Im Jahr 2008 erschienen zwei Bücher Raoul Schrotts: zum einen eine Übersetzung von Homers „Ilias“ und zum anderen mit unmittelbarem Bezug zu dieser Übersetzung der Band „Homers Heimat“, der einen kleinen Sturm im Wasserglas der Altertumswissenschaften auslöste. Schrott macht sich in diesem Buch in einer komplexen und quellengesättigten Argumentation für die Hypothese stark, Homer als einen kilikischen Autor zu lesen, seine Herkunft und die von ihm verarbeitete lebensweltliche Wirklichkeit also in den östlichen Mittelmeerraum, genauer an die Südost-Küste der Türkei zu verlegen.
Schrotts gerade erschienene „Theogonie“ stellt eine Variation desselben Themas dar: Er liefert zu seiner Übersetzung des Textes einen umfangreichen Anhang, in dem er den Einflüssen nachspürt, den die Mythen des östlichen Mittelmeerraums auf den griechischen Entwurf der Götterwelt gehabt haben könnten. Er behauptet im Falle Hesiods nicht, dass ihm – wie er das für Homer wahrscheinlich machen möchte – eine schriftliche Fassung der verarbeiteten Mythen vorgelegen habe, sondern geht in diesem Fall von einer mündlichen Tradierung der entsprechenden Stoffe aus. Schrott steht mit dieser Sicht, die von einer vielfältigen Verbindung und Verschränkung der diversen Kulturräume des Mittelmeers ausgeht, durchaus nicht allein; er ist nur derjenige, der diese Einsichten außerhalb der reinen Fachdiskussion zuerst thematisiert hat.
Wen die Verknüpfungen der alten Kulturen im Mittelmeerraum interessieren, findet hier reichhaltigen Stoff und Anregungen zur weiteren Lektüre. Verständlicherweise ist auch Schrotts Übersetzung sehr stark von seiner Grundthese beeinflusst. Es kann sich daher hier und da lohnen, eine zweite, konservativere Übersetzung zu Schrotts Text der „Theogonie“ parallel zu lesen.
Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott. München: Hanser, 2014. Bedruckter Pappband, bedruckte Vorsätze, 216 Seiten. 19,90 €.