In eigener Sache: Fliegende Goethe-Blätter

Da mir derzeit wieder einmal allerhand über Goethe zufliegt, habe ich mich endlich aufgerafft, ein altes Projekt umzusetzen:

Die Fliegenden Goethe-Blätter erscheinen in unregelmäßigen Abständen. Sie enthalten höchst subjektive Überlegungen, Kritiken, Betrachtungen und Anmerkungen Ihres Verfassers.

Die Fliegenden Goethe-Blätter wollen nicht neutral, nicht ausgewogen, nicht politisch oder anderweitig korrekt sein, sie wollen nicht recht haben oder recht behalten. Sie wollen nicht darstellen, was man »auch sagen« könnte. Sie gehen von der Grunderfahrung aus, dass zu Goethe nicht nur alles bereits gesagt worden ist, sondern dass auch alles noch einmal gesagt werden wird – und dass es keine Dummheit gibt, die nicht irgendwann einen Dummen findet, der sie verteidigt.

Die Fliegenden Goethe-Blätter sind weder einer bestimmten Richtung der Goethe-Forschung, noch einer bestimmten Methode oder Theorie der Germanistik oder der Germanistik schlechthin verpflichtet. Auch anderen Theorien gegenüber verhalten sie sich nach Möglichkeit synkretistisch.

Goethe ist den Fliegenden Goethe-Blättern kein Objekt der Verehrung, weder Dichterfürst noch Übermensch, weder Zentrum deutscher Geistigkeit noch hölzerne Literaturscheuche. Goethe ist der Glücks- und Pechfall der deutschen Literatur, eitler Selbstbespiegler, der vor einem Fensterkreuz ohne Glas sich wendet und dennoch wohlgefällig sein eigen Abbild zur Kenntnis nimmt.

Alles weitere wird sich weisen müssen …

Zum Anfang habe ich die hier mit der Zeit zu Goethe entstandenen Sachen dorthin kopiert. Von nun an werden hierorts nur in einigen besonderen Fällen Hinweise auf Rezensionen aktueller Lektüre zu oder von Goethe zu finden sein; Notizen, Glossen, Gedanken zu Goethe und seinem Umfeld etc. werden nur am neuen Ort zu finden sein.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren!

broder-kapitulieren Henry M. Broder ist zweifellos der bedeutendste deutschsprachige Polemiker unserer Zeit. Das Wort Polemiker hat seinen Ursprung im altgriechischen Wort für Krieg, πóλεμος. Ein Polemiker ist also ein Kriegstreiber, im besten Fall ein Krieger, jedenfalls jemand, dem es darum geht, einen Konflikt durchzukämpfen, nicht ihn beizulegen oder zu vermeiden. Danach muss man Broders Äußerungen bewerten, nicht entlang der Frage, ob er Recht hat, die Wahrheit vertritt, seine Meinung hilfreich ist oder ähnliches.

In diesem Buch geht es um den Konflikt der islamischen Welt mit dem Westen. Broders Aufhänger ist der sogenannte Karikaturen-Streit, den die dänische Zeitung Jyllands-Posten 2005 durch die Veröffentlichung eines Dutzends von Karikaturen auslöste, die sich mit dem Propheten Mohammed beschäftigten. Die Reaktionen in der islamischen Welt waren aufgeregt und heftig, getragen in der Hauptsache von Gläubigen, die selbst das obskure Objekt des Zorns nie gesehen hatten und blind den Ratschlägen ihrer geistlichen Führer folgten. Der Westen reagierte auf diese Inszenierung religiöser Empörung mit einer Welle von Verständnis, aber auch mit einer Diskussion über die Grenzen und den verantwortlichen Umgang mit der Meinungsfreiheit.

Broders Behandlung dieses Falles genügt als Beispiel, um das ganze Buch in seiner Methode und Tendenz darzustellen. Für Broder liegt der Fall ganz einfach: Meinungsfreiheit ist eine westliche Errungenschaft, ein Erfolg der Aufklärung, ein Zeichen der Fortschrittlichkeit unserer Gesellschaft und alles in allem beinahe so etwas wie ein Wert an sich. Dagegen stellt er den Versuch der islamischen Welt, alle Menschen unter ihre Wertordnung zu zwingen und auch solchen Menschen, die durchaus keine Moslems sind, Vorschriften darüber zu machen, wie sie zu leben und was sie zu sagen oder gar denken haben. Nachdem die Welt erst einmal in diese Alternative zerlegt worden ist, fällt die Wahl der richtigen Seite leicht: Der Westen hat Recht, die islamische Welt Unrecht.

Und statt vor den lautstarken Forderungen der Moslems einzuknicken, sollte der Westen seine Wertordnung aktiv – und wahrscheinlich ebenso lautstark – verteidigen, also wahrscheinlich den aufgeregten Moslems mitteilen, sie sollten die Schnauze halten und sich um ihren Dreck kümmern. Es heißt hier »wahrscheinlich«, weil Broders Buch genau in diesem Teil ein wenig dünn ausgefallen ist. Während er nicht maulfaul die öffentliche Reaktion des Westen anprangert, sind bei ihm die Vorschläge alternativen Handelns etwas kurz gekommen. Was alle Welt falsch macht, weiß jeder Stammtisch-Idiot – nicht, dass er es auch so schneidig formulieren könnte wie Broder –, wenn man aber fragt, was denn stattdessen hätte geschehen sollen, so versandet das Repertoire an Vorschlägen rasch im Banalen. Natürlich weiß Broder das, und deshalb versucht er auch nicht einmal ansatzweise, konstruktive Vorschläge zu machen.

Broders Position markiert deutlich die Voraussetzungen des Polemikers: Der pubertäre Glaube daran, dass man im Besitz der Wahrheit ist, ein nicht weniger pubertäres Bewusstsein von der eigenen Bedeutung und eine ausgeprägte Neigung zur Kritik anderer Positionen. Bei Broder kommt – zum Glück – noch das schriftstellerische Talent für scharfe und pointierte Formulierungen hinzu, und fertig ist die Laube.

Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen, und ich halte Broders Stil für eine ebenso befruchtende wie notwendige Abgrenzung zu dem journalistischen Sumpf, dem sich ein Leser sonst allenthalben gegenübersieht. Broders Polemiken machen in aller Schärfe deutlich, welch rückgratloses und fatalistisches Gelaber heute die Szene des politischen und gesellschaftlichen Feuilletons beherrscht. Allerdings an und für sich genommen sind sie gänzlich belanglose Aufgeregtheiten, ähnlich relevant wie das Verbrennen einer dänischen Fahne durch eine Horde aufgehetzter Muslims in Riad.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin: wjs, 2006. Pappband, 168 Seiten. 16,– €.

Goethe ist allemal Beckenbauer

Langsam wird es hier Zeit für eine Kategorie »Goethe in der modernen Welt«. Da schreibt Stefan Benz bei Echo Online, angeregt durch ein angebliches Zitat von Claus Peymann:

Goethe ist allemal der Beckenbauer der Schaubühne: schöne Strategien, ausgefeilte Spielzüge, aber wenn’s hart auf hart geht, zieht er doch lieber zurück. Da ist Shakespeare ganz anders, vorne ein deftiger Reißer und hinten ein blutiger Klopper. Wo der kickt, rollen Köpfe. Eisenfuß Brecht aus Peymanns Traditionsverein kommt nur noch selten auf Linksaußen zum Einsatz, nachdem er mehrfach Sponsoren aus der Wirtschaft beschimpft hat. In der Abwehr steht die antike Dreierkette Aischylos, Euripides und Sophokles wie festgemauert. Dahinter lauert Torwart Samuel Beckett und seine Abseitsfalle des Absurden. Molière sorgt im Mittelfeld für Spielwitz, Ibsen ist ein Dauerläufer, der dahin geht, wo’s weh tut, während Tschechow meist nicht vom Fleck kommt, aber wortreich darüber meckern kann, warum das Spiel so langweilig ist.

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Nachtrag 14.09.2007: In der Financial Times Deutschland macht sich Georg Blank zum Depp, indem er zwar Stefan Benz nachplappert, es aber auch nicht wirklich auf irgend einen Punkt bringt:

Zum Glück gab es ein paar Geistesgrößen, die noch immer hervorgekramt werden, wenn man den Intellekt der Deutschen belegen will. Auch wenn der Vergleich manchmal hinkt, wie Claus Peymann, Intendant der Ruhr-Triennale, eindrucksvoll belegt: „Schiller ist für mich der Gerd Müller unter den Autoren: Goethe ist besser, aber Müller schießt die Tore.“

Ist Goethe dann der Beckenbauer? Technisch versiert, sehr erfolgreich und noch lange nach seiner aktiven Zeit sehr populär? Für solche Fußball-Fragen ist in Deutschland der Innenminister zuständig. „Ich bin nicht der oberste Techniker der Nation, ich muss nur dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden“, sagte Wolfgang Schäuble (CDU). Er möchte nicht Sportlern, sondern Terroristen die Rote Karte zeigen und lieber Computer als Urin durchsuchen.

P.G. Wodehouse: Monty im Glück

wodehouse-monty- Dieser humoristische Roman von P.G. Wodehouse stammt aus dem Jahr 1935 und liegt hier in der deutschen Erstübersetzung vor. Über Wodehouse im Allgemeinen und die in der Edition Epoca vorliegenden Übersetzungen durch Thomas Schlachter habe ich anlässlich von »Onkel Dynamit« schon einiges geschrieben, das nicht wiederholt zu werden braucht. »Monty im Glück« (»The Luck of the Bodkins«) ist nach »Heavy Weather« der zweite Roman von Wodehouse, in dem Montague »Monty« Bodkin als Protagonist auftritt. Monty gehört in das Umfeld des Londoner Drones Clubs, in dem, neben anderen, auch Wodehouse’ bekannteste Figur Bertie Wooster und Pongo Twistleton (vgl. »Onkel Dynamit«) Mitglieder sind.

»Monty im Glück« spielt aber in der Hauptsache weit entfernt von London, nämlich auf der Überfahrt des Passagierschiffs R.M.S. Atlantic von Europa nach New York. Monty nimmt an der Überfahrt nicht teil, weil er nach Amerika will, sondern ausschließlich, weil sich seine Verlobte Gertrude Butterwick auf dem Schiff befindet, die als Mitglied der englischen Damenhockey-Nationalmannschaft auf dem Weg in die Vereinigten Staaten ist.

Gertrude hat Monty kurz vor Abfahrt des Schiffes aus für ihn vorerst unerfindlichen Gründen die Verlobung aufgekündigt, womit Monty durchaus nicht einverstanden ist. Es stellt sich auch nur zu bald heraus, dass alles auf einem Missverständnis beruht, und die Verlobung ist rasch wiederhergestellt. Könnte sich Monty nun in aller Stille entfernen, hätte das Buch ein vorzeitiges Ende gefunden, aber durch die gemeinsame Überfahrt für sechs Tage auf engstem gesellschaftlichen Raum aneinander gefesselt, findet Gertrude problemlos weitere Anlässe für immer erneute Auflösungen des Verlöbnisses, wobei sich die Lage von Mal zu Mal zu dramatisiert. Der allzu ängstliche Leser darf sich aber angesichts des Titels über den letztendlichen Ausgang beruhigen. Auch für die Brüder Reginald und Ambrose Tennyson, seines Zeichens minder begabter Schriftsteller, der irrtümlich für Alfred, Lord Tennyson gehalten wird, die sich um Mabel Spence, die Schwägerin des Filmmoguls Ivor Llewellyn, der von seiner Gattin genötigt wird, ein Perlenkollier am US-amerikanischen Zoll vorbeizuschmuggeln, bzw. um die Schauspielerin Lottie Blossom bemühen, geht die Geschichte letztlich gut aus, ganz zu schweigen von Albert Peasemarch. (Dieser Satz wurde in der Absicht konstruiert, die Schlichtheit der zwischenmenschlichen Beziehungen dieses Romans aufscheinen zu lassen.) Mit anderen Worten:

Männer sind in dieser Beziehung einfach goldig. Man kann sie wie den letzten Dreck behandeln, doch wenn’s auf die Schlußumarmung mit Abblende zugeht, ist auf ihre putzmuntere Präsenz Verlaß.

»Monty im Glück« zeigt Wodehouse einmal mehr als brillanten Konstrukteur von Komödien auf abgezirkeltem Raum und mit klar begrenztem Personal. Auch dieser Roman könnte, so wie er ist, als Vorlage für eine klassische Screwball-Komödie dienen. Alle Konflikte, Wendungen und Irrungen sind von langer Hand vorbereitet und bedingen einander mustergültig. Alle eingeführten Figuren verfolgen ihre eigenen Absichten und tragen zugleich zur Verwirrung des großen Ganzen bei, und je besser ein Plan zur Lösung eines Konflikts ausgedacht ist, desto sicherer erzeugt er die nächste Stufe des Chaos. Und ganz en passant stellt Wodehouse auch hier wieder seine Meisterschaft des ebenso lakonischen wie pointierten Dialogs unter Beweis:

»Ich könnte einfach nicht schauspielern. Ich käme mir furchtbar bescheuert vor.«
»Tun Sie das nicht ohnehin?«
»Doch, aber nicht auf diese Art.«

Ein Buch für alle, die gut geschriebene Unterhaltung zu schätzen wissen.

P.G. Wodehouse: »Monty im Glück«. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2005. Pappband, Fadenheftung, 351 Seiten. 22,90 €.

Erinnerungslücke

Das Thema Karl May und Arno Schmidt scheint gerade in der Luft zu liegen: Nun hat die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff die Karl-May-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin besucht und bei der Süddeutschen Zeitung (Nr. 201, Samstag/Sonntag, 1./2. September 2007, S. 13) einen Bericht darüber abgeliefert. Darin erinnert sie sich nicht nur daran, ein Indianer sein gewollt, sondern auch Arno Schmidts »Sitara und der Weg dorthin« gelesen zu haben. Zumindest an letzterem sind berechtigte Zweifel angebracht. Lewitscharoff schreibt:

Man nehme als Beispiel Arno Schmidt, ein radikal Faszinierter, dem Karl May wie ein Alb auf der Brust lag, der sich fast ein Leben lang mit ihm beschäftigte, um den falschen Bruder schließlich mit hohem Aufwand von sich wegzustoßen. In meiner Erinnerung ist sein „Sitara und der Weg dorthin“ eher ein verzweifeltes denn bewunderungswürdiges Werk der Affektsezierung und Affektverpuffung. Zweifellos hatte Amo Schmidt recht, wenn er im Marterpfahl den Phallus erkannte und in zig Landschaftsbeschreibungen eine weibliche Topographie aus Busen und Schößen beschrieben sah. Doch mit Skalpell, Pinzette und vulgär-freudianischem Besteck rückte Meister Schmidt dem toten May derart verbohrt zu Leibe, dass er im Pathologenkittel so komisch wirkte wie sein hassgeliebtes Opfer.

Fangen wir mit dem Gröbsten an: Lewitscharoff behauptet, Schmidt habe in den Landschaftsbeschreibungen Mays »eine weibliche Topographie aus Busen und Schößen beschrieben« gesehen. Nun besteht ja die Grundthese von Schmidts Buch gerade darin, dass die Mayschen Landschaften Ausdruck einer unterdrückten Invertiertheit des Autors waren, also durchweg Repräsentationen männlicher Hintern darstellen. Diese Behauptung durchzieht das Buch mit einer solchen Penetranz, dass es schon ein sehr merkwürdiger Erinnerungsfehler ist, das aus der Landschaft herausgelesene Geschlecht zu verwechseln. Wie konnte es dazu kommen?

sitara-1 Schmidt hat für die Erstausgabe des Buches zwei kleine Zeichnungen angefertigt, die vom Verlag als Vorsatz vorn und hinten im Buch eingesetzt wurden. Die vordere ist links zu sehen und zeigt das Schema der Mayschen Landschaften: Eine Wüste oder Ebene durchzogen von einer Schlucht, in deren Mitte sich ein meist kreisrunder See findet. Dieses Muster findet Schmidt immer und immer wieder, und es bestimmt – um einen weiteren Schritt abstrahiert – auch den Aufbau jenes Planeten Sitara in Mays »Das Märchen von Sitara«. Von Busen und Schößen keine Spur.

sitara-2Wendet man sich aber dem hinteren Vorsatzpapier zu, findet man dort eine ganz andere Zeichnung. Hier lässt die skizzierte Landschaft leicht die von Lewitscharoff angeführten Assoziationen zu. Nun muss man das Buch allerdings gelesen haben, um auf den letzten Seiten zu erfahren, dass hier gar keine Landschaft Mays abgebildet ist, sondern die idealtypische Landschaft bei Adalbert Stifter, wenigstens in Schmidts Lektüre. Schmidt führt diesen zweiten Fall als Unterstützung seiner allgemeinen These von der »unbewußten Abbildung von Leibreizen in der Literatur« an, wie das Phänomen in »Kundisches Geschirr« genannt wird. Ob etwas und eventuell was an Schmidts These dran ist, kann hier getrost unerörtert bleiben.

Dass Lewitscharoff über ein Buch schreibt, das sie entweder nicht gelesen oder nicht verstanden oder dessen Inhalt sie gleich wieder vergessen hat, ist eine Sache. Dass sie Schmidts humoristisches Buch über den Schwachkopf May, den Schmidt als Schriftsteller im Großen und Ganzen ganz richtig einzuschätzen wusste (»ein gewaltiger Pfuscher«, »einwandfrei […] ein unerschöpfliches Chaos von Kitsch & Absurditäten« und so passim), zu einem verzweifelten Werk kleinredet und vom Autor statt dem Buch behauptet, komisch zu sein, ist eine andere. Das beweist entweder hochgradige Humorlosigkeit oder aber Unaufrichtigkeit und Eitelkeit. Wollen wir für sie hoffen, dass sie einfach zu dumm war, um über das Buch lachen zu können.

Goethes Stoßseufzer

faz.net meldet die Aktivitäten von »Goethes Stellvertreter auf Erden«, womit sie Hilmar Hoffmann meint, worauf man ja auch nicht so ohne weiteres käme, und spekuliert über dessen Innenleben:

Wahrscheinlich hat sich der frühere Goethe-Präsident Fausts Stoßseufzer zu Herzen genommen: „Ach Gott! Die Kunst ist lang! Und kurz ist unser Leben!“

Wahrscheinlich hätte sich Goethe hier Fausts Stoßseufzer zu Herzen genommen:

O! glücklich! wer noch hoffen kann
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen.
Was man nicht weiß das eben brauchte man,
Und was man weiß kann man nicht brauchen.

Brieffreundschaft

Philipp Mattheis präsentiert auf jetzt.de, einem Ableger von sueddeutsche.de, eine Liste von 33 Glaubenssätzen der 18-Jährigen:

Jedes Jahr veröffentlicht das Beloit College in Wisconsin, USA, die „Mindset List“ für Dozenten. Die Liste soll ihnen helfen, sich besser in die Welt der heute 18-Jährigen einzudenken und ihren Unterricht deren Gedankenwelt anzupassen. Viele der 1989 in den USA geborenen Schüler wissen einfach nicht, dass Deutschland einmal geteilt war und haben, dank elektrischer Fensterheber, noch nie ein Autofenster herunter gekurbelt. Typisch – blöde Amis, könnte man jetzt sagen. Aber wer der 1989 in Deutschland Geborenen weiß noch, dass „Twix“ mal „Raider“ hieß?

Um älteren Lesern die Welt der heute 18-Jährigen näher zu bringen, haben wir 33 Glaubenssätze zusammen gestellt.

Das allein wäre hier nicht weiter erwähnenswert, aber Glaubenssatz Nr. 25 ist literarischer Natur:

25. Der letzte Mensch, der eine „Brieffreundschaft“ hatte, war Goethe.

Unglaublich, dass die Kids angeblich noch wissen, was eine »Brief- freundschaft« ist; noch unglaublicher, dass sie den Namen Goethe in diesen Zusammenhang einordnen können.

            Doch rufen von drüben
Die Stimmen der Geister,
Die Stimmen der Meister:
»Versäumt nicht zu üben
Die Kräfte des Guten.

Hier winden sich Kronen
In ewiger Stille,
Die sollen mit Fülle
Die Tätigen lohnen!
Wir heißen euch hoffen.«

Allen Lesern ins Stammbuch (12)

Schon oft hatte der Herzog über das große Problem nachgegrübelt, einen Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die kondensierte Last von Hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehn, so, daß man keins umstellen könnte.

Der auf diese Weise abgefaßte Roman, in eine oder zwei Seiten zusammengedrängt, wäre eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuß.

Joris-Karl Huysmans
Gegen den Strich

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit

wodehouse-onkeldynamit Erst jetzt bin ich durch einen Hinweis in de.rec.buecher und einen Auszug in der Süddeutschen Zeitung darauf aufmerksam geworden, dass seit einigen Jahren in der Schweiz eine neue Ausgabe der Bücher von P.G. Wodehouse veranstaltet wird. Das ist sehr zu begrüßen, da die alten Übersetzungen von Fred Schmitz wohl ein Haupthindernis für eine größere Popularität von Wodehouse in Deutschland dargestellt haben: Schmitz’ Übersetzungen waren nur bemüht komisch und – und das ist das Entscheidende – trafen den durchgehend ironischen Ton Wodehouses nicht. Es ist daher wundervoll, dass sich nun mit Thomas Schlachter ein Übersetzer der Sache angenommen hat, dem es mit scheinbar leichter Hand gelingt, den deutschen Texten ein den Originalen adäquates Flair zu geben.

In England ist Wodehouse selbstverständlich ein Klassiker der Unterhaltungsliteratur und in zahllosen Ausgaben und Anthologien erhältlich. In Deutschland hingegen scheint er in der Hauptsache durch die TV-Produktion der Geschichten um »Jeeves & Wooster« einige Bekanntheit erlangt zu haben. Es ist also vielleicht nicht ganz falsch, hier wenigstens einige Worte über den Autor zu verlieren: Wodehouse wurde 1881 im englischen Guilford geboren. Sein Vater war zu dieser Zeit Richter in Hongkong, so dass Wodehouse seine Schulzeit in der Hauptsache in Internaten verbrachte und viel seiner Ferienzeit bei seinen Tanten (die wahrscheinlich die Vorlage für die matronenhaften und tyrannischen Tanten Bertie Woosters geliefert haben dürften). Da sich die Familie ein Studium für ihren Sohn nicht leisten konnte, begann Wodehouse seine berufliche Karriere bei einer Bank, wechselte aber schon nach zwei Jahren ins journalistische Fach und landete schließlich als Drehbuch-Autor in Hollywood. Dort verdiente er eine Zeit lang gutes Geld und ließ sich dann in Frankreich nieder. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weigerte er sich beharrlich, die Lage irgendwie ernst zu nehmen und wurde daher von den Deutschen gefangen gesetzt und ein Jahr lang interniert. Anschließend nötigte man ihn, von Berlin aus über den Rundfunk anti-alliierte Propaganda zu verbreiten, was ihm in England viele Sympathien kostete. Nach dem Krieg lebte Wodehouse in New York und wurde 1955 US- amerikanischer Staatsbürger. Wodehouse starb 1975. Sein umfangreiches Werk enthält einige der markantesten englischen Charaktere, wobei viele seiner Figuren in diversen Erzählungen und Romanen auftauchen. Die zahlreichen Serien und ihre Zusammenhänge aufzuzeigen, würde hier zu weit führen.

Bei Onkel Dynamit, dem Titelhelden des hier vorgestellten Bandes, handelt es sich um Frederick Altamont Cornwallis Twistleton, den 5. Graf von Ickenham, auch schlicht Onkel Fred, wie ihn sein Neffe Reginald »Pongo« Twistleton nennt. Pongo ist verlobt mit Hermione Bostock und hat sich auf den Weg gemacht, die Eltern seiner Braut in Ashenden Manor aufzusuchen, um sich vorzustellen. Unterwegs macht er Station bei seinem Onkel Fred, der gerade seine Gattin zum Schiff in Richtung Karibik gebracht hat, wo sie einer Hochzeit beiwohnen will. Onkel Fred sieht in der Abwesenheit seiner Gattin die günstige Gelegenheit mit seinem Neffen zusammen einmal wieder richtig auf den Putz zu hauen, wovon der – unverständlicherweise – nichts wissen will. Am nächsten Tag macht er sich auf nach Ashenden Manor, wo er binnen Kurzem nicht nur eines der Prunkstück aus der afrikanischen Sammlung seine Schwiegervaters in spe fallen lässt, sondern auch dessen Lieblingsbüste zerstört. In seiner Verzweiflung, wenigstens diesen zweiten Lapsus verbergen zu können, ersetzt er die Büste durch eine andere, die seine ehemalige Verlobte, Sally Painter, bei seinem Onkel zur Aufbewahrung gegeben hat. Natürlich braucht Sally diese Büste genau in diesem Moment dringend zurück und infolge eines missglückten Austauschversuchs entschließt sich Onkel Fred, sich unter falschem Namen in Ashenden Manor einzuquartieren. In seiner herzlichen, offenen und der Wahrheit nur wenig verpflichteten Art gelingt es Onkel Fred in kürzester Zeit ein allgemeines Chaos herzustellen, in dem er aber nicht, wie zu erwarten wäre, untergeht, sondern das er als fröhlich weiter fabulierendes Genie souverän beherrscht. Selbst die größten Katastrophen bringen ihn nicht aus der Ruhe, und so gerät am Ende alles ganz so, wie er sich das von Anfang an ausgemalt hat. Und zwischendurch bleibt noch Zeit für lehrreiche erzähltechnische Reflexionen wie etwa diese:

Kritische Stimmen werden hier anmerken, es sei ein an den Haaren herbeigezogenes und, rein handwerklich betrachtet, höchst unmotiviertes Zusammentreffen, daß in dieser bewegten Nacht sage und schreibe sechs Bewohner von Ashenden Manor unabhängig voneinander auf die Idee kamen, sich in den Salon zu begeben, um dort der Karaffe habhaft zu werden, die Jane, das Stubenmädchen, am Abend hingestellt hatte; andere werden darin lediglich jene Unausweichlichkeit erkennen, die sich in den großen griechischen Tragödien solcher Beliebtheit erfreute. Wie sagte doch Aischylos einmal zu Euripides: »Es geht nichts über die Unausweichlichkeit«, und Euripides antwortete, genau das habe er sich auch schon oft gedacht.

Wie ein Kurat mit Masern, ein in einen Ententeich gestoßener Polizist, ein verliebter, aber schüchterner Brasilien-Forscher und eine rasante Schriftstellerin mit all dem zusammenhängen, ist in wenigen Worten nicht nachzuerzählen und muss von jedem Leser selbst heraus- gefunden werden. Nur soviel sei gesagt, dass es sich um eine der amüsantesten und zugleich elegantesten Geschichten handelt, die ich seit Langem gelesen habe.

Neben der bereits gelobten Übersetzung, die Wodehouse wohl zum ersten Mal angemessen auf Deutsch präsentiert, soll die Ausstattung der Bändchen nicht unerwähnt bleiben: Sie kommen mit Fadenheftung daher, haben mit 12,5 × 17 cm ein etwas ungewöhnliches, aber nicht unangenehmes Format, ein wundervoll geblümtes Vorsatzpapier und eine sorgfältige Typographie (wenn man einmal von dem unglücklichen Hurenkind auf S. 114 absieht). Auf den populären Unsinn eines Schutzumschlages wird verzichtet, stattdessen liegt der Waschzettel auf ein kleines Pappkärtchen aufgedruckt bei, das man gleich als Lesezeichen verwenden kann. Alles in allem sind die Bändchen eine Freude und dem Inhalt ganz angemessen. Wollen wir hoffen, dass sie recht viele Leser finden und uns noch zahlreiche weitere Bände Wodehouse beschert werden.

P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit. Aus dem Englischen von Thomas Schlachter. Zürich: Edition Epoca, 2001. Pappband, Fadenheftung, 303 Seiten. 19,95 €.