlich informierendes Buch, dem es hauptsächlich darum geht, sogenannte Sensationen über die Unfähigkeit der Regierung Bush und des CIA zu versammeln. Das Buch ist flüchtig und daher schlecht übersetzt, aber es hat sich im Laufe der Lektüre in mir der Eindruck verfestigt, dass es auch schon flüchtig und schlecht geschrieben wurde. Risen kann – aus verständlichen Gründen – seine Quellen nicht benennen und ist in vielen Details auf Einschätzungen von ungenannten Insidern angewiesen, deren Urteilsfähigkeit und Einsicht in die Sache man nicht einschätzen kann. So bleibt das allermeiste auf der Ebene des Hörensagens. Der durchweg journalistische Stil, der mehr Vorgängen als deren Analyse verpflichtet ist, tut ein Übriges.

Einige wenige Geschichten sind interessant, so etwa der Versuch der CIA sich über familiäre Kontaktpersonen Informationen über das Programm des Irak zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu verschaffen, was durchweg zu dem Ergebnis geführt hat, dass ein solches Programm bereits vor langer Zeit aufgegeben wurde und aufgrund der internationalen Boykott-Maßnahmen gegen den Irak auch nicht wieder würde aufgenommen werden können. Diese Informationslage wurde aber laut Risen der Regierung Bushs nie zur Kenntnis gebracht, da sich die CIA darüber im Klaren war, dass derartige Einschätzungen dort nicht erwünscht waren.

Empfehlenswert für diejenigen, die sich ihre antiamerikanischen Ressentiments bestätigen wollen; zur soliden Information kaum geeignet.

Risen, James: State of War. Deutsch von Norbert Juraschitz, Friedrich Pflüger und Heike Schlatterer.
Hoffmann und Campe, 2006. ISBN 3-455-09522-4
Gebunden – 180 Seiten – 19,95 Eur[D]

Paul Auster: Nacht des Orakels

93774460_4fb48e4a47Nach der (soweit ich seine Bücher bis dato kenne) üblichen Auster-Manier sehr routiniert erzählter Roman. Im Zentrum steht der Schriftsteller Sidney Orr, der nach langer Krankheit zum Schreiben zurückfindet, während seine Ehefrau gleichzeitig versucht, eine durch eine ungewollte Schwangerschaft ausgelöste schwere Krise ihrer Ehe zu überwinden. Die titelgebende »Nacht des Orakels« ist ein Buch im Buch im Buch: Nachdem Sidney in einem kleinen Papiergeschäft in der Nähe seiner Wohnung ein blaues Notizbuch aus portugiesischer Herstellung gekauft hat, beginnt er eine Erzählung zu schreiben, die sich aus einer Episode in Hammetts »The Maltese Falcon« entwickelt. Sie erzählt von einem Lektor, der durch einen Beinahe-Unfall aufgerüttelt, seine Frau und sein ihn unbefriedigendes Leben verläßt und nach Kansas City flieht, ohne zuerst irgendwem davon Nachricht zu geben. Mit seinem alten Leben verbindet ihn nur noch der postume Roman der Schriftstellerin Sylvia Maxwell, der eben den Titel »Nacht des Orakels« trägt. Auch den Inhalt dieses Romans erfindet Orr im Verlauf seines skizzenhaften ersten Entwurfs.

Wie bei Auster zu erwarten, sind die drei Ebenen der Erzählung sorgfältig miteinander verzahnt, ohne dass dabei in diesem Fall wirklich der Eindruck eines geschlossenen Ganzen entsteht. Das ist aber vielleicht auch gar nicht wichtig, weil das Buch eben auch von den Unabgeschlossenheiten und Zufällene erzählt, die das Leben eines jeden Menschen wesentlich mitbestimmen. Und auch davon, dass man gewisse Dinge einfach hinter sich lassen muss, damit man nicht das eigene Leben und das, was man liebt und einem wichtig ist, zerstört.

Mich hat das Buch nicht so gefangen genommen wie z. B. Austers »Das Buch der Illusionen«. Aber das mögen andere Leser anders empfinden. Das Buch hat mir aber Lust auf den nächsten Auster gemacht.

Auster, Paul: Nacht des Orakels. Deutsch von Werner Schmitz.
Rowohlt, 2005. ISBN 3-499-23987-6
Paperback – 288 Seiten – 19,00 × 11,50 cm – 8,90 Eur[D]