Zum Tod von Hans Wollschläger

Und in dem slozze was ein tavel bereitet die was us dem birckenholz Finlants und was getragen von vier zwercmaennern ienes lants doch sie warn verzawbert also daz sie niht kunten sich rueren noch regen. Und es lagen uf diser tavel gar furhtbære swerter und messer die da gemacht werden in ein groz hœl von bœzer geister hant und werden gemacht us wize flamen und bevestiget in dem gehürne von bueffelen unde hirschen so aldort leben in wunderbær vuelle. Und waren schuezzelen da und geschirre und waren gemacht durch den zawber Mahounds us mers sant und us luft von eim hecsemeister mit sin odem welchen er in sie eineschnobt daz sie werden als wie groze blazen. Und es lag spise uf dere tavel so lecker lieplich unde rich als niht iemant sihs kœnt herrelicher noch lieplicher erdenken. Und es war da ein vaz von silber swelchs kont geoffent werden uf listriche art und lagen dar inne seltsæne visch sonder hawbt und dis zeugschaft ist war obe schon ungleubic leut wol mœhten bestriten daz es ein mœgelich dinc biz daz sie es saehen. Und dise visch liegen in eim œlichten wazzer so us dem lant Portugal gebraht und ist so vil vet dar inne daz es gelichet dem saft von geslahen œlvruht. Und insgeliche wunderhaftic ze schawen in deme sloz was wie sie durh zawberschaft da ein gemischede berihten uz manecvalt vruhtbaere weizzen von Chaldaea swelchs mit dem bistant von gewizze bœze geister so sie dar eine bannen uf swellet gar wunderbærliche als wie ze eim mehtic berc. Und sie machen die slangen da gelernic daz sie sih ufhin winden an lange stocholz uz dem ert grunt und uz dise slangen schuopen brawen sie ein gebrawe als wie met.

James Joyce
Ulysses
deutsch von Hans Wollschläger

Ilija Trojanow: Der Weltensammler

weltensammlerSir Richard Francis Burton (1821–1890) war einer der bedeutenden Forschungsreisenden, Abenteurer und Orientalisten des 19. Jahrhunderts. Ilija Trojanow hat drei Episoden aus dem Leben Burtons herausgegriffen und einen Roman aus ihnen gemacht: Burtons ersten Aufenthalt in Indien ab 1842, seine damals zwar nicht einmalige, aber nichtsdestotrotz wagemutige und sensationelle Pilgerreise nach Mekka 1853 sowie die Expedition 1857/58 zum Tanganjika- und Victoriasee (den Burton allerdings nicht erreichte, sondern den sein Partner John Hanning Speke allein »entdeckte«). In zwei Rahmen-Kapiteln beschäftigt er sich mit dem Tod Burtons.

Trojanow geht es dabei nicht darum, eine Biographie Burtons zu verfassen, sondern er benutzt die äußeren Lebensdaten Burtons, um einen Roman über die Themen der kulturellen Differenz und der interkulturellen und -religiösen Toleranz zu verfassen. Alle drei Episoden werden aus doppelter Perspektive erzählt: Zum einen personal angebunden an das Erleben des Portagonisten Burton, zum anderen gespiegelt im Blick eines oder mehrere Einheimischer. Im Fall der Mekka-Reise ist dies eingekleidet in die Fiktion einer offiziellen Untersuchung der Frage, ob Burton diese Reise als englischer Spion unternommen habe, in den beiden anderen erzählen vertraute Untergebene Burtons ihre Sicht der Ereignisse.

Diese doppelte Perspektive ist die eigentliche Pointe des Buches: Burtons zwanghaften Versuchen, sich in andere Kulturen einzuleben, sie bis zum Identitätsverlust nachzuahmen, weil er sich in seiner eigenen Kultur nicht zurecht findet, wird der Blick jener entgegengestellt, die ihren Alltag in der »anderen Welt« leben.

Du kannst dich verkleiden, soviel du willst, du wirst nie erfahren, wie es ist, einer von uns zu sein. Du kannst jederzeit deine Verkleidung ablegen, dir steht immer dieser letzte Ausweg offen. Wir aber sind in unserer Haut gefangen. Fasten ist nicht dasselbe wie Hungern.

Im Endeffekt verstärkt Burton seine Isolation »von aller Welt«, je mehr Welten er sich zu eigen macht:

Wer in England wird ihm ins Dämmerreich folgen können, wer wird verstehen, daß die Antworten verschleierter sind als die Fragen?

Nachdem man das einmal verstanden hat, wird der Roman etwas zäh. Ich habe den dritten Teil eher unwillig gelesen, denn er bringt nichts mehr in einem wesentlichen Sinne Neues. Die Figur Spekes mag für den einen oder anderen Leser als Gegenfolie zu Burton und Lehrstück europäischer Arroganz interessant sein – ich allerdings kenne meinen Hemingway und brauche keine weiteren Romane mehr, um mir Europäer in Afrika vorstellen zu können.

Etwas schade ist es, dass Burton als Intellektueller und Schriftsteller nur am Rande zur Sprache kommt. Immerhin zeichnete er im 19. Jahrhundert durch seine Reisebücher und etwa auch mit seiner Übersetzung der »Märchen aus den 1001 Nächten« verantwortlich für einen wesentlichen Teil der Vermittlung der indischen und arabischen Kultur in die westliche Welt. Aber es mag sein, dass sich darüber nicht so gut in einem Roman schreiben lässt.

Der Roman hat 2006 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik gewonnen und war im selben Jahr in der Short-List für den Deutschen Buchpreis.

Ilija Trojanow: Der Weltensammler. Hanser, 2006. Pappband, 477 Seiten. 24,90 €.

A Cock and Bull Story

Cock_and_BullIn der Liste der berühmten, unverfilmbaren Bücher nimmt »The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman« einen der Spitzenplätze ein. Seine Unverfilmbarkeit ist wesentlich seiner literarischen Qualität geschuldet, also nicht dem Stoff, sondern seiner Verarbeitung, Sternes Kunst der Abschweifung, des diskontinuierlichen Erzählens, der Zitate, Einsprengsel und Fußnoten und nicht zuletzt der Tatsache, dass das Buch immer auch seine eigene Niederschrift reflektiert, während es seine Geschichte nicht wirklich voranbringt. Als eine Art Surrogat könnte man Martin Rowsons Comic-Version ansehen, aber das hieße natürlich dies kongeniale Werk in seiner ihm eigenen Einzigartigkeit zu unterschätzen.

Von daher war es eine große Überraschung, als im August 2005 eine Website eine Verfilmung durch Michael Winterbottom ankündigte. Winterbottom hatte im selben Jahr mit dem Film »9 Songs« auch in Deutschland einen wohlkalkulierten Skandal ausgelöst, da dem Film nachgesagt wurde, er sei anstößig – ein Attribut, das Filme im Zeitalter der Pornovision kaum mehr erlangen können. Von daher war Winterbottom vorerst alles zuzutrauen, auch einen Film aus einer unverfilmbaren Vorlage herzustellen.

Der Film ist überraschend genug geraten; ob er letztendlich gelungen ist, wage ich nicht zu beurteilen. Die ersten 25 Minuten sieht er aus wie eine postmodern verspielte Aneignung des Buches: Wie in der Vorlage tritt Tristram Shandy (Steve Coogan) als Erzähler seines eigenen Lebens auf, der sich direkt an die Zuschauer wendet. Es wird die erratische Erzählweise des Buches nachgestellt, wobei das Rückgrat die Zeit vom Einsetzen der Wehen bei Tristrams Mutter (Keeley Hawes) bis zu seiner eigentlich Geburt bildet. Aneinandergereiht werden alle möglichen Episoden aus allen Teilen des Buches: Das Heruntersausen des Schiebefensters genauso wie der Abschluss der Ehevertrages der Eltern Tristrams, Onkel Tobys (Rob Brydon) Verletzung genauso wie die unglückliche Taufe des gerade geborenen Helden auf einen falschen Namen usw. usf. Wahrscheinlich ist dieser Teil des Films für einen Zuschauer, der das Buch wenig oder gar nicht kennt, eher sehr verwirrend; für Kenner der Vorlage ist es ein Genuss zuzuschauen. Die paar witzigen Anspielungen auf das 19. oder das 20. Jahrhundert, die Tristram hier und da einbringt, stören den Gang der Darstellung in keiner Weise.

Nach etwa 25 Minuten verändert der Film dann radikal seinen Charakter: Die Kamera schwenkt auf den fiktiven Regisseur (Jeremy Northam), der die Aufnahmen des Tages beendet. Von da an ist es ein Film über eine Filmcrew, die an einer Verfilmung des »Tristram Shandy« arbeitet, der bewusst in der Tradition von Fellinis »8½« (Nino Rotas Musik wird verwendet) oder Truffauts »La nuit américain« steht. Die Mitglieder des Teams besprechen die Schwierigkeiten der Produktion, die beiden Hauptdarsteller Steve Coogan und Ron Brydon tragen ständig freundschaftliche Reibereien untereinander aus, Steve Coogans Lebensgefährtin (Kelly Macdonald) kommt mit dem gemeinsamen Baby zu Besuch auf den Set und was der Erzählstränge mehr sind. Zwischendurch kehrt der Film immer wieder für kurze Momente in das 18. Jahrhundert Sternes zurück, um zum Beispiel einen Gedanken oder einen Traum zu illustrieren.

Natürlich bietet sich ein solcher Sprung von einer Literaturverfilmung zu einem Film über eine Literaturverfilmung gerade beim »Tristram Shandy« an, denn kaum ein anderes Buch reflektiert zugleich mit dem Erzählen immer erneut das Erzählen selbst und liefert zugleich Roman und Autorenpoetik. Auf der anderen Seite ist ein Film über das Verfilmen von »Tristram Shandy«, so gut er auch immer sei, keine Verfilmung des »Tristram Shandy«, was wahrscheinlich nichts anderes als das Zugeständnis ist, dass sich das Buch eben grundsätzlich nicht verfilmen lässt. Für einen Kenner des Buches ist das alles recht und gut, aber ich kann mir kaum vorstellen, wie der Film auf jemanden wirkt, der das Buch nicht oder nur oberflächlich kennt. Wahrscheinlich steigt ein solcher Zuschauer schon in den ersten 25 Minuten aus und kommt gar nicht erst bis zu der Stelle, wo der Film ein »Film über Film« wird. Mit hat er gut gefallen, er ist originell, intelligent und gut erzählt, aber – wie schon gesagt – trotzdem scheint es mir zweifelhaft, ob der Film alles in allem gelungen ist. Eine Verfilmung des »Tristram Shandy« ist er jedenfalls nicht.

Den Status von Laurence Sternes »Tristram Shandy« in Deutschland – trotz der Neuübersetzung durch Michael Walter – kann man gut daran ablesen, dass der Film bis dato in Deutschland weder im Kino angelaufen ist, noch eine deutsch synchronisierte DVD vorliegt.

A Cock and Bull Story. UK, 2005. Lionsgate. Import-DVD (Region 2). Länge ca. 91 Minuten. Sprache: Englisch. Extras: Interview mit Steve Coogan; Deleted Scenes; Extended Scenes; Behind the Scene Footage; Kommentar von Steve Coogan und Bob Brydon; Premieren Footage; Trailer. Ca. 20,– €.

Der achte Teil der Septologie?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir das Phänomen zum ersten Mal begegnet ist: Da hatte auf der Rückseite des dritten Teils von Frank Herberts »Dune« ’was gestanden vom Abschluss der Trilogie, und wenig später fiel mir in einer Buchhandlung der vierte Teil in die Hand, auf dessen Rücken zu lesen war: »Der lang erwartete vierte Teil« – der Triologie Tetralogie Quadrilogie?

Heute meldet nun die SZ in der Rubrik »Panorama« (wohlgemerkt, nicht unter »Literatur«), dass auch Joanne K. Rowling plant, ihr Septett ihre Sepsis Septologie um einen weiteren Band zu ergänzen, weil sie noch soviel Material von den anderen sieben übrig hat. Das heiß ich mir, aus einer Nadel einen Wagen voll spalten!

Bibliotheken, Bibliotheken, Bibliotheken

hoeferCandida Höfers Bildband »Bibliotheken« geizt mit Worten: Zwar bildet ein Essay von Umberto Eco das Vorwort, indem Eco über die die absolute, die schlechte und die gute Bibliothek philosophiert. Er stammt aus dem Jahr 1981 – an einer Stelle befürchtet Eco die Verdrängung des Buches durch »Lesegeräte und Mikrofiches«, was dem ganzen Text einen Hauch von Nostalgie gibt.

Bis auf den kurzen Anhang, der immerhin ein Ortsregister liefert, enthält der Band aber sonst ausschließlich Photographien von Bibliotheken in Europa und Amerika. Gezeigt werden alle Bereiche: Lesesäle, Magazine, Kataloge (Karten und Computer), Verwaltungsbüros, leere Regale und hoch aufgetürmte Bücherwände, üppige barocke Bibliotheksarchitekturen, modern karge Zweckräume oder fast bedrückend wirkende Kellerverliese, Klassiker (etwa die Bibliothek des Trinity College in Dublin) und schlafende Schönheiten (etwa eine leergeräumte Kirche in San Augustin, Mexiko, von der wir nicht erfahren, ob sie einst als Bibliothek gedient hat oder ob sie erst noch eine werden soll).

Ganz selten sind Leser, also Nutzer der Bibliotheken auf den Bildern zu finden, was in erster Linie technische Gründe haben wird, da Höfer wegen der Schärfentiefe überwiegend bei kleiner Blende mit langen Belichtungszeiten arbeitet – da verwischt auch das Abbild eines ruhigen Bibliotheksbenutzers. Diese Menschenleere erzeugt einen besonderen Effekt, zumindest für den bibliomanen Betrachter: Die Bilder öffnen sich ihm als Spielwiese der Phantasie – allein zu sein mit dieser überwältigenden Fülle von Bänden, sich wengstens für den Moment einbilden zu dürfen, dies sei die eigene Bibliothek, ganz angepasst an die eigenen Interessen und Neigungen, gefüllt mit den ausgesuchtesten Ausgaben.

Ein Band, um in den Lesepausen darin herumzuspazieren.

Candida Höfer: Bibliotheken. München: Schirmer/Mosel, 2005. Leinen, fadengeheftet, Kunstdruckpapier (24,5×30 cm), 272 Seiten mit 137 Farbtafeln. 78,– €.

Torquato Quatscho

goethe.jpgIch gehe nicht mehr oft ins Theater. So mehr als zwei oder drei Mal im Jahr sind es nicht. Zumeist gehe ich in Stücke, die ich gut kenne, von Autoren, die ich gut kenne. Deshalb gehe ich wahrscheinlich so selten ins Theater.

Heute war ich in »Torquato Tasso« in Recklinghausen; ich mag nicht sagen, in Goethes »Torquato Tasso«, denn dass die Schaupieler Text von Goethe sprachen, erschien mehr als Zufall. Eine ¾ Stunde bin ich geblieben, dann war es genug – ich wusste ja, wie das Stück ausgeht.

Goethe hat zwischen 1780 und 1789 langsam und gründlich einen ruhigen und diffizilen Text geschrieben, ihn sorgfältig immer wieder erwogen, sich am Ende große Mühe gemacht mit drei noch zu schreibenden Szenen, die nicht und nicht geraten wollten. Das Stück hat ihm am Herzen gelegen. Er selbst hat nicht geglaubt, dass es für die Bühne sei – und er verstand etwas von der Bühne, wenigstens der seiner Zeit, denn er war lange Zeit Intendant. Als ihn die Weimarer Schauspieler schließlich damit überrumpelten, dass sie die Rollen einfach schon gelernt hatten, hat er doch noch eingewilligt, aber eine Streichfassung erstellt, die dann schließlich gespielt werden durfte. Dass es gut sei, das Stück zu spielen, hat er dennoch nicht geglaubt. Und dabei kannte er nicht ’mal das moderne Regietheater.

Da sind zum Beispiel Torquato und Antonio: Bei Goethe sind sie zwei Planeten, die um die Sonne Herzog Alfons II. d’Este kreisen. Sie bewegen sich auf derselben Umlaufbahn in derselben Geschwindigkeit – nur eben auf entgegengesetzten Seiten, und so ist es am Ende auch gar kein Wunder, dass es gerade Antonio ist, der von Torquato nicht lassen will. Torquato, immer angespannt, jeder eigenen und fremden Emotion nachlauschend, spontan und zum Überschwang neigend, ist ein Klischee der Goethezeit: ein Genie. Antonio ist ganz der klassische Hofmann – ein weiteres Klischee, das für die meisten Leser der Goethezeit ausreichte, um ihn zur negativen Gegenfigur zu machen –, immer kontrolliert und misstrauisch, immer rational abwägend und vorsichtig bis zum Zynismus, den Menschen dort eher abgeneigt, wo Torquato sich ihnen zuneigt.

Auch in der Inszenierung von Frank Hoffmann ist der Figur Antonios ein Klischee eingeschrieben. Natürlich nicht mehr das Klischee des Hofmanns – denn wer unter den heutigen Zuschauern hätte noch das Buch von Baldassare Castiglione gelesen –, sondern das der Niete im Nadelstreifen. Auch damit gerät er in einen perfekten Gegensatz zu dem wilden Affen, der aus Torquato gemacht worden ist. Und so stehen die beiden einander testosteronschwanger gegenüber und schreien einander und dann zur Abwechslung auch einmal den Herzog an, dumme Männer, nichts weiter. Hier und da setzt sich in all der Aufgeregtheit doch einmal ein einzelner Satz Goethes durch und man erstaunt für einen Moment über den Glanz, der erscheint – aber gleich muss wieder um den Teich gerannt, ein Brett umgeworfen, geschrieen und gequiekt werden.

Natürlich macht Frank Hoffmann nichts anderes als das, was Goethe auch getan hat: Er eignet sich eine Kunstfigur an und transponiert sie in die eigene Zeit – witzigerweise stimmen sogar die übersprungenen Zeitspannen ungefähr überein. Nur eines versäumt Hoffmann: Sich zehn Jahre Zeit zu nehmen, um einen eigenen »Tasso« zu schreiben. Stattdessen nimmt er den Text Goethes und legt die eigene Zeit und Kultur darüber. Dass er dabei ein filigranes sprachliches Gebilde von einem Panzer überrollen lässt, scheint er billigend in Kauf zu nehmen – schließlich muss auch er leben, und er hat keinen Herzog Karl August, der ihm wie nebenbei das eine oder andere Haus schenkt oder ihn zwei Jahre auf Urlaub nach Italien fahren lässt.

Das Schlimmste an all dem ist – so fürchte ich –, dass die Inszenierung Recht und ich mit meinem Kopfschütteln Unrecht behalte. Das Stück war schon damals nichts fürs Theater; heute ist es da schon ganz egal, was am Ende auf die Bühne kommt. Hauptsache, es ist was los im Haus. Auf die paar intellektuellen Spinner, die die Unterschiede bemerken, kommt es nun wirklich nicht an. Scheiß auf Goethe: Das Volk will sich amüsieren, die Schauspieler was zum Fressen haben! Und das auf hohem Niveau! Also Theaterzettel raus und los: Goethe »Torquato Tasso«; Regie: Frank Hoffmann …

Allen Lesern ins Stammbuch (1)

Ihr nehmt ein Gesetz in der Tat und ehrlicherweise als an und für sich seiend, Ich bin auch dabei und darin, aber auch noch weiter als Ihr, ich bin auch darüber hinaus und kann es so oder so machen. Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt und in diesem ironischen Bewußtsein, in welchem Ich das Höchste untergehen lasse, nur mich genieße. – Diese Gestalt ist nicht nur die Eitelkeit alles sittlichen Inhalts der Rechte, Pflichten, Gesetze – das Böse, und zwar das in sich ganz allgemeine Böse –, sondern sie tut auch die Form, die subjektive Eitelkeit, hinzu, sich selbst als diese Eitelkeit alles Inhalts zu wissen und in diesem Wissen sich als das Absolute zu wissen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Grundlinien der Philosophie des Rechts

Eine weitere Literaturgeschichte

Rommel_KlassikerWie vor einiger Zeit schon einmal festgestellt, scheint es derzeit eine ungewöhnliche Nachfrage nach kurzgefassten Literaturgeschichten zu geben. So versuchen sich auch kleinere Verlage daran, von diesem Bedarf zu profitieren. Der im Januar 2006 gegründete merus verlag legt mit »50 Klassiker der Weltliteratur« von Thomas Rommel einen entsprechenden Titel vor. Der Autor ist Literaturprofessor an der Jacobs University in Bremen, einer privaten Universität, die 1999 gegründet wurde.

Positiv überrascht erst einmal die Auswahl an Werken, die Rommel bespricht. Natürlich fehlen Standards wie Goethes »Faust« (hier nur der Tragödie erster Teil) oder Shakespeares »Hamlet« nicht, aber mit Stanislaw Lems »Solaris« oder auch Bernard Mandevilles »Die Bienenfabel« beweist der Autor Originalität. Außerdem erlaubt er sich bei den ausgewählten Werken hier und da ungewöhnliche Zugriffe, wenn er etwa bei Schiller »Das Lied von der Glocke« bespricht oder Heinrich von Kleist mit seinem am wenigstens originellen Stück »Amphitryon« vorstellt. Alle Beiträge haben eine Länge von etwa 2½ Seiten, wobei einige durch umfangreichere Zitat aufgefüllt zu sein scheinen.

So weit, so gut. Leider ist damit auch alles Positive bereits gesagt. Stichproben in den einzelnen Artikeln fördern schnell Oberflächlichkeiten, Fehler und falsche Zugriffe zutage. Einige Beispiele: Bei der Besprechenung von James Joyces »Ulysses« schreibt Rommel:

Der Roman ist wie Homers Odyssee in 18 Kapitel unterteilt […]. (S. 77)

Da hätte Herr Rommel besser einmal einen Blick in sein eigenes Buch geworfen, denn im Artikel zu Homers »Odyssee« steht ganz richtig:

In 24 Büchern oder Gesängen, die in etwa verbundenen Kapiteln entsprechen, werden die Abenteuer des Königs Odysseus beschrieben. (S. 69)

Und diese Zahl ist natürlich alles andere als zufällig, denn Homers »Odyssee« ebenso wie seine »Ilias« haben so viele Gesänge wie das klassische griechische Alphabet Buchstaben. Hier zeigt sich die ordnende Hand späterer Editoren.

Aber solche Fehler sind natürlich Kleinigkeiten. Schon etwas peinlicher sind Stilblüten dieser Art:

Starbuck, der amerikanische Maat, der Harpunier Queequeg, der am ganzen Körper tätowiert ist, und von dem es heißt, er sein ein Kannibale, Tubb von der amerikanischen Ostküste, der Indianer Tashtego und Daggoo, ein schwarzer Hüne von unbändiger Kraft; sie alle sehen in Ahab einen Menschen, der sein Schicksal herausfordert. Und das führt am Ende des Buches zum Untergang – […]. (S. 112)

Nein, es ist Ahabs Besessenheit, die die Pequod schließlich in die Katastrophe führt, nicht die Einschätzung seiner Person durch seine Schiffskameraden. Auch das überflüssige Komma weist darauf hin, dass dem Buch ein gründliches Lektorat gut getan hätte.

Wirklich schlimm aber wird es, wenn sich Rommel der älteren Literatur zuwendet: Seine Darstellung von Sophokles’ »König Ödipus« etwa zeigt sowohl ein umfassendes Unverständnis des Stücks als auch Unkenntnis der Umstände, unter denen es entstanden ist. Rommel bespricht das Stück, als sei es von einem modernen Autor für ein modernes, mit den antiken Mythen nur mäßig vertrautes Publikum geschrieben: »Das Stück beginnt wie ein Krimi« (S. 143). Er glaubt daher auch, das Stück enthalte

Andeutungen […] und versteckte Hinweise […], die das Publikum sehr schnell in die Lage versetzen, den tragischen Ausgang des Geschehens zu erahnen. […] Spätestens jetzt ahnt das Publikum, dass Ödipus, der mächtige König von Theben, ein tragischer Held ist. (S. 142)

Sophokles’ Publikum musste natürlich nichts dergleichen »erahnen«, es kannte schlicht den Mythos und seinen Ausgang. Es war auch nicht gespannt, wer denn wohl der Mörder des alten Königs Laios sein könnte, weswegen das Stück eben auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem Krimi hat. Und so hätte Sophokles wahrscheinlich auch nicht die Meinung Rommels geteilt, »dass die Götter sein [Ödipus’] Schicksal zynisch gegen ihn gerichtet haben« (S. 144), sondern im Gegenteil wohl die Auffassung vertreten, dass Ödipus sich der Hybris schuldig machte, als er glaubte, er könne durch seine Entscheidungen und Handlungen seinem Schicksal entgehen. Einmal ganz abgesehen davon, dass es in Sophokles’ Stück einen unheimlichen Moment gibt, indem das gesamte Gedankenkonstrukt, auf dem die Schicksalstragödie basiert, infrage gestellt wird, als nämlich Iokaste darauf verweist, dass sich der alte Spruch des Orakels von Delphi, der Laios seinen Tod durch die Hand seines Sohnes vorhergesagt hatte, gar nicht erfüllt habe.

Apollons Spruch blieb also unerfüllt: Der Sohn
ermordete den Vater nicht, und Laïos
fand nicht den Tod von Sohneshand, vor dem ihm bangte.
Das war der Inhalt des Orakels, darum brauchst
du keine Sorgen dir zu machen. Will ein Gott
erfüllen einen Zweck, vollbringt die Tat er offen.

An dieser Stelle steht die Tragödie konzeptionell auf Messers Schneide. Ödipus könnte sich hier beruhigen mit der Auskunft seiner Frau, dass sich Orakelsprüche eben auch nicht erfüllen können und sich der Mensch keine Sorgen machen solle, da die Götter ohnehin handeln, wie es ihnen beliebt. Und gerade an dieser Stelle zeigt sich Ödipus tief erschüttert, ohne dass er wissen kann, was ihn ergreift.

OIDIPUS.
Was ich jetzt eben hören mußte, Iokaste,
versetzt mich in Verwirrung, regt mich schrecklich auf.
IOKASTE.
Welch eine Sorge kann dich denn so stark erregen?

Aber das ist in seinen Konsequenzen natürlich bei weitem zu komplex für eine solche kurze Literaturgeschichte. Es soll damit bloß angedeutet werden, dass der Horizont, in den Sophokles sein Stück eingestellt hat, ein gänzlich anderer ist als der, den Rommels moderner Krimi-Ansatz anbietet.

Resümierend muss festgestellt werden, dass das Inhaltsverzeichnis des schmalen Bändchens leider schon das Beste an ihm ist. Hinzu kommt der für 160 broschierte Seiten horrende Preis von 14,90 €.

Thomas Rommel: 50 Klassiker der Weltliteratur. Bücher lesen und verstehen. Hamburg: merus verlag, 2006. Broschur, 160 Seiten. 14,90 €.