Anne Fadiman: Ex Libris

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Anne Fadiman dürfte in Deutschland vor diesem Buch nur einigen wenigen Fachleuten, Soziologen und Medizinern, aufgrund ihres Buches »The Spirit Catches You and You Fall Down« bekannt gewesen sein. Sie ist die Tochter des in den Vereinigten Staaten bekannten Autors und Radiomoderators Clifton Fadiman, der unter anderem zahlreiche Anthologien und einen weitverbreiteten Lesekanon herausgegeben hat. Auch ihre Mutter ist Journalistin und Autorin. Anne Fadiman entstammt also einer Familie von Lesern, und sie hat diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fortgesetzt: Sie hat einen Leser geheiratet und ihre Kinder zeigen alle Anzeichen dafür, dass sie dieses Erbe fortsetzen werden.

Und genau das ist das Kernthema der meisten der 17 kurzen Essays, die der Band versammelt: Eine Familie von Lesern und ihre Abenteuer mit Bücher, ihre Verhältnisse mit (nicht »zu«!) Büchern, ihre Freuden und Leiden. Für die deutsche Ausgabe hat man den schönen englischen Untertitel »Confessions of a Common Reader«, der sich auf einen Buchtitel Virginia Woolfs stützt, in das etwas reißerische »Bekenntnisse einer Bibliomanin« verwandelt, denn wer will heutzutage schon ein »gewöhnlicher Leser« oder gar ein »gemeiner Leser« sein. Allerdings muss man auch zugestehen, dass Anne Fadiman Selbstbezeichnung höchstens noch als kokett durchgeht, denn ihre Essays machen wenigstens eines deutlich: Sie ist eine obsessive Leserin und eine passionierte Sammlerin antiqarischer Bücher.

Wie schon gesagt, nimmt ein Großteil der Essays bei sehr persönlichen Erfahrungen Fadimans seinen Anfang: Die Vereinigung ihrer eigenen Bibliothek mit der ihres Mannes (nachdem die beiden bereits fünf Jahre lang miteinander verheiratet waren und noch länger zusammen lebten), ihre Freude an ausgefallenen und langen Wörtern, die bereits in ihrer Kindheit angeregt und gefördert wurde, ihre Neigung, alle gelesenen Texte zugleich auch Korrektur zu lesen, ihre Neigung dazu, Kataloge zu lesen, die unterschiedlichen Lesertypen in ihrer Verwandt- und Bekanntschaft usw. usf. Das alles ist unterhaltsam und leicht geschrieben, ohne seicht zu werden. Immer ist Fadimans breiter Lektürehintergrund zu erkennen, ihre lebenslange Auseinandersetzung mit der englischen und nordamerikanischen Literatur.

Nur einmal holt Fadiman richtig aus: Mit »Nichts Neues unter der Sonne« schreibt sie einen Essay zum Thema Plagiat, der voller Zitate und Plagiate steckt, die sie selbst fein säuberlich in Fußnoten nachweist. Das ist sehr virtuos gemacht, denn jede im Essay beschriebene Form des Plagiats findet sich zugleich auch in ihm umgesetzt.

Eine vergnügliche Lektüre für obsessive Bücherfreunde und jene Vielleser, die es werden wollen.

Anne Fadiman: Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Diogenes Taschenbuch 23646. Zürich, 2007. 8,90 €.

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P. S.: Bei der in Fußnote 25 auf S. 146 unbekannten Quelle handelt es sich natürlich um Robert Mertons Buch »Auf den Schultern von Riesen«.

P. P. S.: An zwei Stellen (S. 111 u. 113) benutzt die Übersetzerin für das mit Apostroph abgetrennte Genitiv-s (im Volksmund auch »Deppen-Apostroph«) die nicht unpassende Bezeichnung »sächsischer Genitiv«. Hat einer das Original zur Hand und kann sagen, welche englische Phrase dem gegenübersteht?

»Sylvie und Bruno«

carroll_sylvieEin in mehrfacher Hinsicht merkwürdiges Buch: Es ist der umfangreichste Text von Lewis Carroll und wahrscheinlich auch einer seiner ungelesensten. Arno Schmidt hat das Buch sehr gelobt und an ihm seine These demonstriert, dass es sich bei Carroll um den »Kirchenvater aller modernen Literatur« handele, was nur eine knollige Ansicht mehr ist.

Für Arno Schmidt war das Buch wichtig, weil es ein Beipiel für das ist, was er ein »Längeres Gedankenspiel« nennt. Carroll konstruiert in »Sylvie und Bruno« einen Doppelroman, dessen beide Ebenen über den Ich-Erzähler miteinander verbunden sind: Auf der »Realitäts«-Ebene ist es eine Liebesgeschichte zwischen Arthur, einem jungen Freund des Ich-Erzählers, und Lady Muriel, die einander nach längeren Umständen endlich finden, dann wieder verlieren usw. usf. Ich will nicht zuviel verraten, wenn auch alles sehr vorhersehbar konstruiert ist. Spannend wird das Buch aber dadurch, dass der Erzähler regelmäßig in »irrliche« Zustände gerät, in denen er teils Beobachter, teils Mitspieler einer Elfenwelt ist, deren Protagonisten die Geschwister Sylvie und Bruno sind. Sylvie ist Brunos ältere Schwester, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, während Bruno noch ganz phantastisches Kind ist. Auf dieser zweiten Ebene herrschen ausgelassene Phantastik und Wortwitz, während die »Realität« des Romans zunehmend altbacken moralischer und bis an die Grenze des Erträglichen religiös durchtränkt wird.

Noch in einer weiteren Hinsicht ist das Buch merkwürdig zu nennen, denn obwohl es alles andere als bekannt ist, hat es seit 1980 gleich zweieinhalb Übersetzungen dieses Textes gegeben. Im Jahr 1980 erschien nämlich beim Robinson Verlag der erste Band des auch im Englischen zweibändigen Werkes in einer Übersetzung von Michael Walter. Sie trägt den ein wenig schmidtsch anmutenden Titel »Sylvie & Bruno. Eine Historie« und hat die weitere Merkwürdigkeit, dass gemäß Arno Schmidts Vorstellung vom »Längeren Gedankenspiel« die beiden Ebenen des Buches auch drucktechnisch kenntlich gemacht wurden: Behandelt der Text die »Realität«, so rückt der Textblock an den linken Rand der Seite, erzählt er von der Elfenwelt, so rückt er nach rechts. Das ist ohne Frage nach dem Vorbild von Schmidts Roman »Kaff auch Mare Crisium« so gestaltet worden. Offenbar war das Buch bei Robinson kein Erfolg, denn der zweite Band ist dort nie erschienen.

Einige Jahre später lieferte dann Goldmann eine vollständige deutsche Ausgabe in der Fassung Dieter H. Stündels unter dem etwas reißerischen Titel »Sylvie & Bruno. Ein phantastischer Nonsense-Roman«; mag sein, dass der Übersetzer am Untertitel unschuldig war, denn diese Übersetzung ist dann 1994 bei Häusser in Darmstadt nochmals gedruckt worden, nun allerdings mit dem ebenso frei erfundenen Untertitel »Die Geschichte einer Liebe«.

Und als sei dies alles nicht genug, hat im vergangenen Jahr dtv eine weitere Ausgabe vorgelegt, diesmal unter dem gänzlich unauffälligen Titel »Sylvie und Bruno. Eine Geschichte« und wieder in einer Übersetzung durch Michael Walter, der allerdings diesmal für die zahlreichen Gedichte des Buches auf die Mitarbeit von Sabine Hübner gebaut hat. Besonders wird diese Ausgabe durch die Tatsache, dass Walter den Text offensichtlich komplett neu übersetzt hat. Seine neue Übersetzung unterscheidet sich in Wortwahl und Duktus prägnant von der früheren, und wir haben hier den seltenen Fall, die zeitliche Verwerfung von 25 Jahren in der Entwicklung eines Übersetzers studieren zu können. Man möchte fast sagen: Schade, dass dies nicht an einem besseren Buch geschehen ist als gerade an Carrolls »Sylvie und Bruno« – aber man kann nicht alles haben.

Auch in der Neuübersetzung Walters ist das Buch für den modernen Leser nicht wirklich zu retten, wenn man einmal von eher theoretischen Annäherungen wie denen Schmidts absieht, die für Schmidts Werk sicherlich von Bedeutung sind, für den unverdorbenen unbelasteten Leser aber keine große Rolle spielen können. Die Feengeschichte des Buchs ist durchaus gelungen, und die zahlreichen Gedichte des Buches bringen die Art von Vergnügen, die man bei Carroll gewohnt ist. Was aber die »Realität« des Buches angeht, so ist sie – wie bereits angedeutet – in weiten Teilen eher hölzern und ermüdend; nur hier und da blitzt ein Gedankenspiel auf, das ahnen lässt, was Carroll möglich gewesen wäre, wenn er nicht um jeden Preis einen Roman hätte schreiben wollen. Von daher ist das Buch nur Lesern mit großer Geduld zu empfehlen oder solchen, die den Differenzen der beiden Walterschen Übersetzungen nachspüren wollen.

Lewis Carroll: Sylvie und Bruno. Eine Geschichte. Aus dem Englischen von Michael Walter und Sabine Hübner. Mit 92 Illustrationen von Harry Furniss. dtv 13289. München: dtv, 2006. 15,– €.

Die eine Hälfte des Verfalls

gibbon_printEs ist ein merkwürdiger Torso, den dtv im November 2003 mit seiner neuen, anspruchsvollen Übersetzung des Gibbon dem deutschen Publikum vorgelegt hat: Mit Michael Walter übersetzt einer der profiliertesten und besten Kenner des Englischen des 18. Jahrhunderts das bedeutende Geschichtswerk der vorromantischen Epoche neu und – lässt es zugleich bleiben. Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« ist im englischsprachigen Raum wahrscheinlich die bis heute meistgelesene umfangreiche geschichtliche Darstellung überhaupt. Das Buch sorgte aufgrund seines distanzierten Blicks auf das frühe Christentum im Römischen Reich schon während seines Erscheinens europaweit für Aufregung, und die ersten Bände wurden bereits vor Abschluss des Gesamtwerks erstmals ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat Gibbons monumentale Darstellung immer neue Auflagen sowohl des Gesamtwerks als auch diverser Ausgliederungen erlebt.

Der Text der neuen dtv-Ausgabe umfasst die ersten drei der insgesamt sechs Bände des Originals und endet mit dem Untergang des Weströmischen Reiches. Die nachfolgenden drei Bände, die die Geschichte Ostroms, sprich Byzanz’ bzw. Konstantinopels bis zur Eroberung der Stadt im Jahr 1453 enthalten, fehlen kommentarlos. Es findet sich weder eine herausgeberische Reflexion zu dieser Halbierung noch etwa die Ankündigung einer Fortsetzung oder Vervollständigung der vorgelegten Ausgabe.

Eine weitere Merkwürdigkeit tritt hinzu: Mit Michael Walter zeichnet, wie bereits gesagt, ein profilierter und stilistisch brillanter Übersetzer für den deutschen Text dieser Teil-Ausgabe verantwortlich, wenigstens für einen Teil des Teils. Denn Walter scheint seine Übersetzung nach dem Kapitel XXXII abgebrochen zu haben; alle Fußnoten, die Kapitel XXXIII bis XXXVIII und die den dritten Band des Gesamtwerks abschließenden »General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West« sind von Walter Kumpmann übersetzt. Auch diesen Umstand thematisiert die Ausgabe so wenig wie möglich, geschweige denn, dass sie ihn erklärt.

gibbon_fallAls sei dies alles nicht merkwürdig genug, hat sich der Verlag der Digitalen Bibliothek, die normalerweise für umfängliche und möglichst vollständige Ausgaben steht, entschlossen, den Torso des dtv-Verlages unverändert (inklusive der Druckfehler) und ohne Ergänzungen auf einer CD-ROM zu publizieren. Dabei ist das mit den »Ergänzungen« allerdings auch leichter hingeschrieben als getan, denn die letzte einigermaßen vollständige Ausgabe des »Verfalls und Untergangs« stammt vom Anfang des 19. Jahrhunderts und dürfte vermutlich in einem auffälligen stilistischen Kontrast zu Walters Übersetzung stehen. Und die Beigabe des englischen Textes hätte die digitale Ausgabe nicht nur im Preis bedeutend teurer (und damit unverkäuflicher) gemacht, sondern den fragmentarischen Charakter dieser deutschen Ausgabe entweder verdoppelt oder überaus auffällig gemacht, je nachdem ob man nur drei oder alle sechs Bände im Englischen beigegeben hätte.

Sieht man von all diesen Halbheiten einmal ab, so präsentieren die beiden Ausgaben den seit ungefähr 200 Jahren vollständigsten und sicherlich lesbarsten Gibbon in deutscher Sprache. Für den heutigen Leser ist weniger die sachliche Richtigkeit der Darstellung Gibbons en détail entscheidend als vielmehr sein erzählender Stil, sein origineller Blick und sein Humor, denn dies sind die Eigenschaften, die den konstanten Erfolg des Buches über die Jahrzehnte hinweg garantiert haben.

Mit dem ehrwürdigen Prokonsul [Gordian] wurde zugleich sein Sohn, der ihn als Legat nach Africa begleitet hatte, zum Kaiser erklärt. Er war weniger sittenstreng, doch im Wesen ebenso liebenswürdig wie sein Vater. Zweiundzwanzig anerkannte Konkubinen und eine zweiundsechzigtausend Bände umfassende Bibliothek bezeugten die Vielfalt seiner Neigungen, und wie seine Hervorbringungen beweisen, dienten beide Sammlungen mehr dem Gebrauch als zur Prahlerei.

Die Ausgabe wird ergänzt durch zahlreiche Bibliographien, ein Personenregister und einen hervorragenden, knapp 100 Seiten langen Essay von Wilfried Nippel über Gibbon. Zwischen der gedruckten und der digitalen Ausgabe besteht ein Preisunterschied von 48,– € und dies könnte ein Vermarktungsmodell für die Zukunft darstellen: Umfangreiche Werke, die im Taschebuch erscheinen, werden nach einigen Jahren als digitale Ausgaben auf den Markt gebracht, die so zum Taschenbuch des Taschenbuchs werden könnten. Die üblichen Vorteile einer digitalen Ausgabe mit der bewährten Software der Digitalen Bibliothek mit Volltextsuche, Lesezeichen, Notizen und Markierung verstehen sich als Dreingaben inzwischen ja beinahe von selbst.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. 6 Bde. dtv, 2003. Kartoniert, 2296 Seiten. 78,– €.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. Digitale Bibliothek Band 161. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Das witzigste Buch der Welt

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Anlässlich der stark beworbenen Neuausgabe der Übersetzung von Michael Walter beim Eichborn Verlag möchte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auf eines der witzigsten Bücher der Weltliteratur hinzuweisen: Laurence Sternes »Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman«. Es gibt nicht viele Bücher, die man in seinem Leben immer und immer wieder lesen kann, ohne dass sie ihren Reiz und Witz irgendwann einmal verlieren; der »Tristram Shandy« gehört sicherlich dazu.

Denn ungewöhnlich ist das Buch in beinahe jeder Hisicht. Aber langsam! Fangen wir mit dem an, was sich ohne zu große Verwirrung zu stiften, sagen lässt: »Tristram Shandy« ist zwischen 1759 und 1767 in neun Bänden in London erschienen. Sein Autor, Laurence Sterne (1713–1768), entstammte einer englischen Offiziersfamilie, war in Irland geboren worden, und zu dem Zeitpunkt, als er seinen Roman schrieb, seit 20 Jahren Geistlicher. Die ersten beiden Bände des »Tristram Shandy« machten den Autor über Nacht berühmt und zu einem gefeierten und gesuchten Gast der Londoner Salons. Auch in Paris, das er Ende 1762 auf dem Weg nach Südfrankreich besuchte, wurde er triumphal empfangen und gefeiert. Er war einer der Literaturstars seiner Zeit. Neben dem »Tristram Shandy« existiert noch eine Sammlung von Predigten und im Todesjahr 1768 erschien »A Sentimental Journey through France and Italy« in zwei Bänden. Damit ist Sternes Werk auch schon so gut wie ausgeschöpft.

Der Ich-Erzähler und Held des »Tristram Shandy« ist wahrscheinlich einer der ungewöhnlichsten, sicherlich aber der unordentlichste Erzähler der Weltliteratur. Von jedem Gedanken, jedem Einfall lässt er sich ablenken, immer fällt ihm noch etwas ein, das er noch kurz erzählen muss, bevor er mit seiner Geschichte weiterkommen kann, wobei er in der Abschweifung gleich die nächste Abschweifung beginnt und so weiter und so fort. Den Anfang seiner Lebensgeschichte macht er mit einem Bericht, beinahe schon einer Klage über seine eigene Zeugung:

Wenn doch mein Vater oder meine Mutter oder eigentlich beide – denn beide waren gleichmäßig dazu verpflichtet – hübsch bedacht hätten, was sie vornahmen, als sie mich zeugten! Hätten sie geziemend erwogen, wieviel von dem abhinge, was sie damals taten – daß es also nicht nur die Erzeugung eines vernünftigen Wesens galt, sondern daß möglicherweise die glückliche Bildung und ausgiebige Wärme des Körpers, daß vielleicht des Menschen Geist und seine ganze Gemütsbeschaffenheit, ja sogar – denn was wußten sie vom Gegenteile? – das Wohl und Geschick seines ganzen Hauses durch ihren damals vorherrschenden Seelen- und Körperzustand bestimmt werden konnte; – wenn sie, wie gesagt, das alles getreulich erwogen und überdacht hätten und dementsprechendvorgegangenwären, sowürde ich nach meiner Uberzeugung eine ganz andere Figur in der Welt gemacht haben als die, in welcher mich fortan der Leser dieses Buches erblicken wird.

(Übers. v. Rudolf Kassner)

Und nachdem er im Folgenden die Umstände seiner Zeugung mit einiger Sorgfalt »ab ovo« – um wie Tristram Shandy selbst mit Horaz zu sprechen – dargelegt hat, braucht der Erzähler immerhin bis ins dritte Buch hinein, um überhaupt bis zu seiner Geburt und zugleich Nottaufe vorzudringen. Im Weiteren erfahren wir, warum nach Auffassung der Kirche Kinder nicht mit ihren Müttern verwandt sind, was für eine geheimnisvolle Bewandnis es mit Nasen und Namen hat, wie und – im doppelten Sinne – wo Tristrams Onkel Toby in Flandern bei der Belagerung von Namur verletzt wurde und was diese Verletzung für Folgen zeitigte, wir kommen an der berühmten schwarzen und der noch berühmteren bunten Seite des Buches vorüber – jene ein Symbol der Trauer, diese ein Symbol der Buntscheckigkeit des Buches und des Lebens –, vermissen ein ganz und gar aus dem Buch herausgerissenes Kapitel, werden vom Erzähler zum Kapitelanfang zurückgeschickt, weil wir beim Lesen nicht gut genug aufgepasst haben, und was der Leseabenteuer mehr sind. »Tristram Shandy« ist eine solch übersprudelnde Quelle von Einfällen, Pointen, nichtsnutzigen Verweisen, falschen und richtigen Zitaten, philosophischen Weis- und Dummheiten, dass es eine reine Freude ist. In diesem Buch kann man versinken, die Welt vergesssen und sie wiederfinden. In jeglicher Hinsicht ein Zauberbuch.

Das Buch war im 18. Jahrhundert ein solch grandioser Erfolg, dass es nicht nur rasch in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt wurde, sondern dass es eine ganze Reihe von Nachahmern gefunden hat: Die Sterneiana sind auch in Deutschland eine wichtige Literaturtradition, die sich bis ins zwanzigste Jahrhundert fortgesetzt hat; aber davon müssen wir ein andermal erzählen.

Die nun bei Eichborn wieder aufgelegte Übersetzung Michael Walters ist die späteste und modernste Übersetzung des Textes. Die erste deutsche Übersetzung stammt von dem bedeutenden Verleger und Übersetzer Johann Christoph Bode und erschien 1774. Später ist das Werk noch des öfteren übersetzt worden; die Eindeutschungen von Seubert (1880) und Kassner (1937) dürften auch heute noch bedeutsame Alternativen darstellen. Dass sich schließlich Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer der besten deutschen Übersetzer – Michael Walter – daran gemacht hat, den »Tristram Shandy« neu ins Deutsche zu übertragen, hatte seine erste Ursache in einem Aufsatz Arno Schmidts. Der hatte in »Alas, poor Yorick!« (1963) nicht nur eine der damals noch im Druck befindlichen Überarbeitungen der Bodeschen Übersetzung auf gut irokesisch massakriert, sondern verstärkt auch auf den seiner Meinung nach weitgehend ignorierten sexuellen Grundbass des Buches hingewiesen.

Michael Walter machte es sich nun zur Aufgabe, eine Übersetzung zu liefern, die gerade diesen Basso continuo sexueller Anspielungen und Wortspiele deutschen Lesern sichtbar machen sollte. Dabei ist ihm dieser Klang zum Teil recht deutlich geraten, hier und da sicher auch deutlicher als im Original. Aber wenigstens eines kann der deutsche Leser der Walterschen Übersetzung nur mit Mühe: Ignorieren, dass es sich bei »Tristram Shandy« auch um ein Buch des sexuellen Witzes handelt.

Ohne jede Frage ist die Waltersche Eindeutschung grandios und virtuos geraten. Aber vielleicht ist es doch besser, das Buch zuerst einmal – mehrmals lesen wird man es ohnehin, wenn man es denn einmal mit Genuss gelesen hat – in der Übersetzung von Rudolf Kassner zu lesen (Diogenes Taschenbuch 20950). Auch Kassner hat die sexuelle Ebene des Textes durchaus wahrgenommen und mitübersetzt, ist aber deutlich dezenter als Walter. Und so mag es der einen oder dem anderen eher gelingen, auch auf die anderen Töne zu hören, die bei Walter manchmal drohen im allzureichen Glockenklang unterzugehen. Aber ganz gleich, welchen Zugang man auch wählt, für »Tristram Shandy« gilt der alte Satz Lichtenbergs: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Laurence Sterne: Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys. Aus dem Englischen von Rudolf Kassner. Zürich: Diogenes, 1982. (detebe-Klassiker 20950). Broschiert, 810 Seiten. 14,90 €.

Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Ins Deutsche übertr. u. hrsg. v. Michael Walter. Neuausgabe Frankfurt: Eichborn, 2006. 852 Seiten. 39,90 €.

George Orwell: 1984

Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwändiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangenheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.