Shortlists (1)

Markus Kolbeck aka Dostojewskij macht uns auf eine für Deutschland angeblich neue Modewelle aufmerksam: Shortlists. Solche Listen sind in allen Lifestylebereichen eine hilfreiche Orientierung, da sie in der Regel nach dem Muster »Blinde betreiben Farbberatung« erstellt werden. Auch Möchtegernlesern wird der Weg gewiesen!

Auch ich werde mich daher nicht lumpen lassen und eine neue Rubrik einführen, die in lockerer Folge Listen für Kenner und Liebhaber liefern wird. Heute:

10 Bücher, über die Sie beruhigt mitreden können, ohne sie gelesen zu haben:

  1. Die Bibel – zum einen ist sowieso klar, was drin steht, zum anderen kennt man ja die beiden wichtigen Teile aus dem Kino, zum dritten: Haben Sie sich mal den Stil von dem Autor angekuckt?
  2. Johann Wolfgang von Goethe: Faust – unfraglich ein Meisterwerk! Wenn auch der zweiten Teil seine Längen hat.
  3. Karl Marx: Das Kapital – unbedingt den Witz von dem Mann erzählen, der »Das Kapital« von Karl May liest und sich wundert, dass so wenig Indianer drin vorkommen! Ansonsten genügt der Satz: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«
  4. Herman Melville: Moby-Dick – betonen Sie, dass jetzt endlich eine deutsche Ausgabe vorliegt, die einen Bindestrich im Titel hat. Erwähnen Sie außerdem »diesen Übersetzer-Streit, den es da mal gegeben hat«.
  5. James Joyce: Finnegans Wake – ist anerkannt unlesbar! Vergessen Sie nicht, sich über diese »angebliche deutsche Übersetzung« zu mokieren.
  6. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – hat von den anderen auch keiner gelesen, so lässt sich rasch Einigkeit erzielen. Sagen Sie: »In dem Fall liegt Reich-Ranicki aber mal daneben!«
  7. Arno Schmidt: Zettel’s Traum – sagen Sie einfach, dass Sie einen Bekannten haben, der das Buch besitzt. Nennen Sie aufs Geratewohl irgendein Gewicht für das Buch, das ihnen unvorstellbar hoch vorkommt; wenn Sie sich zu sehr vergriffen haben sollten, lachen Sie nachher und meinen es ironisch. Echte Kenner erkennt man daran, dass Sie den Titel mit Apostroph aussprechen!
  8. Hans Henny Jahnn: Fluß ohne Ufer – erwähnen Sie, dass der Autor früher Orgelbauer war und später Pferde-Urin getrunken hat, weil er das für gesundheitsfördernd hielt. Lassen Sie den Namen Hubert Fichte fallen und ziehen Sie wissend die Augenbrauen hoch!
  9. Patrick Süskind: Das Parfüm – haben ohnehin alle gelesen – oder wenigstens den Film gesehen, also einfach mitnicken! Fragen Sie: »Kennen Sie auch ›Die Taube‹?« Und wieder nicken! Lassen Sie sich nicht auf die Fangfrage ein, ob in »Die Taube« eine Gehörlose vorkommt!
  10. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft – einfach nur nicken und lässig abwinken: Klar, versteht sich von selbst!

 

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen …

chateaubriand Ein Band aus der kleinen und feinen Bibliotheca Anna Amalia, die die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Wiedereröffnung der Anna-Amalien-Bibliothek zu Weimar am 24. Oktober 2007 herausgibt. Die Reihe umfasst ein Dutzend historische Ausgaben und ist – im Gegensatz zu den zurzeit gängigen Buchreihen von Zeitungen und Zeitschriften – gut ausgestattet: Schuber, geprägter Leineneinband, Fadenheftung und Lesebändchen sind Grundausstattung; hinzukommen eine großzügige Typographie und zwei Nachworte: eines, das Autor und Text in den kulturhistorischen Kontext einstellt und eines, das die reproduzierte Ausgabe und ihre Geschichte dokumentiert. All das schlägt sich natürlich auch im Preis nieder: Im Abonnement kostet die komplette Reihe immerhin 248 €; allerdings geht von jedem Buch 1 € als Spende an die Anna-Amalien- Bibliothek.

Zudem soll lobend erwähnt werden, dass die Reihe auf die sogenannte behutsame Modernisierung der Rechtschreibung unter Wahrung des Lautstandes verzichtet, sondern die Texte so darbietet, wie sie in ihrer Zeit gedruckt wurden. Von einheitlicher Orthographie – dieser Wahnvorstellung des 20. Jahrhunderts, von der wir uns zum Glück inzwischen unfreiwillig wieder entfernen – kann also keine Rede sein. Das stört beim Lesen auch gar nicht, ganz im Gegensatz zu dem, was manche immer wieder behaupten mögen.

Der hier besprochene Band enthält Auszüge aus den Memoiren Chateaubriands, die 1816, dem Zeitpunkt des Erscheinens dieser Auswahl, noch lange nicht abgeschlossen waren. Chateaubriand war ein für seine Zeit weitgereister Mann, so dass ein Großteil seiner Erinnerungen zugleich Reisebeschreibungen waren – ein Genre, das sich in der zweiten Hälfte des 18. und im ganzen 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute. Grundlage der deutschen Ausgabe war eine 1815 in London erschienene zweibändige Auswahl, von der der Leipziger Verleger Brockhaus in seiner französischen Dependance den ersten Band nachdrucken ließ. Noch im selben Jahr erschien dann bei Hilscher in Dresden die deutsche Übersetzung durch Wilhelm Adolf Lindau, der sich als Übersetzer etwa Walter Scotts einen Namen gemacht hatte. Dies blieb bis 1829 die einzige deutsche Ausgabe aus den Memoiren Chateaubriands. (Diese Informationen stammen im Wesentlichen alle aus dem Nachwort von Jan Volker Röhnert.)

Wie schon der Titel »Erinnerungen aus Italien, England und Amerika« besagt, hat der Band drei lokale Schwerpunkt: Im Italien- Teil geht es hauptsächlich um Rom – das sehr belehrt beschrieben wird – und Neapel, wobei hier eine Besteigung des Vesuv inklusive einem Einstieg in der Krater den Höhepunkt bildet. Abschließend werden anlässlich des Mont Blanc einige nicht unwitzige Beobachtungen über die Alpen vorgebracht, von denen hier bei nächster Gelegenheit eine Probe zu lesen sein wird.

England kommt weit weniger lokalisiert vor als vielmehr in einem allgemeinen kulturellen Vergleich mit Frankreich. Hier ist ohne Zweifel die Polemik gegen Shakespeare ein Glanzlicht, da auch Chateaubriands polemisches Unverständnis aufscheinen lässt, wie bedeutend das Ansehen Shakespeares zu seiner Zeit auch in Frankreich gewesen sein muss. Die nachfolgenden Betrachtungen über Young langweilen dagegen heute wohl eher und sind höchstens wegen der verwendeten Kategorien des Literaturgeschmacks noch von einiger Relevanz.

Der Amerika-Teil ist eher anekdotisch und – wenn man nicht sentimentalische Landschaftsschilderungen schätzt – unerheblich. Er schließt mit einem ausführlichen Referat aus Mackenzies Reiseberichten, das für die französischen Leser damals interessant gewesen sein mag, heutige Leser aber eher ermüdet.

Insgesamt ein hübsch gemachtes Buch, sowohl als leichte Nebenbei- Lektüre als auch als Geschenk durchaus zu empfehlen.

François-René de Chateaubriand: Erinnerungen aus Italien, England und Amerika. Aus dem Französischen von Wilhelm Adolf Lindau. Nachdruck der Ausgabe Dresden: Hilscher, 1816. Bibliotheca Anna Amalia. München: Süddeutsche Zeitung, 2007. Leinen, Fadenheftung, 164 Seiten, Lesebändchen. 19,90 €.

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P. S.: Vielleicht ist es sinnvoll, hier auch auf eine vollständigere Ausgabe der Chateaubriandschen Erinnerungen hinzuweisen: Erinnerungen von jenseits des Grabes. Meine Jugend. Mein Leben als Soldat und als Reisender 1768-1800. Neubearb., hrsg. u. Nachw. v. Brigitte Sändig. Neuried: ars una, 1994. Kartoniert, 376 Seiten. 43,50 €. – Auch dies ist, soweit ich sehe, nur eine Auswahl, aber zurzeit die einzige lieferbare deutschsprachige Alternative zum zuvor besprochenen Band.

Ein Peter-Weiss-Revival?

Jens-Fietje Dwars beginnt sein Buch »Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie« mit einer traurigen, aber nichtsdestoweniger richtigen Einschätzung der Bekanntheit und Beliebtheit von Peter Weiss: »In den vergangenen fünfzehn Jahren der ›Wiedervereinigung‹ war kein deutscher Autor von Rang weniger präsent als Peter Weiss.« [S. 10] Er überschreibt das einleitende Kapitel, in dem dieser Satz steht, allerdings auch mit der Zeile »Ein Unzeitgemäßer kehrt zurück«. Das ist Ausdruck dessen, wovon der Titel dieser Biographie spricht: Hoffnung. Vielleicht sogar der Hoffnung, dass sein Buch mit zu dieser Rückkehr beitragen wird. Wenigstens dies dürfte sich als illusorisch erweisen.

Das soll nicht heißen, dass diese Biographie schlecht ist; sie ist es nicht. Lesbar geschrieben, von einem persönlichen Zugang zum Autor und seinen Texten getragen, ist dieses Buch eine gute und umfassende Einführung in das Werk von Peter Weiss. Eine wirkliche Biographie ist es nicht; dafür kommen die genaueren zeitlichen, sozialen und persönlichen Umstände des Lebens von Peter Weiss besonders in der zweiten Hälfte zu sehr am Rande vor. Aber eine gute Einführung ins Werk ist es. Es ist auch ein Buch, in dem man nicht nur den Autor Peter Weiss kennenlernt, als der er berühmt geworden ist, sondern auch den Maler, als der er angefangen hat, und den Filmemacher, der er wurde, bevor er als Schriftsteller seinen Durchbruch hatte. Dwars widmet sich genauso gründlich und eingehend der »romantischen« Phase im Werk, wie er später die politische darstellt. Er wird Weiss in der einen ebenso gerecht wie in der anderen, und auch der Übergang von der einen zur anderen leuchtet uns nach der Lektüre wenigstens halbwegs ein. Dwars schreibt auch keine Hagiographie seines Autors:

Weiss hat sich das dreibändige Kapital ins Reisegepäck gelegt, als er im Sommer 1965 mit seiner Frau für ein paar Wochen nach Italien fuhr. In Bibione bei Venedig machten sie mit Hans Werner Richter Ferien. Der erzählt, wie verbissen der Lernbegierige in der sengenden Sonne über den fast tausend Seiten des ersten Bandes saß, von denen er nach drei Tagen zehn gelesen hatte. Dann ließ er das Buch im Hotel, wurde beim Baden von einem giftigen Fisch gestochen und laborierte den Rest des Urlaubs an Sonnenbrand. [S. 179 f.]

Alles, was Dwars schreibt, ist brav, richtig und fleißig. Aber es wird Peter Weiss und sein Werk nicht retten, wird zu keiner Renaissance der Weiss-Lektüre, zu keiner Wiederaufführung seiner Stücke – von denen, alles in allem betrachtet, vielleicht noch »Der Turm« (von dem mir bis heute unbegreiflich ist, warum es nicht viel bekannter ist) als merkwürdiges Pendant zu Wedekinds »Frühlingserwachen« und »Marat/Sade« als echtes Theaterfest Chancen auf eine Wiedererweckung hätten –, zu keiner Neuauflage, geschweige denn Erweiterung seiner Werkausgabe führen. Weiss wird vergessen bleiben aus denselben Gründen, warum er berühmt geworden ist: Weil man ihn nicht verstanden hat! Vielleicht sogar, weil er sich selbst so schlecht verstanden hat. Weil er dort auf Inhalte pochte, wo er seiner künstlerischen Kraft, der Eigenart seiner Sprache hätte vertrauen sollen. Weil er vielfach nur als ideologischer Teil einer politischen Bewegung wahrgenommen worden ist – und sich selbst auch so begriffen hat –, was den unverstellten Blick auf sein Werk bis heute behindert.

Es kommt eine Selbstdeutung des Autors hinzu, die zu einem weiteren Mißverständnis geführt hat, das auch Dwars mit seiner Darstellung bestärkt: Peter Weiss’ Prosa sei in der Hauptsache autobiographisch. So arbeitet sich Dwars immer wieder an der Feststellung ab, die »Wirklichkeit« – was auch immer das in der Biographie eines Autors ist – sei gar nicht so gewesen, wie Weiss es in »Abschied von den Eltern« oder »Fluchtpunkt« darstelle. Nun, deshalb steht ja auch »Erzählung« bzw. »Roman« als Gattungsbezeichnung unter den Titeln. Selbst bei der »Ästhetik des Widerstandes« wirft Dwars zusammen mit dem Autor erneut die fatale Frage auf, ob es sich bei dem Roman um den Entwurf einer »Wunschbiographie« handele:

Ein Wunschbild, sagen die Kritiker des Romans seit 25 Jahren, der nur eine »Wunschautobiographie« sei. So hatte Weiss den ersten Band selbst 1975 im Gespräch bezeichnet: als Experiment, wie sein Werdegang verlaufen wäre, wenn er in proletarischem Milieu begonnen hätte. Der Bürgersohn dichtet sich eine Arbeitervita an und versucht, seinen versäumten Antifaschismus nachträglich wiedergutzumachen, das ließe sich unter Schizophrenie verbuchen. [S. 257]

Viel schlimmer: Das verstellt den Blick auf das Werk und macht es zugleich beliebig. Wenn es nicht gelingt – und es wird nicht gelingen – Peter Weiss als Schriftsteller für die Leser zurückzugewinnen, wird ihm das gleiche Schicksal widerfahren, wie so vielen anderen »Autoren von Rang« – denn das ist Weiss unbestritten –: Sie werden im kleinen Kreis der Liebhaber und Spezialisten gelesen werden, auch die germanistische Forschung wird sie nicht gänzlich vergessen, aber »präsent« werden sie nicht wieder werden. Aber das muss nicht unbedingt ein schlechtes Schicksal für einen Autor sein; wenn wir ehrlich sind, ergeht es z. B. Jean Paul auch nicht viel anders …

Als Biographie zu lückenhaft, als Einführung ins Werk aber sehr zu empfehlen! Auf eine Rettung von Peter Weiss für unsere Zeit müssen wir aber leider wohl noch warten.

Jens-Fietje Dwars: Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss. Eine Biographie. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, 302 Seiten. 24,95 €.

Von der Höhe der Alpen (15)

But the Matterhorn of Robert Walmsley’s success was not scaled until he married Alicia Van Der Pool. I cite the Matterhorn, for just so high and cool and white and inaccessible was this daughter of the old burghers. The social Alps that ranged about her – over whose bleak passes a thousand climbers struggled – reached only to her knees. She towered in her own atmosphere, serene, chaste, prideful, wading in no fountains, dining no monkeys, breeding no dogs for bench shows. She was a Van Der Pool. Fountains were made to play for her; monkeys were made for other people’s ancestors; dogs, she understood, were created to be companions of blind persons and objectionable characters who smoked pipes.

O. Henry

Ian McEwan: Abbitte

mcewan_abbitteWhat a book! Ian McEwan war mir bislang nur dem Namen und einigen Titeln nach geläufig, und ich will gleich vorweg betonen, dass mich die Dichte und Intensität dieses Buches überwältigt haben! »Abbitte« ist ein gewaltiges Buch, ein Buch der Reflexion, der Introspektion, der erlebten Rede. Die wenigen Figuren, die im Fokus stehen, sind von einer Einprägsamkeit und Schlüssigkeit, wie man sie nur selten findet. Die sparsame Handlung ist der Figurenpsychologie deutlich nachgeordnet, obwohl es gerade die ausgefeilte Anfangskonstellation ist, die die differenzierte psychologische Darstellung fundiert und überhaupt erst ermöglicht.

Der Roman ist in drei Teile und einen Epilog gegliedert: Der erste Teil erzählt von einem einzigen Sommertag des Jahres 1935 auf dem Schloss der Familie Tallis. Anwesend sind außer der Hausherrin Emily Tallis ihre beiden Töchter Cecilia und Briony, 23 und 13 Jahre alt, Robbie Turner, der vom Hausherrn geförderte Sohn einer Bediensteten, sowie die Nichte Lola und zwei Neffen der Hausherrin. Im Laufe des Tages kommt noch Cecilias und Brionys Bruder Leon hinzu, der als Gast einen jungen, erfolgreichen Unternehmer, Paul Marshall, mitbringt. Der Hausherr befindet sich in London, wo ihn seine beruflichen Pflichten in einem Ministerium und eine Geliebte festhalten.

Die eigentliche Handlung des ersten Teils, der etwa die Hälfte des Romans umfasst, zusammenzufassen, fällt schwer, da er überaus reich an Perspektivwechseln und Mißverständnissen ist. Er ist in 13 Abschnitte gegliedert, die jeweils aus einer wechselnden personalen Perspektive erzählt sind. Wesentlich ist, dass sich an diesem Tag aus der Kinder- und Jugendfreundschaft zwischen Cecilia und Robbie eine leidenschaftliche Liebe entwickelt, was aufgrund einer Reihe von Zufällen, Mißverständnissen und Fehlleistungen in Briony den Eindruck wachruft, bei Robbie Turner handele es sich um einen »Psychopathen«, ohne dass sie eine genaue Vorstellung davon hat, was das bedeuten soll. Dieses Vorurteil, dessen Entstehung skrupulös nachgezeichnet wird, führt sie dazu, Robbie wenige Stunden später der Vergewaltigung ihrer Kusine Lola zu bezichtigen, obwohl sie sich schon zu diesem Zeitpunkt darüber im Klaren ist, dass sie den Täter im Dunkel der Nacht nicht wirklich erkannt hat.

Teil zwei spielt etwa fünf Jahre später: Robbie Turner ist nach dreieinhalb Jahren im Gefängnis in die Armee entlassen worden und befindet sich zusammen mit zwei Unteroffizieren auf der Flucht vor den deutschen Truppen Richtung Dünkirchen. Er ist verletzt, trägt einen Schrapnellsplitter in sich herum. Wir erfahren, dass sich Cecilia von ihrer Familie getrennt hat, in der Zeit, in der Robbie im Gefängnis war, Krankenschwester geworden ist und auf Robbies Rückkehr nach England wartet. Auch ihre Schwester Briony, die eigentlich Schriftstellerin hatte werden wollen, ist inzwischen in der Ausbildung zur Krankenschwester, und wir lesen in einem Brief Cecilias an Robbie, dass sich Briony inzwischen bewusst ist, was ihre Aussage angerichtet hat und sie sich auch sicher ist, wer der tatsächliche Vergewaltiger Lolas war. Der Abschnitt enthält eine intensive Schilderung der Flucht Robbies unter wiederholten Angriffen der deutschen Luftwaffe. Robbie und seine Begleiter erreichen zwar Dünkirchen, aber der Bericht wird zunehmend von den Fieberphantasien Robbies überlagert und bricht ab, bevor wir erfahren, ob Robbie lebend ausgeschifft wurde.

Teil drei berichtet über annähernd denselben Zeitraum wie Teil zwei, diesmal aus Brionys Sicht: Sie ist als Lehrschwester in einem Londoner Krankenhaus beschäftigt und muss die erste Welle verletzter Soldaten, die aus Frankreich herüberkommen, versorgen. Es sind diese Erfahrungen, die Briony endgültig erwachsen werden lassen und sie dazu bringen, sich der Verantwortung für ihre Lüge zu stellen. Am nächsten freien Tag besucht sie die Hochzeit ihrer Kusine Lola mit Paul Marshall und sucht anschließend ihre Schwester auf, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen hat. Dort findet sie auch Robbie vor, der ihr aufträgt, ihre Eltern von ihrer Lüge in Kenntnis zu setzen, sie auch vor einem Notar zu bezeugen und ihm einen Brief zu schreiben, in dem sie ausführlich die Umstände schildert, die zu ihrer Lüge geführt haben. Nicht versöhnt, aber doch einander wieder angenähert, trennen sich Cecilia, Robbie und Briony auf dem Londoner U-Bahnhof Balham. Der Abschnitt schließt mit der Unterschrift:

BT
London 1999

Die weiteren Überraschungen, die der Epilog noch bereit hält, sollen hier nicht verraten werden.

Sowohl die intensiven Beschreibungen der Kriegsschrecken als auch die Figurenpsychologie zeichnen dieses Buch aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so klare und zugleich detaillierte und stimmig entwickelte psychologische Portraits gleich mehrerer Figuren gelesen zu haben. Ohne Frage eines der letzten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts!

Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2002. Lizenzausgabe für die SPIEGEL-Edition: Hamburg, 2006. Pappband, 507 Seiten. 9,90 €.

Volker Hage: John Updike

hage_updikeUpdike gehört zu jenen nordamerikanischen Autoren, die über die Jahre auch eine treue deutsche Leserschaft erworben haben. Seit dem Weltbestseller »Ehepaare« (»Couples«, 1968, dt. 1969) ist das Erscheinen eines Romanes von Updike auch in Deutschland ein wichtiges literarisches Ereignis. Updike ist mit einer bewundernswerten Produktivität und Kontinuität gesegnet und hat weit mehr als das von ihm zu Anfang seiner Karriere angestrebte Soll von einem Buch pro Jahr vorgelegt. Etwa alle zwei Jahre erscheint ein umfangreicher Roman und man ist schon sehr beschäftigt, wenn man auch nur als Leser mit Updikes Produktion Schritt halten will.

Volker Hage hat seit 1983 sechs umfangreiche Interviews mit John Updike geführt und kann wohl als einer der deutschen Kenner des Werks bezeichnet werden. Mit diesem Band legt er die erste deutsche Biographie Updikes überhaupt vor, dessen Romane komplett, dessen Erzählungen weitgehend und dessen Essays und Gedichte wenigstens in Auswahl auf Deutsch vorliegen. Da das äußere Leben Updikes nicht so sehr abwechslungsreich verlaufen ist, ist das schmale Bändchen zugleich eine Einführung in das Werk, die die Romane (inklusive des 2006 erschienenen Buchs »Terrorist«) und die wichtigsten Erzählungen in den Mittelpunkt stellt.

Hage geht mit Updike insgesamt sehr freundlich um, selbst an den Stellen, an denen er seine Bücher offensichtlich nicht besonders goutiert: So fällt etwa die Besprechung von »Terrorist« ungewöhnlich distanziert aus, zugleich lobt Hage an dem Buch aber, was er nur loben kann. Eine solche Herangehensweise ist für eine so kurze und zugleich konkurrenzlose Biographie sicherlich angemessen.

Allerdings handelt es sich bei dem Büchlein in anderer Hinsicht um eine Mogelpackung: Umfang, Layout und Aufbau des Bandes machen ihn zu einem typischen Vertreter der »rororo Monographien«. Nun scheint man bei Rowohlt schließlich doch bemerkt zu haben, dass man sonst über keine Biographie des Hausautors Updike verfügt, und so hat man sich entschlossen, den Band durch einen festen Pappeinband und einen Schutzumschlag aufzuwerten. Diese »Zusatzausstattung« lässt man sich vom Käufer mit einem satten Aufschlag honorieren: Mit 16,90 € kostet das Buch beinahe das Doppelte eines Bandes der Monographien-Reihe. Die Verantwortlichen des Rowohlt-Verlages mögen sich einmal das Preis-Leistungs-Verhältnis der Reihe »dtv portrait« anschauen, die zwar nur mit einem Softcover, dafür aber mit Fadenheftung ausgestattet ist – und das zum selben Preis wie die »rororo Monographien«.

Das Buch kann uneingeschränkt zur Einführung empfohlen werden, macht aber zugleich das Fehlen einer umfangreichen und kritischen Updike-Biographie spürbar.

Volker Hage: John Updike. Eine Biographie. Reinbek: Rowohlt, 2007. Pappband, 159 Seiten. 16,90 €.

Ein guter Jahrgang / Ein gutes Jahr

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»Ein guter Jahrgang« von Peter Mayle ist ein seichter, routiniert geschriebener Unterhaltungsroman über den Londoner Börsenmakler Max Skinner, der, gerade als er seinen Job hingeworfen hat, erfährt, dass sein Onkel Henry verstorben ist und ihm ein Weingut in der Provence vermacht hat. Da er sowieso nichts Besseres zu tun hat, fährt er nach St. Pons im Luberon, um sich anzuschauen, ob sich das Gut gewinnbringend verkaufen lässt. Die weitere Handlung ist ebenso beliebig wie unerheblich: Ein wenig Verbrechen, ein bißchen Liebesgeschichte, eine uneheliche Tochter Henrys usw. usf. Ein Buch zum Zeitvertreib, das auch nicht viel länger als einen Sommertag hält.

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Entstanden ist die Idee zu diesem Buch aus einem Gespräch zwischen Ridley Scott und Peter Mayle (beide in der Provence ansässige Engländer, Nachbarn und Freunde) auf der Silversterfeier Mayles im Jahr 2002 über die Erfahrungen, die ein Engländer in Frankreich so machen kann. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass Scott nur wenige Monate nach Erscheinen des Romans in der Provence frei nach der Buchvorlage einen Film gedreht hat: »Ein gutes Jahr«. Der Film ist hochkarätig besetzt (Russell Crowe, Albert Finney, Didier Bourdon), ansonsten aber ebenso seicht und routiniert wie das Buch. Das Drehbuch hat erheblich in die Romanvorlage eingegriffen, insbesondere die Frauengestalten sind weit weniger eindimensional und blass als bei Mayle. Ein ganz netter Film, der einmal mehr zeigt, dass Ridley Scotts Filme vom Licht her konzipiert sind und nicht von der Handlung.

Peter Mayle: Ein guter Jahrgang. Aus dem Englischen von Ursula Bischoff. München: Blessing, 2004. Pappband, 288 Seiten. 18,– €.

Ein gutes Jahr. Ridley Scott, USA, 2006. DVD (Region 2), 20th Century Fox. Länge: ca. 113 Minuten. Sprachen: Deutsch und Englisch. Extras: Kommentar (inkl. Making-of) von Regisseur und Drehbuch-Autor. FSK: o. Altersbeschr. Preis: ca. 18,– €.

Miniaturen (2)

Quinten ging mit seiner Blockflöte zum Weiher, in die Umarmung der Rhododendren. Unbenutzt lag das Instrument den ganzen Nachmittag in seinem Schoß; als es dämmerte, blieb er vor seiner Hütte sitzen. Es war ein bedeckter Frühlingstag, es ging kein Wind, und durch das ölig glänzende Wasser zog ab und zu das Spiegelbild eines Vogels.

Harry Mulisch
Die Entdeckung des Himmels

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

mulischAngesichts des bevorstehenden 80. Geburtstags von Harry Mulisch habe ich mich entschlossen, endlich einen seiner Romane zu lesen: »Die Entdeckung des Himmels« hat es immerhin auf Platz 25 der ZDF-Liste der Lieblingsbücher der Deutschen geschafft, noch vor »Die Entdeckung der Langsamkeit« und »Die unerträgliche Seichtigkeit des Leims«. Aber wer weiß schon, ob das ein ausreichendes Qualitätskriterium ist.

»Die Entdeckung des Himmels« spielt auf zwei Ebenen: Zum einen im jüdisch-christlichen und eventuell auch moslemischen Himmel, wo sich zwei offenbar geistige Potenzen über ein geheimnisvolles Projekt unterhalten, »das Retournieren des Testimoniums« [S. 416]. Der überwiegende Teil des Textes handelt aber in ganz irdischen Verhältnissen: Erzählt wird die Geschichte von drei bzw. vier Personen: Onno Quist, Sohn eines ehemaligen Ministerpräsidenten der Niederlande und während der meisten Zeit Berufspolitiker, Max Delius, Sohn eines ehemaligen Kriegsverbrechers und einer Jüdin, von Beruf Astronom, sowie Ada Brons, Tochter eines Antiquars und Cello-Spielerin. Hinzukommt ihr mutmaßlich durch direktes himmliches Eingreifen zu dritt gezeugter Sohn Quinten (wegen des ⅔-Frequenzverhältnisses der Quinte so benannt), der sich als Erfüller eines himmlischen Auftrags erweisen wird.

Bevor es aber auf den letzten etwa 200 von gut 800 Seiten dazu kommt, müssen erst einmal die Eltern aufeinandergehetzt werden, unter Verwirrungen nach Kuba reisen, um dort das Kind zu zeugen, in einem Unwetter einen Unfall erleiden, bei dem Ada von der mutmaßlichen Mutter zu einer komatösen Gebärerin reduziert wird, Onno Politiker und anschließend Einsiedler, Max von einem Meteoriten erschlagen werden und Quinten umständlichst aufwachsen und sich schließlich auf die Suche nach seinem untergetauchten Vater machen, den er dann auch zufällig in Rom trifft.

Danach dreht der Roman vollständig durch: Quinten identifiziert in Rom die Papstkapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufgrund wüster Spekulationen als Lagerort der echten mosaischen Steintafeln mit den zehn Geboten. Quinten und Onno finden und rauben diese Tafeln in einer nächtlichen Aktion und bringen sie nach Jerusalem, wo sich Quinten in einem von innen verschlossenen Zimmer und die Tafel in einem verschlossenen Safe in Nichts auflösen – natürlich kehren sie in die himmlischen Gefilde zurück, von wo aus das Ganze mit englischer List inszeniert wurde.

Sehen wir von dem hanebüchenen Ende des Romans einmal ab und befreien wir ihn damit zugleich von dem himmlischen Drahtzieher, so ist das Buch in Teilen ein ganz angängiger und interessanter Roman. Der Autor hat zwar eine schwere Neigung zum Geschwätz und dazu, seine Klippschulbildung seinen Figuren als raunendes Geheimnis in den Mund zu legen, aber abgesehen davon ist der Text recht ordentlich geraten. Wenn er auf 400 Seiten zusammengekürzt worden und dem Autor ein vernüftiges Ende eingefallen wäre, hätte das ein wirklich gutes Buch sein können. Aber so müssen wir damit leben, dass uns ständig Nachhilfe erteilt wird, dass Quinten – und eben leider auch zugleich dem Leser – die Struktur des Katholizismus erklärt wird: »Die Päpste betrachten sich als Nachfolger Petri.« [S. 700] Achwas? – Wir bekommen Unterricht in amerikanischer Literaturgeschichte:

»Warum hast du ihn [den Raben] Edgar genannt?«

»Nach Edgar Allan Poe natürlich. Der hat ein berühmtes Gedichte über einen Raben geschrieben. The Raven.« [S. 696]

What you not say! – Und auch die Musikgeschichte kommt zu ihrem Recht:

Max war noch geblieben. Seine Kenntnisse über Beethovens Große Fuge in B-Dur, Opus 133, von einem bulgarischen Quartett aufgeführt, hatten auf eine kubanische Medizinstudentin großen Eindruck gemacht, eine große Frau mit langen, schlanken Fingern, die sie hoch auf seinen Oberschenkel legte, als er ihr erzählte, daß das Stück aus dem Schlußteil von Opus 130 entstanden sei. [S. 195 f.]

Mit solch intimen Kenntnissen der Streichquartett-Literatur ist natürlich das Verführen großer Frauen – gemeint sind »lange«, nicht »große« – eine Kleinigkeit. Tja, man müsste Klavierspielen können! Von der dreimaligen Wiederholung des Wortes »groß« in diesem einen Absatz wollen wir dabei einmal gnädig absehen, denn wir kennen das Original nicht.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, das Buch sei durchweg so provinziell, aber es ist es eben über weite Strecken. Einigen Passagen liegt eine sorgfältige und umfassende Recherche des Autors zugrunde, aber eine viel zu große Menge des Textes erschöpft sich in hohlem Geschwätz besonders der beiden Hauptfiguren Max und Onno. Dem stehen auf der anderen Seite eine durchaus einfühlende und originelle Beschreibung etwa der späten 60er-Jahre oder die beinahe durchweg interessanten Nebenfiguren wie etwa Theo Kern oder Verloren van Themaat gegenüber. Wenn nur der Autor nicht so geschwätzig wäre … Aber das erwähnte ich wohl schon?

Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt. Rowohlt Taschenbuch 13476. 871 Seiten. 9,90 €.

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P. S.: Nur um keine Unklarheit aufkommen zu lassen: Spekulationen über die Moral des Romans, also die Bedeutung der Tatsache, dass der Himmel den mosaischen Dekalog wieder zurücknimmt, sind hier absichtlich unterblieben. Dem mögen sich Berufenere widmen!