Ian McEwan: Der Trost von Fremden

An den Haaren herbeigezogene Schauergeschichte von einem englischen Pärchen, das in Venedig (dessen Name an keiner Stelle fällt) einem psychopathischen Ehepaar in die Hände fällt. Wie für das Genre wohl üblich, passiert lange Zeit nichts, wohl um Spannung zu erzeugen (huuuuu). Antrieb für den ganzen Unfug ist natürlich Sex (oooooh), McEwan bleibt mit diesem dünnen Fähnchen aber so weit hinter etwa Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« zurück, dass zumindest ich mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören konnte. Wenigstens ist der Text kurz.

Von hier aus müsste man jetzt wahrscheinlich noch einmal »Am Strand« anschauen, um zu prüfen, ob die dort thematisierte Verklemmtheit tatsächlich die der Zeit und nicht die des Autors ist.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden. Aus dem Englischen von Michael Walter. detebe 21266. Zürich: Diogenes, 1985. Broschur, 189 Seiten. 8,90 €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Martin Rowson: Tristram Shandy (deutsch)

978-3-86873-370-9Etwas verspäteter Hinweis auf die kongeniale Umsetzung von Laurence Sternes »Tristram Shandy« als Comic, die hier schon nachdrücklich empfohlen wurde und die im letzten Jahr nun auch auf Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung besorgte Michael Walter, der als Übersetzer und Kenner des Romans natürlich eine exzellente Wahl für diese Aufgabe ist. Jedem Sterne-Leser sei der Band dringend ans Herz gelegt.

Martin Rowson: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Nach Laurence Sterne. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Knesebeck, 2011. Leinenrücken, Fadenheftung, Lesebändchen, 176 unpaginierte Seiten. 24,95 €.

Drei Symposien

… und sie seien genötigt worden, ohne jede Ordnung Unmengen von Wein zu trinken.

Bei der sogenannten Symposienliteratur handelt es sich um das antike Pendant zur Talkshow: Der Autor lässt mehr oder weniger berühmte Zeitgenossen zusammenkommen, die sich bei Gelegenheit eines abendlichen Festes mehr oder weniger intelligent über philosophische, politische oder auch einfach nur tagesaktuelle Themen unterhalten. Dabei tut es in der Antike wenig zur Sache, ob diese Gespräche tatsächlich so stattgefunden haben, so wie es heute wenig zur Sache tut, ob die Politiker das tatsächlich glauben, was sie von sich geben, oder ob irgend etwas von dem Gesagten richtig ist.

Urmuster aller Symposienliteratur sind – wenigstens aus unserer Sicht – zwei Texte: Das Platonische »Gastmahl« und das sich offensichtlich auf diesen Text beziehende Buch Xenophons mit demselben Titel. Allerdings sind diese beiden Vorlagen von höchst unterschiedlichem literarischen Gewicht, was man besonders deutlich spürt, wenn man beide unmittelbar nacheinander liest. In beiden tritt als zentrale Figur der Philosoph Sokrates auf, der aber von beiden Autoren, die beide das lebende Vorbild persönlich gekannt haben, sehr unterschiedlich geschildert wird; doch dazu später noch ein paar Sätze.

978-3-15-018435-6Platons »Symposion« nimmt den Sieg des Philosophen und Schriftstellers Agathon, eines der Schüler des Sokrates, mit seiner ersten Tragödie bei einem der Feste zu Ehren des Dionysos (wahrscheinlich im Jahr 416 v. u. Z.) zum Anlass für ein abendliches Gelage. Es ist der Tag nach dem Sieg; bereits am Vorabend haben der Dichter und einige seiner Freunde ein ausschweifendes Fest gefeiert, von dem die nun im Hause des Agathon zusammenkommenden Freunde noch gezeichnet sind. Man beschließt deshalb gleich zu Anfang des Festes, heute Mäßigkeit walten zu lassen und sich nicht wieder so zu besaufen wie am Vortag. Stattdessen will man lieber ein kultiviertes Gespräch pflegen, wozu der Sokrates-Schüler Phaidros das Thema vorgibt: den Gott Eros, dessen Kult unverständlicher Weise nicht seiner umfassenden Stellung im Kosmos entspreche.

Am Fest nehmen vorerst außer dem Gastgeber und den schon erwähnten, Sokrates und Phaidros, drei weitere Gäste teil: der Adelige Pausanias, der Arzt Eryximachos und der Komödienautor Aristophanes. Es wird beschlossen, dass jeder der Anwesenden reihum eine Rede auf den Eros halten solle, wobei der Gott Dionysos selbst als Schiedsrichter angerufen wird, der am Ende entscheiden solle, wer die beste Rede gehalten habe.

Phaidros, der das Thema vorgeschlagen hat, beginnt: Er erklärt Eros für die älteste aller Gottheiten, der es zu verdanken ist, dass überhaupt Ordnung (κόσμος) aus dem ursprünglichen Chaos entstanden sei. Insofern sei Eros der Ursprung aller anderen Götter und ihm sollte als alles durchdringendes Prinzip gehuldigt werden. Phaidros’ sehr allgemein gehaltenen Ausführungen folgt die Rede des Pausanias, der zwischen zwei Formen des Eros unterscheiden möchte: Ebenso wie sich die himmlische Aphrodite (A. urania) von der gewöhnlichen Aphrodite (A. pandemos) unterscheide, so auch der sie jeweils begleitende Eros. Der himmlische Eros verkörpere im Gegensatz zum gewöhnlichen eine reine, sexuelle Befriedigung verachtende Liebe, wie sie vorzüglich im Verhältnis von Männern und Knaben zueinander vorkomme. Diese Ausführungen dienen im wesentlichen als propädeutische Hinführung zu den Gedanken des Arztes Eryximachos, der berufsbedingt grundsätzlich physiologisch argumentiert: Für ihn ist der wahre Eros eine Frage der Harmonie von einander widerstrebenden Prinzipien. In allem gelte es das rechte Maß zu finden, um, wie in der Musik, das Auseinanderstrebende in Einklang zu bringen.

Auch dies erweist sich letztlich nur als eine Hinführung zur Erzählung des Aristophanes: Der Komödiendichter erfindet ad hoc eine Mythologie der Sexualität, die sicherlich zu den meist rezipierten Stellen der antiken Literatur gehört: Der Mensch habe in prähistorischer Zeit in drei Geschlechtern existiert, einem weiblichen, einem männlichen und einem androgynen. Um die Menschen für ihren Übermut gegen die Göttern zu bestrafen und sie daran zu hindern, den Himmel zu stürmen, habe Zeus sie geteilt. Aus ihrer vierbeinigen, runden Form habe er sie zu zweibeinigen Wesen gemacht, die nun unter der Drohung einer nochmaligen Teilung in Furcht vor den Göttern existieren. Aus dieser Teilung resultiert die Leidenschaft des Eros, da alle Menschen nun auf der Suche nach ihrem fehlenden Gegenpart sind, mit dem sie sich wieder zu vereinigen suchen. Diejenigen deren Ursprung ein männlicher Vierbeiner gewesen sei, suchten ihre Ergänzung als Mann bei Männern, so wie die Frauen von rein weiblichem Ursprung die Liebe der Frauen suchten; die Androgynen neigen verständlicher Weise zum jeweils anderen Geschlecht. Hier werden nicht nur homo- und heterosexuelle Liebe als gleichwertig und aus gleichem Ursprung stammend begriffen, sondern dies ist auch die erste Stelle der Weltliteratur an der weibliche und männliche Homosexualität als wesenhaft identisch beschrieben werden. Diese schlichte Fabel ist von erstaunlicher Klarheit und öffnet sich leicht zahlreichen deutenden Zugriffen.

Den Abschluss des rhetorischen Vorspiels bildet eine Lobrede des Agathon auf den Eros als jüngsten, schönsten und glückseligsten Gott, der sogar als König der Götter bezeichnet wird. Besonders die Charakterisierung des Eros als Jüngstem unter den Göttern, die in direktem Widerspruch zu der anfänglichen Rede des Phaidros steht, macht klar, dass die Reden in ihrer Gesamtheit einen kompletten dialektischen Zyklus durchlaufen haben und als eine durchkomponierte Einheit aufgefasst werden sollen. Es folgt als nächster Schritt die Rede des Sokrates, der Eros nicht als Gott, sondern als Dämon (δαίμων) definiert. Wie sooft bei Platon macht Sokrates dezidierte inhaltliche Aussagen nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern er zitiert, was andere gesagt haben. In diesem Fall handelt es sich um eine der wirkungsmächtigsten Frauenfiguren der Antike: die Priesterin Diotima, die angeblich den jungen Sokrates über die Mysterien des Eros belehrt habe.

Eros, so lehrt sie, ist ein Sohn von Mangel (Πενία) und Ausweg (Πόρος), von daher schon in seinem Ursprung als ein Mangelwesen bestimmt. Gerade weil es ihm an all dem mangelt, was ihm Agathon gerade als wesenhaft zugeschrieben hat, strebt er beständig danach, es zu erreichen: Er ist nicht schön, nicht vollkommen, nicht glückselig und besonders nicht unsterblich und daher auch nicht göttlich, sondern ein Zwischenwesen zwischen den sterblichen Menschen und unsterblichen Göttern. Aus dem Streben des Eros nach der Unsterblichkeit folgt auch das Bedürfnis der ihm verwandten Sterblichen nach Ruhm und ihr Verlangen, sich in ihren Kindern und Kindeskindern fortzuzeugen. Auch der platonische Aufstieg des Philosophen von der Schönheit der Körper über die Schönheit der Seelen und der Schönheit der Erkenntnis schließlich zur Erkenntnis der Idee der Schönheit selbst folgt direkt aus dem dem Eros verdankten Streben nach der Aufhebung des prinzipiellen Mangels der körperlichen, endlichen Existenz.

Sokrates wird in seinen Ausführungen unterbrochen durch die unerwartete Ankunft des volltrunkenen Alkibiades. Alkibiades tritt geschmückt mit allen Attributen des Gottes Dionysos auf, und er ist enthusiasmiert vom Wein. Seine Aufgabe ist es, die abschließende Rede des Symposions zu halten, in der durch ihn hindurch der Gott Dionysos selbst Sokrates als die ideale Verkörperung des Eros auszeichnet: Auch er ermangelt der Schönheit und Weisheit, strebt aber in jedem Moment seines Lebens nach ihnen. Er sucht Erkenntnis zu erlangen, verachtet die Genüsse und Anfechtungen der körperlichen Existenz, wie sein Verhalten in Liebesdingen und unter den harten Anforderungen des Krieges unter Beweis gestellt hat. Nach dieser Lobrede geht das Symposion in ein allgemeines Besäufnis über, in dem sich Sokrates einmal mehr als der einzige beweist, der dem Gott Dionysos nicht unterliegt. Als alle schon schwer betrunken mit Schlaf kämpfen oder ihm bereits erlegen sind, ist er noch immer munter:

Die Hauptsache sei jedoch gewesen, dass Sokrates sie genötigt habe zuzugeben, dass es die Aufgabe ein und desselben Mannes sei, sich auf die Dichtung von Komödien und Tragödien zu verstehen, und dass der professionelle Tragödiendichter auch Komödiendichter sei. Zu diesem Eingeständnis genötigt, seien sie – nicht richtig in der Lage zu folgen – eingenickt.

Diese letzte Bemerkung allein, die noch einmal das den ganzen Text bestimmende Spiel von Ernsthaftigkeit und ironischer Distanzierung, von Scherz und Philosophie, von hohler Rhetorik und tiefsinniger Allegorie zusammenfasst, ist eine der wundervollsten Stellen der antiken Literatur. Das ganze Stück ist von einer Ausgewogenheit der Komposition, von einer zugleich formalen Strenge und inhaltlichen Leichtigkeit, dass man lange suchen muss, um ihm etwas literarisch annähernd gleichrangiges an die Seite zu stellen.

978-3-15-002056-2Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt dagegen das »Gastmahl« Xenophons. Seine in Teilen gewollt wirkende Kunst- und Anspruchslosigkeit ist seit der Antike immer wieder als Indiz für den Realismus des Stücks gedeutet worden. Noch eine der neueren, populären Editionen der sokratischen Schriften Xenophons (Eichborn, 1998) will die Frage, ob es sich dabei um ein getreues Abbild der athenischen Gesellschaft und besonders des Sokrates handelt, zumindest unentschieden lassen. Dabei wurde bereits in der Spätantike der Nachweis geführt, dass es sich beim »Gastmahl« Xenophons um eine ebensolche Fiktion handelt wie beim platonischen. Im Gegensatz zum platonischen Text fehlt jeder Versuch einer durchgängigen Komposition, ja, literarische Härten werden der realistischen Wirkung halber bewusst im Kauf genommen.

Das Gastmahl findet in diesem Fall im Hause des reichen Kallias statt, dessen Hauptlebensinhalt es war, das väterliche Erbe durchzubringen, was ihm wohl auch mehr oder weniger gelungen zu sein scheint. Kallias befindet sich mit dem jungen Autolykos, einem erfolgreichen Sportler, in den er verliebt ist, und dessen Vater auf dem Weg von einem Pferderennen nach Hause, als er unterwegs zufällig auf Sokrates und eine Gruppe seiner Begleiter trifft und sie zu einer Feier in seinem Hause einlädt. Sokrates ziert sich ein wenig, da Kallias sonst ausgiebig Umgang mit den Sophisten pflegt, will ihn aber letztlich nicht vor den Kopf stoßen und nimmt die Einladung daher an. Dort angekommen werden erst einmal Tanz und Flötenspiel der herbeigeholten Unterhaltungskünstler rezensiert, bevor man eine allgemeine Gesprächsrunde darüber eröffnet, auf welche seiner Fähigkeiten oder Eigenschaften jeder Gast besonders stolz ist. Dabei zeichnet sich Sokrates vor allen anderen durch seine auf den ersten Blick paradoxe Antwort aus, er sei auf seine Fähigkeiten als Kuppler besonders stolz. Die Erklärungen der einzelnen Gäste zu ihren Fähigkeiten werden von den anderen durch zahlreiche teils witzige, teils spöttische Anmerkungen kommentiert. Bei den Ausführungen des Sokrates versucht sich Xenophon dann in einer Parodie der platonischen Dialoge, indem er den Sokrates in der üblichen Manier Fragen stellen lässt, die die anderen Gäste stur immer erneut nur mit der einzigen Phrase πάνυ μὲν οὖν – einer im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Häufung dreier bestätigender Wörter, ungefähr wie aber selbst doch freilich – beantworten.

Nach einem weiteren Zwischenspiel der kleinen Animationstruppe versucht Xenophon, sein »Symposion« in unmittelbare Konkurrenz zum platonischen zu stellen, indem er Sokrates eine ausführliche  und gelehrte Rede zum Lobe des Gottes Eros halten lässt, die nicht nur inhaltlich, sondern auch ihrem Grundcharakter nach allem widerspricht, was wir aus den platonischen Frühschriften an Darstellungen des Sokrates kennen. Diese Rede führt zudem die gesamte Anlage der Erzählung als eine über ein geselliges Zusammensein derartig in eine Sackgasse, dass Xenophon sich nur mit einer höchst hölzernen Wendung aus ihr zu retten weiß:

Damit endete diese Gespräch. Autolykos – es war bereits Zeit für ihn – stand zu einem Spaziergang auf, und sein Vater Lyon wollte mit ihm hinausgehen, als er sich noch einmal umdrehte  und sagte: »Bei der Hera, Sokrates, du scheinst mir ein Mensch von sittlichem Adel zu sein!«

Nichts in diesem »Gastmahl« kann auch nur für einen Moment ernsthaft mit dem konkurrieren, was das platonische Vorbild bietet. Sein Witz ist vergleichsweise platt, seine Figurengestaltung mehrheitlich eindimensional, wenn nicht gar einfältig, sein Moralisieren naiv und ohne jeden Esprit. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass sich hier ein Schriftsteller deutlich überhebt, indem er versucht mit einem Autor in Konkurrenz zu treten, dem er weder literarisch noch inhaltlich das sprichwörtliche Wasser reichen kann. Über eine rein historische Ebene hinaus ist dieser Text schlicht eine Enttäuschung.

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Vergleichsweise erfrischend ist Lukians Parodie auf die Symposienliteratur: Bei ihm kommen die vortrefflichsten Vertreter diverser philosophischer Schulen bei der Hochzeit der Kinder zweier Geldadliger zusammen. Diese führenden Köpfe der Stadt sind während des Festes in der Hauptsache damit beschäftigt, einander gegenseitig schlecht zu machen und sich nach Möglichkeit die besten Stücke auf der Tafel wegzuschnappen. Das ganze endet denn auch konsequent in einer großen Schlägerei, aus der fast alle Beteiligten mit erheblichen Blessuren hervorgehen: einem der Philosophen fehlen am Ende die Nase und ein Auge, die er in der Hand vom Schlachtfeld des Symposions trägt, was einen seiner philosophischen Kollegen nur zu einer höhnischen Bemerkung mehr veranlasst. Lukians Erzähler wenigstens zieht eine nützliche Lehre aus dem Geschehen:

Ich für meinen Teil habe mir diese Moral daraus gezogen: daß es für einen, der kein Freund von bösen Händeln ist, eine gefährliche Sache sei, sich mit Philosophen dieses Schlages zu Gast bitten zu lassen. [Übers. v. Christoph Martin Wieland]

Vielleicht sollte man doch dem ein oder anderen heutigen Talkshow-Gast die Lektüre wenigstens des lukianschen »Gastmahls« ans Herz legen …

Platon: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn. RUB 18435. Stuttgart: Reclam, 2006. Broschur, 215 Seiten. 5,– €.

Xenophon: Das Gastmahl. Griechisch/Deutsch. Hrsg. u. übers. von Ekkehard Stärk. RUB 2056. Stuttgart: Reclam, 1986. Broschur, 127 Seiten. 4,– €.

Lukian: Symposion. Griechisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Julia Wildberger. RUB 18377. Stuttgart: Reclam, 2005. Broschur, 95 Seiten. 3,– €.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier

978-3-8031-1236-1Kleiner dialogischer Essay um einen Anarchisten, der aus lauter Konsequenz zum Egoisten und aus lauter Egoismus zum Bankier geworden ist. Wahrscheinlich ist es ironisch gemeint, wahrscheinlich auch politisch, vielleicht sogar humoristisch. In jedem Fall ist es aber unerheblich, da keiner der verwendeten Grundbegriffe – Natur, Freiheit, Gesellschaft, Fiktion, Anarchie, Tyrannei, Egoismus – auch nur im Ansatz definiert wird. Von daher bleibt alles im Bereich der Beliebigkeit kaffeehäuslichen Intellektuellengebrummels. Wer sowas mag, um sich einen sonnigen Nachmittag im Garten seines Häuschens in der Toscana zu vertreiben, dem sei es empfohlen. Die anderen mögen die Zeit sinnvoller nutzen.

Fernando Pessoa: Ein anarchistischer Bankier. Übersetzt von Reinhold Werner. Berlin: Wagenbach, 2006. Leinen, Fadenheftung, 89 Seiten. 13,90 €.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise …

978-3-86971-014-3 … durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick

Ganz selten hat man heute noch das Vergnügen, ein solches Büchlein in die Hand zu bekommen: Flexibler, bedruckter Leineneinband, abgerundete Ecken, Lesebändchen, exquisite Typographie, eine exzellente Übersetzung, solide Anmerkungen, ein informatives, illustriertes Nachwort. Wenn das Bändchen auch noch fadengeheftet wäre, wäre es vollkommen.

Michael Walter hat seiner ambitionierten Übersetzung des »Tristram Shandy« nun auch eine Übertragung von Sternes zweitem Roman an die Seite gestellt. Leider sind von der »Empfindsamen Reise« nur zwei Bände fertig geworden, bevor Sterne 1768 starb. Und so bleibt der empfindsame Ich-Erzähler Yorick, den der Leser bereits aus dem »Tristram Shandy« kennen konnte, nördlich von Lyon in einem Gasthaus stecken und erreicht nie das im Titel angekündigte Italien.

Das Büchlein war ein beinahe noch größerer Erfolg als der »Tristram Shandy« und besonders in Deutschland einflussreich, da von ihm eine kleine Literaturepoche, die Empfindsamkeit, angeregt wurde. Das Wörtchen »empfindsam« wurde übrigens von Lessing zur Übersetzung des englischen Neologismus »sentimental« erfunden; wer mehr dazu und zu der Geschichte der deutschen Übersetzungen erfahren möchte, lese das wohlgeratene Nachwort.

Auch bei dieser Sterne-Übersetzung wird betont, die Waltersche Neuübersetzung mache die erotische Unterfütterung des Textes deutlicher als alle vorangehenden. Das soll hier nicht bestritten werden, nur möchte ich darauf hinweisen, dass der Autor die sexuellen Beiklänge hier weit gemäßigter gehandhabt hat als in einigen Passagen des »Tristram Shandy«. An dieser Neuübersetzung scheint mir weit interessanter zu sein, wie souverän Michael Walter den Sterneschen Stil insgesamt nachzubilden versteht und dabei einen skurrilen und durch und durch originellen deutschen Text erschafft, der in keinem Moment vergessen lässt, dass wir hier ein Buch vor uns haben, das bereits im 18. Jahrhundert aus der Masse des literarischen Marktes herausgeragt hat.

Wer zuvor noch nichts von Sterne gelesen hat, sei ein wenig vorgewarnt: Es braucht einige Seiten, bis man sich eingelesen hat. Man bringe etwas Geduld mit, denn man wird reichlich dafür belohnt.

Dieses Bändchen ist sicherlich eines der Bücher des Jahres 2010, auch wenn das Jahr noch recht jung ist.

Laurence Sterne: Eine empfindsame Reise durch Frankreich und Italien. Von Mr. Yorick. Neu aus dem Englischen übersetzt von Michael Walter. Berlin: Galiani, 2010. Flexibler, bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 359 Seiten. 24,95 €.

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Anne Fadiman: Alles, was das Leben ausmacht

fadiman_lebenDas Buch ist ein Nachschuss zu den überraschend erfolgreichen Bekenntissen einer Bibliomanin, wobei mir in diesem Fall nicht ganz klar geworden ist, was der deutsche Untertitel Leichtfertige Essays (im Original Familiar Essays) eigentlich besagen soll. Die elf Essays der Sammlung thematisieren sowohl literarische (u. a. Charles Lamb, Coleridge, der Prozess des Schreibens und die Literaturkritik) als auch lebensweltliche Gegenstände (u. a. Eiscreme, Umzüge, Post und Kaffee). Insgesamt ganz nett, wenn sich auch bei mir das Fesselnde des Vorläuferbandes nicht wieder eingestellt hat. Den stärksten Eindruck hat mir der Text Unter Wasser gemacht, der, dicht am Erleben der Autorin entlang erzählt, die Form des Essays hinter sich lässt.

Anne Fadiman: Alles, was das Leben ausmacht. Leichtfertige Essays. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. München: SchirmerGraf, 2007. Geprägter Leinenband, bedrucktes Vorsatzpapier, Lesebändchen, 250 Seiten. 18,80 €.

Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann

edmons_fischer Das Elend mit diesem Buch beginnt schon beim Titel: Aus dem englischen Bobby Fischer Goes to War (also: »Bobby Fischer zieht in den Krieg«) macht der deutsche Verlag den oben angeschriebenen Titel. Man versucht damit wahrscheinlich, das Buch denjenigen Lesern zu empfehlen, die schon das vorangegangene Opus des Autorenteams David Edmonds und John Eidinow, Wittgenstein’s Poker, gekauft hatten, das bei der DVA den Titel Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte trägt. Nun vertreten die beiden Autoren im Buch leider einen Standpunkt, der dem gewählten Titel ausdrücklich widerspricht:

Tatsächlich war der Weltmeisterschaftskampf keineswegs eine Verkörperung des Ost-West-Konfliktes, sondern fiel zeitlich genau in die Hochblüte der Entspannungspolitik. […] Obwohl nahezu alle westlichen Darstellungen des Fischer- Spasski-Kampfes die Ereignisse in weltpolitische Zusammenhänge rücken, sind sie in dieser Hinsicht seltsam irreführend. [S. 358]

Und genau in diese als irreführend bezeichnete Darstellungslinie ordnet der deutsche Titel das Buch ein. Allerdings ist es auch verständlich, dass sich in der Marketing-Abteilung der DVA keiner bereit fand, das Buch bis dorthin zu lesen. Das ist wesentlich auch der Übersetzung zuzuschreiben:

Fischers taktische Meisterleistung gegen Donald Byrne (den Bruder von Robert) wurde umgehend, auch wenn es vielleicht etwas übertrieben war, als die beste Einzelpartie des Jahrhunderts bezeichnet. Sein Spiel war ein beeindruckendes Kunstwerk, vielschichtig und komplex, mit kühner Weitsicht, und es machte in der Schachwelt Furore. Der Internationale Meister Bob Wade meinte, daß die Partie mit dem siebzehnten Zug, bei dem Fischer (Schwarz) einen Läufer zurücknahm, Le6, und den Angriff auf seine Königin übersah, auf eine »unsterbliche Ebene« gehoben wurde. Tatsächlich hatte Fischer keine vernünftige Alternative zu Le6, da jeder andere Zug zu seiner Niederlage geführt hätte, doch die Schnelligkeit, mit der die Stellung seines Gegners danach zusammenbrach, kam für Schachliebhaber trotzdem fast einem Wunder gleich. Schon beim fünfundzwanzigsten Zug war unübersehbar, daß Byrnes Figuren in einer erbärmlichen Unordnung waren. [S. 22 f.]

Mag man diese und ähnliche Stellen noch den Übersetzern zur Last legen wollen (was ist eigentlich so schwierig daran, ein Buch vor der Drucklegung einem Schachspieler mit einem etwas ausgeprägteren Stilgefühl zur Lektüre anzudienen, um wenigstens solch dilettantische Passagen wie die oben zitierte zu vermeiden?), zeigen andere die Inkompetenz und Geschwätzigkeit der Autoren auf:

Bei ihrer Einzelpartie [in Mar del Plata, 1960] spielte Spasski (Weiß) das Königsgambit, eine ungestüme Eröffnung, bei der Weiß einen Bauern opfert, um die Brettmitte zu beherrschen und die wichtigsten Figuren rasch einsetzen zu können. (Die Eröffnung gilt inzwischen als unvorteilhaft: Bei präzisem Spiel von Schwarz gewinnt Weiß praktisch keinen Ausgleich für den Verlust des Bauern.) [S. 29]

In jedem Gambit wird ein Bauer geopfert; das Wort Gambit meint nichts anderes. Und in jeder Eröffnung geht es darum, die Brettmitte zu beherrschen und die Figuren rasch zur Wirkung zu bringen. Und das Königsgambit galt schon damals bei den meisten Schachspielern als riskante Eröffnung, in der Weiß eher auf Ausgleich spekuliert, als ihn sicher zu erreichen. Die Wahl des Königsgambits durch Spasski besagt eher etwas über seine Einschätzung des jungen Fischer, als es eine Aussage über die Qualität der Eröffnung macht.

Die Eröffnung [die Sizilianische Verteidigung], eine Spezialität des Sizilianers Gioacchino Greco, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, wird in dem sowjetischen Film Schachfieber aus dem Jahre 1925 erwähnt, bei dem mit José Capablanca ein echter Weltmeister mitspielte. Die Ehe eines Paars droht auseinanderzugehen, weil der Ehemann schachbesessen ist. Schließlich findet das Paar doch noch sein Glück, da die Frau den Zauber des Spiels schätzen lernt. Ihr letzter Satz, unmittelbar vor der Schlußszene, die mit einem Kuß endet, lautet: »Schatz … laß uns die Sizilianische Verteidigung probieren.« [S. 259 f.]

Einmal abgesehen davon, dass dieser Und-das-wissen-wir-auch-noch-Unsinn nahezu die einzige Erläuterung der beiden Autoren zu Fischers meistgespielter Eröffnung darstellt, könnte man wenigstens durch kurzes Nachschlagen in Erfahrung bringen, dass sich Gioachino Greco nur mit einem »c« schrieb und dass die Sizilianische Verteidigung zwar durch Greco benannt, aber schon vor dessen Geburt, spätestens von Giulio Cesare Polerio in die Praxis eingeführt worden war. Außerdem könnte man die kleine Höflichkeit besitzen, den Schachweltmeister von 1921–1927, José Raúl Capablanca, mit seinen beiden Vornamen zu benennen. Was der Rest dieser Passage in dem Buch verloren hat, bleibt völlig unerfindlich. Aber weiter geht’s:

Bei Zug sechzehn [der vierten Partie des WM-Kampfes 1972] brachte Fischer unklugerweise ein Bauernopfer, wonach Spasskis beide Läufer das Brett praktisch in Beschlag nahmen, indem sie die langen Diagonalen kontrollierten. Wenn es dem Weltmeister im komplexen Mittelspiel gelungen wäre, Raum für einen vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm zu finden, hätte er Weiß (Fischer) zwingen können, einen Bauern vorzuziehen. Und dieser Bauer hätte anschließend den Fluchtweg blockiert, über den Fischer entkommen konnte. [S. 260]

Leider war es nun aber Spasski, der schon im 13. Zug einen Bauern opferte (der allerdings erst im 16. Zug geschlagen wurde), ein Zug übrigens, der von den Kommentatoren nicht für unklug, sondern für besonders stark gehalten wird, da er, wie auch die beiden Autoren richtig irgendwo abgeschrieben haben, die beiden schwarzen Läufer aktiviert (von denen wiederum nur einer »die lange Diagonale kontrolliert«, während der andere schlicht auf die weiße Königsstellung zielt). Was es mit dem »vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm«, für den Spasski angeblich keinen »Raum« hat finden können, auf sich hat, wissen die Götter. Wahrscheinlich ist 29… Td8 gemeint, ein Zug, den Spasski ohne Tempoverlust hätte einschalten können, da Fischer seinen Springer auf d4 mittels 30. c3 hätte verteidigen müssen. Aber auch dabei hat weder die Rede vom mangelnden »Raum« noch vom »blockierten Fluchtweg« einen Sinn.

Wenn man von den zahlreichen sachlichen und sprachlichen Mängeln absieht, ist das Buch eine ganz brauchbare Darstellung der welt- und schachpolitischen Umstände, unter denen der WM-Kampf 1972 in Reykjavík stattgefunden hat. Das Buch macht zum einen deutlich, welche Entwicklungen der WM-Kampf 1972 angestoßen hat, so etwa den Traum von der Vermarktung des Schachspiels im Fernsehen, dem auch heute noch hohe Funktionäre anhängen, oder die Steigerung der Preisfonds, die zu einer ausgeprägten Profi-Elite des Schachs geführt hat. Zum anderen liefert es interessante Einblicke in die Bedingungen, Strukturen und Entscheidungsprozesse auf der sowjetischen Seite, die so detailliert und zugleich kompakt bislang wohl noch nicht zu lesen waren. Dagegen fällt die von den Autoren ausgegrabene Sensation der Entdeckung von Fischers wahrem Vater etwas dünn aus, da der wahre so wenig eine Rolle in Fischers Leben gespielt hat wie der falsche.

Insgesamt ein schlecht geratenes Buch, das durch die Übersetzung keine Aufwertung erfahren hat. Für den echten Fachmann wahrscheinlich weitgehend unerheblich, für den nachgeborenen Schachspieler aber von einigem Interesse, wenn er sich denn entschließen kann, an den Schwächen und Fehlern vorbeizulesen.

David Edmonds / John Eidinow: Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann. Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. München: DVA, 2005. Pappband, 432 Seiten. 22,90 €.

Ian McEwan: Zwischen den Laken

mcewan_laken Sammlung von sieben routiniert und gekonnt erzählten Geschichten McEwans, von denen drei (Zwei Fragmente, Hin und Her und Psychopolis) bereits zuvor bei Diogenes veröffentlicht worden sind. Der Band hat kein wirklich einheitliches Thema, wenn sich auch die meisten mehr oder weniger zentral um das Thema Sexualität drehen. Sie umfassen stilistisch eine deutliche Bandbreite, so dass kein geschlossenes Bild der Sammlung entsteht. Die Übersetzungen scheinen – soweit sich das vom deutschen Text ablesen lässt – anspruchsvoll und sorgfältig gearbeitet zu sein.

Pars pro toto hier ein paar inhaltliche Hinweise: Pornographie erzählt von einem jungen Mann, der im Sexshop seines Bruders arbeitet. Nebenher hat er Verhältnisse zu mindestens zwei Frauen, die aber nichts voneinander wissen. Nun zwingt ihn eine Geschlechtskrankheit, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und als er wieder Kontakt zu seinen Damen aufnimmt, erwartet ihn eine Überraschung …

Der kleine Tod erzählt von einem sehr erfolgreichen Londoner Geschäftsmann, der sich eines Tages in eine Schaufensterpuppe verliebt und mit ihr einige glückliche Wochen verbringt. Dann allerdings schöpft er Verdacht, dass sie ihn mit seinem Fahrer betrügen könnte und verfällt einer zunehmend tiefen Verzweiflung. So absurd die Grundkonstellation auf der einen Seite zu sein scheint, so realistisch gerät die aus ihr entwickelte Beziehungsgeschichte. Diese Erzählung stellt sicherlich das humoristische Prunkstück der Sammlung dar.

Die Titelerzählung erzählt von einem geschiedenen Schriftsteller, den die beginnende Pubertät seiner bei seiner Frau lebenden Tochter in einige Verwirrung stürzt. Der Titel In Betwen the Sheets stammt übrigens aus dem Rolling-Stones-Song Live With Me, der in der Erzählung auch zitiert wird.

Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Bernhard Robben. detebe 21084. Zürich: Diogenes Verlag , 2008. 224 Seiten. 8,90 €.