Beinahe der komplette Kraus

Kraus_FackelKarl Kraus ist am 12. Juni 1936 in Wien an den Folgen einer Embolie gestorben; ihm ist dadurch erspart geblieben, die Erfüllung seiner schlimmsten Befürchtungen miterleben zu müssen. Am 1. Januar 2007, 70 Jahre nach dem Tod des Autors, sind seine Schriften gemeinfrei geworden. Dies wurde dazu genutzt, die beiden großen Sammlungen Krausscher Schriften in elektronischer Form erneut zu publizieren.

Zum Werk von Karl Kraus gibt es im wesentlichen diese beiden Zugänge: Entweder man kann sich durch einzelne Jahrgänge der »Fackel« arbeiten oder man nimmt die Werkausgabe Christian Wagenknechts zu Hand, die das Werk hauptsächlich entlang der von Kraus selbst zusammengestellten und herausgegebenen Bücher erschließt. Beide liegen nun auch in elektronischer Form vor: »Die Fackel« bei Zweitausendeins, die viele Jahre lang auch die gedruckte Ausgabe verlegt haben, als Sonderband der Digitalen Bibliothek, die »Schriften« in der Hauptreihe der Digitalen Bibliothek als Bd. 156.

kraus_schriftenBeide Ausgaben werden wohl kaum die gedruckten Fassungen ersetzen, bei der »Fackel« noch eher als bei den »Schriften«, bei der sich manch einer wohl überlegen wird, ob er die 70 cm Regalbrett nicht doch für etwas anderes verwenden kann. Beide Ausgaben haben aber natürlich vor den gedruckten Ausgaben den Vorteil der Volltextsuche, der bei einem so umfangreichen Werk wie dem Krausschen (»Die Fackel« hat in der elektronischen Ausgabe mehr als 34.550 reine Textseiten, die »Schriften« immerhin auch noch knapp 14.700) gar nicht hoch genug zu veranschlagen ist. So ist die Zitatsuche bei Kraus – per fas et nefas – endlich auf ein solides Fundament gestellt, wenigstens zum großen Teil, denn vor allem die »Schriften« weisen doch Scanfehler auf, die Kraus selbst sicherlich wenig Freude gemacht hätten (der Buchstabe »l« wird etwa an einigen Stellen als »i« wiedergegeben; aus Felix Salten wird also Felix Saiten, was – besonders im Schwäbischen – wieder ein ganz eigenes Geschmäckle mit sich bringt). Aber derlei sind Kleinigkeiten, die sich mit ein wenig Übung durch geschicktes Suchen ausgleichen lassen.

Die elektronische »Fackel« enthält dabei nicht nur den kompletten Text aller 922 Ausgaben, sondern zudem alle Seiten im Faksimile, das durch einen einfachen Rechtsklick in den Text aufgerufen werden kann. Die »Schriften« bringen auch die erschließenden Anhänge Christian Wagenknechts (inklusive aller Abbildungen), die in der Abfolge so etwas wie eine detaillierte Werkgeschichte zu Karl Kraus liefern.

Trotz der ungeheuren Textmenge liegt hiermit aber immer noch nicht der »ganze Kraus« vor. Bei der »Fackel« wurde leider darauf verzichtet, die der gedruckten Ausgabe bei Zweitausendeins mitgegebene Aktausgabe der »Letzten Tage der Menschheit« von 1918/1919 zu reproduzieren, was eine gute Vergleichbarkeit mit der in den »Schriften« gelieferten überarbeiteten und erweiterten Fassung von 1921 erlaubt hätte. Den »Schriften« wiederum fehlen – wie schon in der Druckfassung – unkommentiert die Frühschriften, hier am wichtigsten sicher »Die demolierte Literatur« und »Eine Krone für Zion«, die auch weiterhin nur in einer hochpreisigen Ausgabe bei Suhrkamp lieferbar sind. Hier hätte es die Kraus-Fachleute, an die sich diese elektronischen Ausgaben ja in der Hauptsache richten, sicherlich begrüßt, wenn man die »Schriften« um die drei Bände der »Frühen Schriften« ergänzt hätte.

Abgesehen von solch eher marginalen Einwänden kann man die elektronischen Ausgaben nur begrüßen. Die von mir immer wieder als vorbildlich empfundene Software der Digitalen Bibliothek rundet den guten Gesamteindruck der beiden Ausgaben ab.

Die Fackel (1899–1936). Digitale Bibliothek Sonderband 34. Frankfurt: Zweitausendeins, 2007. 1 DVD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 128 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; DVD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; DVD-ROM-Laufwerk. 19,95 €.

Karl Kraus: Schriften. Digitale Bibliothek Band 156. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 75,– €.

Von der Höhe der Alpen (10)

If Earth’s whole orb, by some due-distanced eye,
Were seen at once, her towering Alps would sink,
And levell’d Atlas leave an even sphere.
Thus Earth, and all that earthly minds admire,
Is swallow’d in Eternity’s vast round.
To that stupendous view when souls awake,
So large of late, so mountainous to man,
Time’s toys subside; and equal all below.

Edward Young
The Complaint, or Night Thoughts
on Life, Death and Immortality

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter

Widmer_MutterUrs Widmer genießt (oder erträgt) gerade einige Aufmerksamkeit, da er den Friedrich-Hölderlin-Preis 2007 erhalten hat. Widmer produziert seit vielen Jahren mit großer Kontinuität, ohne groß im Fokus einer breiteren literarischen Öffentlichkeit zu stehen. Ich kannte bislang nur seine Prosaversionen von »Shakespeares Geschichten«, die er ergänzend zu Walter E. Richartz Übersetzungen der Nacherzählungen von Mary Lamb verfasst hatte. »Der Geliebte der Mutter« wurde mir empfohlen, und so habe ich die Gelegenheit genutzt, als der Text in der Buchreihe der »Süddeutschen Zeitung« erschien.

Es handelt sich in der Hauptsache um die Geschichte einer unglücklichen Liebe: Clara Molinari – deren vollständigen Namen wir erst nach viel zu vielen Seiten erfahren – verliebt sich als junge Frau in Edwin, einen begabten jungen Dirigenten aus ärmsten Verhältnissen. Edwin hat eine Weile lang eine für ihn eher gleichgültige Affäre mit ihr, heiratet dann aber reich und gesellschaftsfähig und sieht Clara nie wieder. Clara wiederum, die während der Zeit der Affäre den finanziellen Ruin ihrer Familie und den Tod ihres Vaters am Tag nach dem Schwarzen Freitag 1929 ertragen muss und die Abtreibung eines Kindes von Edwin über sich ergehen lässt, heiratet auf die Nachricht von Edwins Hochzeit hin »den ersten besten Mann«, der im ganzen Buch dann überhaupt gar keine Rolle spielt, auch in den Gedanken des Erzählers nicht vorkommt. Nach einer weiteren Schwangerschaft, aus der der Erzähler hervorgeht, verliert sie zunehmend ihr psychischens Gleichgewicht, ist akut selbstmordgefährdet und wird in eine Klinik eingewiesen, wo sie mit Elektroschocks behandelt wird.

Aus der Klinik entlassen, therapiert sie sich in der Zeit des Zweiten Weltkriegs selbst durch Gartenarbeit. Sie betreibt auch weiterhin einen Kult um Edwin, der inzwischen ein weltberühmter und steinreicher Dirigent geworden ist und seine Karriere bis ins hohe Alter fortsetzt. Sein Tod ist der eigentliche Erzählanlass der Geschichte und bildet den erzählerischen Rahmen. Nebenbei erzählt uns Widmer auch ein wenig von der Karriere Edwins, die Familiengeschichte des Vaters von Clara, lässt Mussolini leibhaftig auftreten und was der Anhängsel mehr sind, die den Text wenigstens auf eine einigermaßen angängige Länge bringen. Alles das ist sehr locker gestrickt, was einen nicht unbedingt stören muss, den Text aber in einigen Passagen merkwürdig beliebig macht.

Wirklich störend aber ist die Sprache Widmers. Die Absicht scheint zu sein, einen lakonischen Ton zu treffen, aber gerade dafür fehlt Widmers Beschreibungen und Wendungen die Präzision. Das meiste kommt sehr lax daher:

Für die eingemachten Birnen, Aprikosen, Zwetschgen hatte sie grüne Gläser aus Bülach. Daß sie aus Bülach waren, das war irgendwie wichtig.

Und bei diesem »irgendwie« bleibt es. Mehr weiß der Erzähler nicht, und um mehr hat er sich auch nicht gekümmert; und der Autor eben auch nicht!

Sie blieb jetzt im Haus am Stadtrand, auch in den Sommern. Es stand längst nicht mehr am Rand der Stadt, war eingeschlossen von neuen Häusern.

Mir sind solche sprachlichen Albernheiten unzugänglich, und ich kann darin nichts anders erkennen, als eine gewisse Gleichgültigkeit des Autors dem Leser gegenüber. – Von der mit einem schweren Stein in der Hand voller Verzweiflung in den See watenden Clara heißt es:

Der Stein entglitt ihr, ohne daß sie es bemerkte.

Spätestens wenn der Stein auf ihren Füßen gelandet ist, wird sie es wohl doch bemerkt haben. Und weiter schreibt Widmer:

So verharrte sie. Endlich machte sie rechtsum kehrt – vielleicht weil ein Nachtvogel schrie, oder weil ein fernes Auto hupte –, stakste ans Ufer zurück und rannte nach Hause.

Ist es nicht merkwürdig, dass der Erzähler genau weiß, dass sich seine Mutter rechts herum gedreht hatte, aber nur Mutmaßungen darüber anstellen kann, was der Grund für ihr Erwachen aus der Starre ist? Der Autor scheint weder besonders auf die von ihm verwendeten Worte zu achten, noch eine besonders präzise Vorstellung von der von ihm geschilderten Szene entwickelt zu haben. Und aus der mangelhaften Präzision der Vorstellung resultiert eine Beliebigkeit der Sprache. Leider hinterlässt das Buch auch insgesamt genau diesen Eindruck.

Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter. Lizenzausgabe für die Süddeutsche Zeitung | Bibliothek. München, 2007. Pappband, 129 Seiten. 5,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (5)

Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Kalkül, legt seine Maschinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schriftsteller konstruiert und schafft sich einen Leser, wie er sein soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und tot, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie.

Friedrich Schlegel
Kritische Fragmente

Zum Tod von Richard Rorty

Zu den üblichen Anwärtern auf den Posten im Zentrum der Kultur zählen Religion, Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Wäre ich gezwungen, zwischen diesen vier Alternativen zu wählen, entschiede ich mich für die Kunst – allerdings nur deshalb, weil der Begriff »Kunst« unter diesen vieren der vagste und daher am wenigsten einschränkende ist. Es wäre aber besser, überhaupt nicht wählen zu müssen. Die beste Art von Kultur wäre eine, deren Schwerpunkt ständig wechselte, je nachdem, welche Person oder Personengruppe zuletzt etwas Anregendes, Originelles und Nützliches geleistet hat. Dies wäre eine Kultur, in der es gar nicht lohnend erschiene, eine Auseinandersetzung über die Frage zu führen, ob eine bestimmte neuartige Errungenschaft als »Kunst« oder als »Philosophie« zu gelten habe.

»Eine Kultur ohne Zentrum«

Der schönste erste Satz

Ich gebe nach und äußere mich endlich auch zum »Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen«, auch wenn mir bislang niemand Auskunft darüber erteilen konnte, worin denn der Wettbewerb bei dieser Veranstaltung bestehen soll.

Werden die besten Begründungen prämiert? Dann ist es freilich egal, welcher erste Satz der Schönste wäre, und das ganze wäre ein versteckter Schreibwettbewerb in der Kategorie Panegyrik. Falls nicht die Begründung, so ergibt sich die Frage, warum überhaupt eine Begründung geschrieben werden muss. Da genügte dann doch ein einfaches »Der erste Satz der Jupiter-Sinfonie ist für mich der schönste erste Satz« – und fertig. Was erwartet man denn noch mehr?

Wenn allerdings tatsächlich die ersten Sätze prämiert werden sollen, so würde das zum einen bedeuten, dass die Einsender untereinander in einen Wettbewerb des Geschmacks treten, der offenbar unentscheidbar ist. Wer soll da gewinnen? Wer hat den besten Geschmack – ich natürlich, aber ich nehme ja nicht teil. Zum anderen muss man voraussetzen, dass die Jury die Schönheit der eingereichten Sätze überhaupt beurteilen kann. Da sich die Schönheit erster Sätze aber oft erst im weiteren Gang des Buches tatsächlich entfaltet, sind Ungerechtigkeiten vorprogrammiert.

Noch einmal: Worin besteht eigentlich der Wettbewerb?

Abgesehen von diesen Fragen habe natürlich auch ich einen Kandidaten. Nicht gerade für den »schönsten« ersten Satz – das wäre vielleicht Sternes

I wish either my father or my mother, or indeed both of them, as they were in duty both equally bound to it, had minded what they were about when they begot me; had they duly consider’d how much depended upon what they were then doing;—that not only the production of a rational Being was concern’d in it, but that possibly the happy formation and temperature of his body, perhaps his genius and the very cast of his mind;—and, for aught they knew to the contrary, even the fortunes of his whole house might take their turn from the humours and dispositions which were then uppermost:——Had they duly weighed and considered all this, and proceeded accordingly,——I am verily persuaded I should have made a quite different figure in the world, from that, in which the reader is likely to see me.

… aber doch zumindest für den (beinahe) ersten Satz, der als Beginn eines Prosatextes auf mich einen tiefen, vielleicht den tiefsten Eindruck überhaupt gemacht hat:

Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Rußland führt.

Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.

Wie beschreibt einer das Ende der Welt? Einen Ort, an dem alle Zusammenhänge sich verlieren, von dem alle Linien nur weglaufen, von dem man nur flüchten kann und an dem man verdammt ist, wenn man hier ankommt? Genau so! Hier gibt es keine Eisenbahnlinie von A nach B, hier gibt es nur mehr vier Eisenstränge, die keinerlei Bedeutung konstituieren, die endlos parallel nach beiden Seiten bis an den Horizont reichen und dort verschwinden. Das ist groß! Am schönsten ist es wahrscheinlich nicht, aber wen kümmert das?

Und nein, ich verrate nicht, wo das steht.

Anne Fadiman: Ex Libris

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Anne Fadiman dürfte in Deutschland vor diesem Buch nur einigen wenigen Fachleuten, Soziologen und Medizinern, aufgrund ihres Buches »The Spirit Catches You and You Fall Down« bekannt gewesen sein. Sie ist die Tochter des in den Vereinigten Staaten bekannten Autors und Radiomoderators Clifton Fadiman, der unter anderem zahlreiche Anthologien und einen weitverbreiteten Lesekanon herausgegeben hat. Auch ihre Mutter ist Journalistin und Autorin. Anne Fadiman entstammt also einer Familie von Lesern, und sie hat diese Tradition mit ihrer eigenen Familie fortgesetzt: Sie hat einen Leser geheiratet und ihre Kinder zeigen alle Anzeichen dafür, dass sie dieses Erbe fortsetzen werden.

Und genau das ist das Kernthema der meisten der 17 kurzen Essays, die der Band versammelt: Eine Familie von Lesern und ihre Abenteuer mit Bücher, ihre Verhältnisse mit (nicht »zu«!) Büchern, ihre Freuden und Leiden. Für die deutsche Ausgabe hat man den schönen englischen Untertitel »Confessions of a Common Reader«, der sich auf einen Buchtitel Virginia Woolfs stützt, in das etwas reißerische »Bekenntnisse einer Bibliomanin« verwandelt, denn wer will heutzutage schon ein »gewöhnlicher Leser« oder gar ein »gemeiner Leser« sein. Allerdings muss man auch zugestehen, dass Anne Fadiman Selbstbezeichnung höchstens noch als kokett durchgeht, denn ihre Essays machen wenigstens eines deutlich: Sie ist eine obsessive Leserin und eine passionierte Sammlerin antiqarischer Bücher.

Wie schon gesagt, nimmt ein Großteil der Essays bei sehr persönlichen Erfahrungen Fadimans seinen Anfang: Die Vereinigung ihrer eigenen Bibliothek mit der ihres Mannes (nachdem die beiden bereits fünf Jahre lang miteinander verheiratet waren und noch länger zusammen lebten), ihre Freude an ausgefallenen und langen Wörtern, die bereits in ihrer Kindheit angeregt und gefördert wurde, ihre Neigung, alle gelesenen Texte zugleich auch Korrektur zu lesen, ihre Neigung dazu, Kataloge zu lesen, die unterschiedlichen Lesertypen in ihrer Verwandt- und Bekanntschaft usw. usf. Das alles ist unterhaltsam und leicht geschrieben, ohne seicht zu werden. Immer ist Fadimans breiter Lektürehintergrund zu erkennen, ihre lebenslange Auseinandersetzung mit der englischen und nordamerikanischen Literatur.

Nur einmal holt Fadiman richtig aus: Mit »Nichts Neues unter der Sonne« schreibt sie einen Essay zum Thema Plagiat, der voller Zitate und Plagiate steckt, die sie selbst fein säuberlich in Fußnoten nachweist. Das ist sehr virtuos gemacht, denn jede im Essay beschriebene Form des Plagiats findet sich zugleich auch in ihm umgesetzt.

Eine vergnügliche Lektüre für obsessive Bücherfreunde und jene Vielleser, die es werden wollen.

Anne Fadiman: Ex Libris. Bekenntnisse einer Bibliomanin. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Diogenes Taschenbuch 23646. Zürich, 2007. 8,90 €.

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P. S.: Bei der in Fußnote 25 auf S. 146 unbekannten Quelle handelt es sich natürlich um Robert Mertons Buch »Auf den Schultern von Riesen«.

P. P. S.: An zwei Stellen (S. 111 u. 113) benutzt die Übersetzerin für das mit Apostroph abgetrennte Genitiv-s (im Volksmund auch »Deppen-Apostroph«) die nicht unpassende Bezeichnung »sächsischer Genitiv«. Hat einer das Original zur Hand und kann sagen, welche englische Phrase dem gegenübersteht?

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott

Auslander_Gott15 »fiese Storys« – so der treffende Untertitel –, die sich alle um Gott, Religion und das Phänomen des Glaubens drehen. Nicht alle halten das Niveau, aber einige haben wirklich Biss. So etwa »Sensationelle Offenbarungen aus dem verschollenen Buch Stan«, das von einer banalen und schlecht erfundenen Voraussetzung aus (Stan Fisher findet 13 Steintafeln mit der ältesten Fassung des Alten Testaments, das »leider« auf der ersten Tafel explizit als fiktionales Werk bezeichnet wird) zu einem kurzen, beinahe absurden Rundumschlag gegen den Wirtschaftszweig Religion ausholt. Oder auch »Sie sind alle gleich«, in dem Gott als Kunde einer Werbeagentur auftritt, um die Präsentation für eine große Kampagne abzunehmen. Von einer brillanten Mischung aus erkünstelter Naivität und ausgesuchter Bosheit sind die »Holocaust-Tipps für Kids«.

Anderes dagegen gerät eher platt, so die pubertäre Seelenqual in »Heimisch weiß alles« oder die fade Mischung aus Terry Pratchett und »Pulp Fiction« in »Die schützende Hand ganz oben«. Eine nette Lektüre für Atheisten und Agnostiker an einem verregneten Nachmittag, aber man sollte nicht zuviel erwarten.

Shalom Auslander: Vorsicht, bissiger Gott. Fiese Storys. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag Taschenbuch 459. Berlin, 2007. 157 Seiten. 7,90 €.