Peter Weiss: Die Notizbücher

weiss_notizPeter Weiss gehörte unter den linken politischen deutschen Autoren nach Bertold Brecht zu den artistisch begabtesten. Seine Karriere begann er als Maler und setzte sie als Filmemacher fort, bis er 1960 mit dem hoch artifiziellen Text »Der Schatten des Körpers des Kutschers« in der Bundesrepublik als Autor Aufsehen erregte – nicht unbedingt bei einem breiten Publikum, aber bei Kritikern und Autorenkollegen, die rasch begriffen, dass sie hier so etwas wie einen Gründungstext für das vorliegen hatten, was sie später »Experimentelle Literatur« nennen sollten. Seine eigentlichen Erfolge feierte Weiss dann aber in den 60er Jahren als Dramatiker: »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats …«, »Die Ermittlung«, »Gesang vom Lusitanischen Popanz« und »Viet Nam Diskurs« waren große nationale und zum Teil auch internationale Erfolge, die durchweg kontroverse Reaktionen hervorriefen. Erst nachdem »Trotzki im Exil« und das Stück »Hölderlin« nicht an diese Erfolge anschließen können, wandte sich Weiss enttäuscht von der Bühne ab und konzentriert sich ganz auf die erzählende Prosa.

In den Jahren von 1970 bis 1980 entstehen die drei Bände der »Ästhetik des Widerstandes«; auch sie kontrovers aufgenommen, aber unfraglich als großer Roman der 70er Jahre anerkannt. Als der letzte Band im Jahr 1981 erscheint, wird er begleitet durch die Veröffentlichung der »Notizbücher 1971–1980«, die Weiss bewusst an die Arbeitsjournale Bert Brechts angelehnt hatte. Sie liefern einen Einblick in den Entstehungsprozess der »Ästhetik des Widerstandes« und werden zu einem überraschenden Verkaufserfolg. Weiss entschließt sich deshalb, auch die Notizbücher aus dem ersten Jahrzehnt seiner schriftstellerischen Karriere entsprechend aufzubereiten. So erscheinen ein Jahr später – bereits postum – auch die »Notizbücher 1960–1971«.

Weiss-Kenner wissen schon lange, dass es sich bei den veröffentlichten Notizbüchern – trotz gegenteiliger Bekundungen von Peter Weiss – um literarische Bearbeitung der eigentlichen Quellen handelt. Die Originale liegen zusammen mit dem übrigen literarischen Nachlass von Peter Weiss im Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Es handelt sich um 71 Notizbücher, darunter auch die von Weiss in den »Notizbüchern« immer wieder erwähnten »großen Notizbücher«, mit zusammen 9.700 Seiten. Mit der nun in der Digitalen Bibliothek vorgelegten Edition wird das Konvolut der Originale erstmals vollständig zugänglich gemacht.

Die Notizbücher umfassen die Zeit ab 1950 bis 1982, wobei erst ab 1962 eine weitgehend geschlossene Folge vorliegt. Weiss hatte sein Notizbuch immer dabei und hielt darin Einfälle, Briefentwürfe, Buchempfehlungen, Adressen und Telefonnummern, Skizzen etc. fest. Die elektronische Edition gibt den Text-Bestand der Notizbücher so wieder, dass er auch ohne Faksimiles gut nachvollzogen werden kann. Dort, wo Weiss Skizzen oder Illustrationen einfügt, werden die entsprechenden Seiten sowohl textlich umgesetzt als auch als Abbildung beigegeben. Auch die zahlreichen beschrifteten Lesezeichen, die Weiss benutze, um bestimmte Passagen rasch auffinden zu können, sind sorgfältig und vollständig dokumentiert. Ergänzend hat man den Text der beiden bei Suhrkamp erschienenen »Notizbücher« beigegeben, hierbei allerdings auf die zahlreichen Bilder der gedruckten Ausgaben verzichtet, was vermutlich aus lizenzrechtlichen Gründen geschah.

Diese CD-ROM-Ausgabe der Notizbücher von Peter Weiss wird für Weiss-Liebehaber und -Kenner sowie für die Weiss-Forschung ein unverzichtbares Arbeitsmittel sein. Die Vorteile der Ausgabe liegen natürlich nicht nur in den beigegebenen Erläuterungen, Tabellen und Registern, sondern auch in den für Ausgaben der Digitalen Bibliothek selbstverständlichen Vorzügen der Volltextsuche, die eine effiziente und vollständige Durchforstung des Textbestandes nach bestimmten Themen, Motiven oder Personen erst möglich macht. All dies zu einem bei einer gedruckten Ausgabe gänzlich undenkbaren Preis von nur 45,– €, der es auch dem nur beiläufig an Weiss Interessierten möglich macht, zu den Quellen vorzudringen.

Peter Weiss: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Jürgen Schutte in Zusammenarbeit mit Wiebke Amthor und Jenny Willner. Digitale Bibliothek Band 149. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 45,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Deutsche Geschichte

dt-geschDie Digitale Bibliothek hat ihr ohnehin schon breites Angebot an elektronischen Werken zur Geschichte um die 10 grundlegenden Bände der »Deutschen Geschichte« aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ergänzt. Diese Bände gehören seit Jahrzehnten zur studentischen Grundaustattung der meisten Historiker und decken die deutsche Geschichte von den Anfängen bis zum Jahr 1945 ab. Die CD-ROM enthält die vollständigen Texte aller Bände mit zusammen etwa 2.500 Buchseiten in den aktuellen, derzeit lieferbaren Auflagen zu einem unschlagbaren Preis.

Highlight der Buchreihe war und ist mit Sicherheit Band 9, Hans-Ulrich Wehlers »Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918«, der für das historische Verständnis dieser Zeit Maßstäbe gesetzt hat:

Über zwei Jahrzehnte lang hieß es an historischen Seminaren deutscher Universitäten ehrführchtig nur ›das blaue Buch‹. Niemand, der sich auf akademische Weise mit neuerer deutscher Vergangenheit beschäftigen wollte, kam daran vorbei. […] Mit dem ›blauen Buch‹ vollzog Wehler den vielleicht folgenreichsten Paradigmenwechsel in der (alt-)bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft […].

Sven Felix Kellerhoff, Die Welt

Zu dem Preisvorteil von knapp 80,– € kommen die üblichen Vorteile von Ausgaben der Digitalen Bibliothek hinzu: Eine ausgereifte, professionelle Software, die Volltextsuche, Paste & Copy auch längerer Passagen (mit exakter Seitenreferenz zur gedruckten Ausgabe), Lesezeichen, farbliche Textmarkierungen, das Ablegen von Notizen und Ausdrucke in individueller Formatierung erlaubt; dies ermöglicht ein intensives und zeitsparendes Arbeiten mit den Texten. Zusätzlich verfügt die elektronische Ausgabe über ein Gesamtregister der in allen Bänden verwendeten Abkürzungen. Diese CD-ROM ist auch geeignet, um eventuell bereits vorhandene Einzelbände der Reihe zu ergänzen.

Deutsche Geschichte. Hg. v. Joachim Leuschner. Digitale Bibliothek Band 151. Berlin: Directmedia Publishing in Kooperation mit Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.

Nicht allein der Untergang des Abendlandes …

spengler1Der Status von Spenglers Hauptwerk als Klassiker ist allein dadurch belegt, dass sein Titel als eine feste Größe in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist und sich der Name des Autors fest mit dieser Phrase verbunden hat, ohne dass der Großteil der heutigen Benutzer mehr als eine vage Vorstellung davon haben, welche Gedanken und Begründungszusammenhänge am Ursprung der Phrase mit diesen Worten verbunden wurden. Spenglers Hauptwerk ist dazu auch zu umfang- und voraussetzungsreich; zudem ist seine Sprache dicht und durchweg anspruchsvoll und verstellt eine Kenntnisnahme en passant. Trotz diesen einigermaßen hohen Hürden muss man den ersten Band des »Untergangs« wahrscheinlich als eines der einflussreichsten philosophischen Werke der Weimarer Zeit ansehen: Am Ausgang des Ersten Weltkrieges erschienen, erlebte er in kürzester Zeit zahlreiche Auflagen; 1922 erschien der zweite Band und ein Jahr später die Neubearbeitung des ersten, ohne den anfänglichen Erfolg wiederholen zu können, der im Jahr 1918 sicherlich wesentlich dem Zusammentreffen von Katastrophenstimmung und Titel zu danken gewesen war.

»Der Untergang des Abendlandes« war vielfältiger und nicht immer sachlicher Kritik ausgesetzt. Allerdings stammt die einsichtsvollste Rezeption des Buches wahrscheinlich von Theodor W. Adorno, dessen immer noch sehr lesenswerter Aufsatz »Spengler nach dem Untergang« (auf der Grundlage ein Vortrags von 1938 in Englisch bereits 1941 erschienen; auf deutsch 1950 im »Monat«) eine intensive und Spengler durchaus sehr ernstnehmende Auseinandersetzung dokumentiert.

Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in der Lösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegung des Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessen macht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spengler vergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte überzugehen im Begriff ist. Nach einem populären Anfangserfolg hat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr rasch gegen den ›Untergang des Abendlandes‹ gekehrt. Die offiziellen Philosophen warfen ihm Flachheit vor, die offiziellen Einzelwissenschaften Inkompetenz und Scharlatanerie, und im Betrieb der deutschen Inflations- und Stabilisierungsperiode wollte niemand etwas mit der Untergangsthese zu schaffen haben. Spengler hatte sich mittlerweile durch eine Reihe kleinerer Schriften anmaßenden Tones und wohlfeiler Antithetik so exponiert, daß die Ablehnung dem gesunden Lebenswillen leicht genug wurde. [GS 10., S. 47.]

Die digitale Ausgabe von Spenglers Hauptwerk innerhalb der Digitalen Bibliothek versammelt zusätzlich auch die von Adorno angeführten ›kleineren Schriften‹, so dass eine konzise Ausgabe Ausgewählter Schriften entstanden ist, die – und das ist ein besonderer Vorzug dieser Ausgabe – durch die Fragmente von Spenglers »Frühzeit der Weltgeschichte« abgerundet wurde.

Dass es bis heute ein populäres Interesse an Spenglers »Untergang« gibt, belegen die zahlreichen Buchausgaben. Allerdings lohnt eine gründliche Spengler-Lektüre nicht nur aus modisch-pessimistischer Perspektive, sondern auch aus kulturhistorischer: Bei Spengler überschneiden sich zwei bedeutende Einflusslinien des 19. Jahrhunderts – sowohl Goethe als auch Nietzsche haben Spenglers Denken geprägt, wie Spengler selbst gleich zu Anfang seines »Untergangs« betont.

Während Spengler von Goethe wesentlich die morphologische Grundidee seines Geschichtsbildes bezieht, also die Vorstellung davon, auch Kulturen besäßen als quasi organische Entitäten natürliche Phasen wie Jugend, Reife und Alter, liefert ihm Nietzsche die Vorstellung eines auf Macht und Erweiterung der Herrschaft gerichteten Willens, der als natürliche Triebfeder des geschichtlichen Prozesses begriffen wird. Diese Kombination, die dem Goetheschen Menschen- und Weltbild letztendlich wesentlich fremd werden muss, muss als eine der eingängigsten konservativ-pessimistischen Geschichtsphilosophien des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Sie hat in ihrer grundlegenden Simplizität durchaus die Kraft zur Mythenbildung.

Dies soll nicht bedeuten, dass sich Spenglers komplexes und kenntnisreiches Werk, das sich mit einer Fülle von kulturellen Formen und Erscheinungen auseinandersetzt, auf eine solch einfache Formel reduzieren ließe oder dass eine solche Reduktion wünschenwert wäre. Im Gegenteil spiegeln Spenglers Werke in mehrfacher Brechung den widersprüchlichen Reichtum an lebensweltlichen und philosophischen Konzepten der Weimarer Kultur und erhellen manche Züge im Denken etwa Stefan Georges, Gottfried Benns oder Ernst Jüngers.

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Ausgewählte Schriften. Digitale Bibliothek Band 152. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

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Ein Wort zu Dieter H. Stündel

Im SPIEGEL Nr. 6/5.2.07 hat auf S. 178 Elke Schmitter noch einmal Dieter H. Stündel und seiner »ÜbelSätzZung« von Joyces »Finnegans Wake« gedacht. Das Warum ist dem Artikel nicht zu entnehmen. Allerdings bietet dies einen schönen Anlass, einmal folgenden kurzen Wortwechsel zwischen zwei der besten Joyce-Kenner Europas zu dokumentieren:

F. S.: Du, ich habe mir nochmal die Übersetzung von diesem Stündel angeschaut. Der kann ja gar kein Englisch.

F. R.: Das macht nichts; Deutsch kann er ja auch nicht.

Der Schatten des Windes

zafonIch habe seit langer Zeit keinen Roman dieser Art mehr gelesen, das heißt einen, der nicht mehr will, als eine spannende, geheimnisvolle Geschichte vor einem vagen historischen Hintergrund zu erzählen. Präsentiert wird eine doppelte Biographie: Die Daniel Semperes, Sohn eines Antiquars in Barcelona, der als Zehnjähriger von seinem Vater in ein Geheimnis eingeweiht wird. Sie besuchen zusammen eine verborgene Bibliothek, voller vergessener – weil unter der Franco-Diktatur verbotener – Bücher, und Daniel darf sich ein Buch mitnehmen, um es zu adoptieren und dafür zu sorgen, dass es nicht endgültig verschwindet. Zufällig wählt er den Roman »Der Schatten des Windes« von einem beinahe verschwundenen Autor namens Julián Carax aus, an dessen Biographie sich Daniels weiteres Leben erstaunlich eng anschließen wird. In der nun bald über ihn hereinbrechenden Pubertät werden der Roman und sein verschollener Autor bald zu einer Obsession Daniels, nurmehr übertroffen von seiner Liebe zu Bea Agiular. Er stört durch seine Nachforschungen bald allerlei Geheimnisse auf und verstrickt sich in einer alten tragischen und hasserfüllten Rachegeschichte.

Das Buch ist routiniert geschrieben und zeugt von der erzählerischen Potenz Zafóns. Es spielt souverän mit Mustern des Detektiv- und des Schauerromans, verfügt über eine gelinde Breite sprachlicher Stile und hat sogar Humor. Ansonsten ist es flach wie ein Bügelbrett und verfügt in etwa über den Tiefgang eines Suppentellers. Das überzuckerte Ende ist zwar schwer erträglich, doch abgesehen davon bietet das Buch eine »rattling good story« und stellt wohl das dar, was Leser gemeinhin eine Urlaubslektüre nennen.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes. Aus dem Spanischen von Peter Schwaar. st 3800. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2005. Broschur, 563 Seiten. 9,90 €.

Was geschah mit Schillers Schädel?

schmitz_schaedelUnter diesem Titel hat Rainer Schmitz, Kulturredakteur beim Focus, ein – im Sinne des Wortes – wundervolles, über 1700 Seiten mit je zwei engbedruckten Spalten umfassendes Lesebuch zur Literatur verfasst. Es kommt zwar als Lexikon daher, ist aber schon aufgrund der zum Teil obskuren Lemmata als solches nur in Einzelfällen zu gebrauchen. Aber es ist eine unerschöpfliche Fundgrube dessen, was der Untertitel verspricht: »Alles, was Sie über Literatur nicht wissen«. Einiges weiß man dann zwar doch, aber vieles eben doch nicht oder doch nicht so genau. Es ist beinahe gleichgültig, wo man das Buch aufschlägt, man setzt gleich mit dem Lesen ein und taucht ein in eine Welt von Anekdoten, skurrilen Geschichten, Wissenssplittern, Kürzestgeschichten usw. usf.

Dabei ist das Buch im Detail durchaus unzuverlässig und flüchtig geschrieben, auch finden sich schnell echte »Böcke«:

Tausendundeine Nacht. Das schönste, märchenhafteste, exotischste, orientalischste, meistübersetzte, meistillustrierte, meistverfilmte und auch vielfach vertonte (Turandot) Werk der Weltliteratur – die Erzählungen aus tausendundeiner Nacht – sind dem weltweit größten, bedeutendsten, umfangreichsten Nachschlagewerk zur Literatur – dem 22bändigen, mit 22.203 eng bedruckten Seiten gefüllten Kindlers Neues Literaturlexikon (München 1988 bis 1998) – keine einzige Erwähnung wert.

Das wäre freilich ein hübscher Fund, wenn es denn stimmen würde; tut es aber natürlich nicht. In Band 18 (Anonyma) des KNLL, also da, wo es hingehört, findet sich auf den Seiten 97 bis 101 unter dem Lemma »Alf laila wa-laila« ein ausführlicher Eintrag über die »1001 Nächte«. Der Artikel ist auch ohne Arabisch-Kenntnisse gut zu finden, wenn man in dem richtigen Register des KNLL, nämlich dem für »Anonyme Werke«, nach »Tausendundeine Nacht« sucht.

Aber solche Fehler und auch die in manchen Fällen unkritische Übernahme von Gerüchten, literarischen Legenden und offensichtlich erfundenen Anekdoten tun dem Buch wenig Abbruch: Es ist ein Märchenbuch für Literaturbeflissene, ein Lesebuch für die Zeit zwischen zwei Romanen, ein Band zum Schmökern und eine wahre Fundgrube von Anregungen, Verweisen und Lesetipps. Nur als Nachschlagewerk sollte man es eben nicht benutzen. Darf in keinem »echten« Bücherschrank fehlen!

Rainer Schmitz: Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. Frankfurt/M.: Eichborn, 2006. Pappband, 1827 Seiten, zwei Lesebändchen. 39,90 €.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex

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Weitgehend eine journalistische Luftnummer: Weder für das offensichtlich beabsichtigte Skandalbuch noch für eine Biographie Austs wird ausreichend Material präsentiert. Zudem sollte der Titel besser »Mein Aust-Komplex« heißen, denn bis der Autor mit seinem Objekt tatsächlich beim Spiegel in Hamburg angekommen ist, sind zwei Drittel des Buches vorüber.

Das Buch ist geprägt durch einen mäkelnden Grundton, den Gehrs wahrscheinlich für eine Form des kritischen Journalismus hält. Selbst wenn Aust einmal etwas fraglos richtig macht, hat Gehrs noch etwas auszusetzen. Was Gehrs letztlich auszusetzen hat, bleibt aber unklar: Dass Aust sein Fähnlein nach dem Wind hängt, versteht sich von selbst – er ist ein Journalist; dass Aust als Journalist das zum Thema macht, was ihn selbst betrifft, versteht sich ebenso von selbst – er ist ein Mensch; dass Aust (selbst nach dem Urteil Gehrs) viel arbeitet, um Geld zu verdienen, versteht sich wiederum von selbst – auch Gehrs dürfte ein Buch mit dem Titel »Der Spiegel-Komplex« nicht aus rein altruistischen Motiven heraus geschrieben haben.

Gehrs ist seinem Gegenstand weder sprachlich noch intellektuell oder moralisch gewachsen. So deutet er etwa an vier verschiedenen Stellen des Buches eine Beziehung zwischen Kati Witt und Aust an (Witt habe so unsägliche Dinge getan, wie Aust in der Redation des Spiegel abzuholen oder mit ihm im Berliner Restaurant Borchardt zu ›schmusen‹), ohne dass auch nur an einer Stelle klar würde, was er damit eigentlich mitteilen will. Wen geht das etwas an? Und was soll es dem Leser über Aust oder den Spiegel sagen? An anderen Stellen macht er sich über Austs bevorzugte Hemdenfarbe, seine Körpergröße oder seine Brille lustig. Das alles ist sehr dürftig und höchstens ein Beweis von schlechtem Geschmack. Kants Kategorischer Imperativ lautet in Gehrs Fassung: »Handle stets so, wie Du auch behandelt werden möchtest.« Vielleicht erklärt ihm bei Gelegenheit mal ein gutmeinender Philosoph den Unterschied zwischen dem Kategorischen Imperativ und der Goldenen Regel. Zum Ausgleich lernen wir dann noch eine neue Art von Latein kennen:

… nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem Kaspar Hauser am 14. Dezember 1833 von einem Unbekannten mit einem Messer so schwer verletzt wurde, dass an der Stelle nun ein Gedenkstein steht. »Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Art getötet«, so lautet die lateinische Inschrift.

Nein, die Inschrift des Gedenksteins lautet »Hic occultus occulto occisus est«, was soviel bedeutet wie das, was Gehrs als Zitat anführt. Doch vielleicht meint Gehrs auch, eine laxe Sprache und unpräzise Gedanken seien Tugenden der Polemik. Wenigstens darin würde er sich täuschen.

Die merkwürdigste Stelle im ganzen Buch war für mich aber diese:

Jahre danach stellt Aust einen jungen Redakteur nicht ein, weil der ihm verschweigt, über den Fall berichtet zu haben. »In Bewerbungs­gesprächen«, schreibt Aust in den Brief mit der Absage, »wird nicht gelogen.«

Da habe ich mir still ein »inde ira et lacrimae?« an den Rand notiert.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex. München: Droemer, 2005. 335 Seiten. 19,90 €.

Butz Peters: Der letzte Mythos der RAF

peters_kleinenEin beinahe schon zu gründliches Buch: Einige der Argumentationslinien wiederholt der Autor so oft, dass man den Eindruck bekommt, er müsse sich selbst überzeugen. Abgesehen von diesen Redundanzen ein durchweg lesbares und lesenswertes Buch, das von der langen Beschäftigung des Autors mit der RAF und ihrem Umfeld profitiert. Es enthält unter anderem auch eine kurzen Überblick über die Geschichte der RAF, der als Einführung in das Thema ausgezeichnet ist. Und obwohl Peters an keiner Stelle darüber Zweifel lässt, dass er keinerlei Sympathien für die Terroristen hegt, ist der Text von einer untadeligen Objektivität.

Peters räumt mit der Mythenbildung im Umfeld der RAF und ihrer Geschichte auf. Im Zentrum stehen die Ereignisse in Bad Kleinen am 27. Juni 1993 und die sich anschließende Diskussion des Einsatzes in den Medien. Peters rekonstruiert nicht nur ein vollständiges Bild der Ereignisse selbst und der nachfolgenden polizeilichen, kriminaltechnischen und forensischen Untersuchungen inklusive aller Pannen und Versehen, die dabei geschehen sind, sondern er demontiert auch minutiös die beiden sogenannten Zeugenaussagen, auf die die These gestützt wird, die Vorgänge von Bad Kleinen seien bis heute »ungeklärt«. In der Tat bleiben nach der Lektüre des Buches kaum mehr Fragen offen, und es ist in keiner Weise verwunderlich, dass keines der vier Gerichte, die sich mit dem Fall Bad Kleinen befasst haben, zu dem Ergebnis gekommen ist, es gäbe ausreichende Hinweise darauf, dass Oliver Grams von einem GSG-9-Beamten aus nächster Nähe getötet worden ist. Der tödliche Schuss ist vielmehr – und dies war immer unstrittig – aus Grams Waffe abgefeuert worden, und für den von der klagenden Seite immer wieder behaupteten »Entwindungsgriff« gibt es weder ausreichende Indizien noch auch nur eine einzige Zeugenaussage. Daher bleibt als einzig mögliches Fazit: Oliver Grams hat sich in Bad Kleinen selbst getötet, um sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen.

Butz Peters: Der letzte Mythos der RAF. Das Desaster von Bad Kleinen. Berlin: Ullstein, 2006. 311 Seiten. 18,– €.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten

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Eine Zweitlektüre, diesmal gekontert durch das Buch »Der letzte Mythos der RAF« von Butz Peters. Die entscheidende Schwierigkeit im Umgang mit Heins Text ist damit zugleich markiert: Der Leser ist bei einer unbelehrten Lektüre dazu geneigt, Heins Darstellung des Todes der fiktiven Figur Oliver Zurek für die Wirklichkeit des Todes von Wolfgang Grams zu halten. Ein solcher Zugriff – wie er etwa auch Peters’ Verständnis des Romans zugrunde zu liegen scheint – verstellt wahrscheinlich eher den Blick auf das wesentliche Thema des Buches. Am besten löst man sich bei der Lektüre – so schwer das auch immer fallen mag – gänzlich von der Frage, was in Bad Kleinen »wirklich« geschehen ist.

Hein erzählt in der Hauptsache die Geschichte Dr. Richard Zureks, eines pensionierten Oberstudiendirektors, und seiner Familie, nachdem einer der Söhne bei einem Zugriff von Polizei und GSG 9 ums Leben gekommen ist. Die Umstände seines Todes und die anschließende Behandlung des Falles in dem Medien entsprechen in weiten Teilen denen, die den Tod von Wolfgang Grams in Bad Kleinen im Jahr 1993 begleitet haben. Dabei vermeidet Hein sorgfältig jede Tatsachenfeststellung zu den realen Ereignissen in Bad Kleinen. Allerdings ist der Roman weitgehend in der personalen Perspektive Richard Zureks erzählt, der bis zum Ende des Romans davon überzeugt ist, dass sein Sohn in »Kleinen« von einem GSG-9-Mitglied erschossen worden ist. Diese perspektivische Beschränkung, die für die Intention des Romans wesentlich erscheint, bringt es mit sich, dass es sich leicht als ein Plädoyer für die These von der Ermordung Wolfgang Grams’ mißverstehen lässt – was denn auch in der Vergangenheit ausführlich geschehen ist.

Tatsächlich dürften aber nicht diejenigen Texteile die wesentlichen sein, die mehr oder weniger an der Wirklichkeit entlang geschrieben sind, sondern gerade diejenigen, in die Hein die Arbeit der Fiktion investiert hat. Der Protagonist des Buches ist der Vater des Toten, Richard Zurek, ein staatsgläubiger und demokratietreuer Lehrer und Schulrektor, der an Disziplin und Ordnung glaubt und der seine Schüler mit ihrem Mißtrauen gegen den deutschen Staat und seine Politiker im besten Falle für naiv, im schlimmsten für Idioten hält. Vor dem Tod seines Sohnes stehen für ihn die Gerechtigkeit der staatliche Ordnung und die Aufrichtigkeit ihrer Repräsentanten fraglos fest; nach den – aus seiner Perspektive – »ungeklärten« Ereignissen von Kleinen entwickelt Richard Zurek zunehmend Zweifel an seiner bisheriger Haltung.

Letztlich geht dieser umstürzende Prozess soweit, dass Richard Zurek in einer pathetischen und nicht unkomischen Szene seinen Eid als Beamter öffentlich widerruft. Diese Wandlung Richard Zureks vom Paulus zum Saulus ist gleichbedeutend mit einer religiösen Wandlung: Sein Glaube an den Staat wird abgelöst von seinem unbedingten Glauben an die Unschuld seines Sohns, seine abstrakte Treue zum Staat abgelöst von der konkreten Liebe zu seinem Sohn. Zurek scheint erst am Tod seines Sohnes klar zu werden, welche Macht familiäre Bindungen über den Menschen haben. Diese innere Wandlung Zureks ist zugleich Trauerarbeit: Es ist kein kleiner Augenblick des Romans, wenn Zurek nach dem Ende des letzten Prozesses in der Sache seines Sohnes feststellt: »Ich glaube, ich habe erst heute verstanden, dass er tot ist.« [S. 263]

Die interessanteste Figur des Romans ist aber wahrscheinlich nicht der Protagonist Richard Zurek, sondern seine Frau Rike. Bedingt durch die weitgehend personale Erzählweise des Romans erscheint sie beinahe als eine Randfigur, erweist sich in einigen wenigen starken Szenen als eine praktische und in der Wirklichkeit verwurzelte Person, der es gelungen ist, ihren idealistischen Ehemann mit ihrer Klugheit durchs Leben zu bringen, ohne ihn ändern zu wollen oder zu bevormunden. Man lernt ein wenig bedauern, dass Rike Zureks Geschichte in weiten Teilen des Buches durch die ihres Mannes verdeckt und überschrieben ist. Aber man kann auf 270 Seiten nicht alles haben.

Christoph Hein: In seiner frühen Kindheit ein Garten. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005.) Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 2006. Broschur, 270 Seiten. 8,90 €.