Daniel Defoe: Robinson Crusoe

Zum 300. Jubiläum seines Erscheinens ist mir dieser Roman wieder in die Hände geraten.  Robinson Crusoe war wahrscheinlich das erste Buch für Erwachsene, das ich jemals gelesen habe. Ein gutmeinender Bekannter meiner Mutter, der sah, dass ich Karl May las, erbarmte sich wohl und wollte mir ein anständiges Abenteuerbuch zukommen lassen. Es war tatsächlich eine vollständige Übersetzung des ersten Teils, und ich habe mich damals brav durch das Buch hindurch gearbeitet – ich war als Karl-May-Leser einiges an langweiligen Passagen gewohnt und dachte, das müsse so sein. Später dann habe ich den Roman noch einmal kursorisch angeschaut, weil das Insel-Motiv bei Arno Schmidt nicht unwichtig ist und Defoes Buch für zahlreiche Variationen die Folie geliefert hat. Damals erfuhr ich dann auch, dass der Roman eigentlich zwei oder gar drei Teile hat (wenn man den 1720 nachgeschobenen Essayband, mit dem Defoe den Erfolg der ersten beiden Teile noch weiter melken wollte, als Teil eines Gesamtwerks gelten lassen will).

Diesmal war es dann eine gründlichere Lektüre der beiden erzählerischen Teile. Das Buch erfüllt in etwa die Erwartungen, die man an einen Erstling eines geschäftstüchtigen Journalisten und religiösen Agitators haben kann: Es zielt auf die damals vorherrschende Neugier des Lesepublikums auf exotische Sensationen ab, rührt die Pauke für eine protestantische, nichtkirchliche, atheologische Frömmigkeit, die eine direkte Beziehung des Einzelnen zu Gott aus der Bibel-Lektüre gewinnen will, und spiegelt ansonsten das hartherzige und kalkulierende Gemüt eines Engländers des frühen 18. Jahrhunderts. James Joyce hat das einmal ganz gut zusammengefasst:

In Crusoe ist der ganze angelsächsische Geist: die männliche Unabhängigkeit, die unbewußte Grausamkeit, die Ausdauer, die langsame aber wirkungsvolle Intelligenz, die sexuelle Apathie, die praktische und ausgewogene Religiosität. Die berechnende Schweigsamkeit. Wer dieses schlichte, bewegende Buch im Hinblick auf die nachfolgenden geschichtlichen Ereignisse wieder liest, kann sich seinem prophetischen Bann nicht entziehen. [aus: Daniel Defoe (1911/1912). In: Kleine Schriften, S. 244.]

Der zweite Teil ist offensichtlich aufgrund des überraschend großen Erfolges rasch nachgeschoben worden und bei weitem nicht so dicht wie der erste. Während sich etwa zwei Drittel mit Robinsons Rückkehr zu seiner Insel und der Rettung des Seelenheils der dort inzwischen ansässigen Engländer und Wilden befassen, wird dann zur Erreichung des notwendigen Volumens noch eine 10-jährige Weltreise (Madagaskar–Indien–China–Russland–Deutschland–England) angeklebt, die allerdings einige erstaunliche Passagen aufweist. So begeht die Schiffsbesatzung, mit der Robinson unterwegs ist, auf Madagaskar aus Rache ein ungeheuerliches Massaker an der einheimischen Bevölkerung, nachdem einer der Seeleute eine Einheimische vergewaltigt hatte und dafür von den Einheimischen getötet wurde. Sehr zu belasten scheint das aber niemanden, wenn auch Robinson moralische Bedenken deswegen hegt, weil die Europäer den Konflikt immerhin begonnen hatten. Als er aber Jahre später auf sogenannte tatarische Heiden trifft, von denen er erzählt bekommt, sie hätten einen christlichen Missionar, der sich an ihrem Götzen vergriffen habe, auf grausame Weise getötet, schlägt er vor, man solle an ihnen doch ein Exempel statuieren, wie es damals auf Madagaskar so erfolgreich exerziert worden sei. Zum Glück kann er von seinem Vorhaben abgebracht werden.

Dass es diese Abenteuer-Scharteke in den Rang bedeutender Literatur und eines Klassikers gebracht hat, ist wohl in der Hauptsache Jean-Jaques Rousseaus Schuld, der in seinem Emile oder Über die Erziehung den Roman als erste und einzige Lektüre des zu erziehenden Knaben vorschlägt, da er an ihm wahres Menschentum erlernen könne.

Dieser Roman, von allen nebensächlichen Zuthaten befreit, mit Robinson’s Schiffbruche in der Nähe seiner Insel beginnend und mit der Ankunft des Schiffes, welches zu seiner Rettung erscheint, schließend, wird Emil während des ganzen Zeitabschnittes, von welchem hier die Rede ist, zugleich Unterhaltung wie Belehrung verschaffen. Ich will, daß ihm der Kopf darüber schwindele, daß er sich unaufhörlich mit seinem Schlosse, seinen Ziegen und Pflanzungen beschäftige; daß er, nicht aus Büchern, sondern an den Dingen selbst, Alles, was man in einem ähnlichen Falle wissen muß, bis ins Einzelne lerne; daß er sich selbst für einen zweiten Robinson halte, daß er sich in Felle gekleidet, mit einer großen Mütze auf dem Kopfe, einem furchtbaren Säbel an der Seite, kurz in dem ganzen grotesken Aufzuge der Figur erblicke, nur den Sonnenschirm ausgenommen, dessen er nicht bedürfen wird. [Übers. Hermann Denhardt]

Es ist wohl diese Passage, die im 18. und 19. Jahrhundert die Produktion eines ganzen Füllhorns pädagogischer Variationen und Bearbeitungen des Insel-Stoffs ausgelöst hat. Keinen der zahlreichen Nachfolger Rousseaus scheint dabei gestört zu haben, dass Robinson eine zutiefst durch die Zivilisation geprägte Figur ist: Wäre es ihm nicht gelungen, vom Wrack seines Schiffes Waffen, Werkzeuge und Vorräte zu retten (er unternimmt immerhin ein Dutzend Fahrten zum Schiff, bis dies endgültig untergeht), so hätte er wohl kaum die ersten Wochen auf der Insel überstanden. Die wahren Naturkinder des Buches sind die kannibalischen Wilden, die Robinsons Insel von Zeit zu Zeit besuchen, die aber so märchen- und schemenhaft bleiben, dass in aufklärerischer Absicht mit ihnen schlicht nichts anzufangen ist.

Für den heutigen Leser liest sich das Buch befremdend: Robinsons Egozentrik und Selbstgefälligkeit, seine christliche Arroganz, seine moralische Engstirnigkeit lösen bei Erwachsenen wahrscheinlich nur noch Kopfschütteln aus. Breite Passagen des Buches haben sich schlicht überlebt, und Robinson Crusoe ist heute wohl wieder das, was es ehemals war: eine Abenteuer-Scharteke, etwas zu lang, aber sonst ganz nett, wenn man nicht zu genau hinschaut. Weltliteratur durch sein Alter, Hochliteratur eher nicht.

Daniel Defoe: Robinson Crusoe. Zwei Teile in einem Band. Aus dem Englischen von Lore Krüger. München: C. H. Beck, 31997. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 415 + 368 Seiten.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix

Asterix lebt! Mit diesem Band beweist das neue Autorenteam und auch der deutsche Übersetzer Klaus Jöken, dass sie durchaus in der Lage sind, an alte Höhen anzuknüpfen. Der Band hat nicht nur eine akzeptable Geschichte zu erzählen, sondern auch die Wortspiele und Anspielungen funktionieren diesmal und das übergeordnete Thema der Jugendkultur ist einigermaßen überzeugend durchgehalten, wenn auch hier sicherlich die Einschränkung zu machen ist, dass es sich einmal mehr um eine Jugendkultur handelt, wie sie sich jene vorstellen, die an ihr nicht teilhaben.

Die Geschichte knüpft sehr locker an den Vorläufer Asterix und der Avernerschild an und vermeidet zugleich, Asterix und die Normannen zu kopieren: Adrenaline, die Tochter des Häuptlings Vercingetorix, der bei Alesia vor Cäsar kapitulieren musste und als Gefangener nach Rom geführt wurde, wird von den Römern verfolgt, da sie im Besitz des Wendelrings ihres Vaters ist; mit diesem Symbol väterlicher Macht könnte das Mädchen zum Kristallisationspunkt eines neue gallischen Aufstands werden. Um das Mädchen vor den Römern zu schützen, wird sie in das berühmte kleine gallische Dorf gebracht, wo selbstverständlich Asterix und Obelix mit ihrer Bewachung beauftragt werden. Ebenso selbstverständlich kann Adrenaline entkommen, läuft den Piraten in die Hände, die wiederum von Asterix und Obelix verfolgt und erreicht werden, als deren Schiff von einer römischen Galeere aufgebracht wird. Nach der unvermeidlichen Schlägerei wird auch diesmal alles gut, und Adrenaline erfüllt den Auftrag ihres Vaters „Widerstand zu leisten und frei zu bleiben“ auf ihre ganz eigene Weise.

Alles in allem nach langer Zeit wieder einmal ein runder Asterix-Band, der weitgehend funktioniert. Wie schon beim letzten Band gesagt: „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Die Tochter des Vercingetorix. Asterix Bd. 38. Berlin: Egmont Ehapa, 2019. Bedruckter Pappband, 48 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen

Man muss allem ehrlich ins Gesicht sehn und sich nichts weismachen lassen und vor allem sich selber nichts weismachen.

Der kleine Roman aus dem Jahr 1887 spielt in Berlin in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre und erzählt die Liebesgeschichte zwischen der Näherin Lene Nimptsch und Baron Botho von Rienäcker. Kennengelernt haben sich die beiden, als Botho Lene und eine Freundin bei einem Bootsausflug aus einer Notlage errettet und anschließend nach Hause begleitet. Seitdem ist Botho regelmäßiger Gast in der beim Zoologischen Garten gelegenen Gärtnerei, bei der Lene zusammen mit ihrer Ziehmutter wohnt. Für Lene ist es nicht die erste Freundschaft mit einem Adeligen; für Botho ist es eine entspannende Auszeit vom Umgang in der adeligen Gesellschaft, den er als bemüht und anstrengend empfindet. Die Beziehung der beiden gipfelt in einer gemeinsamen Nacht, die sie in einem etwas abgelegenen Gasthaus miteinander verbringen. Doch ist dies zugleich der Anfang vom Ende.

Botho steht von Seiten seiner Familie unter Druck, eine schon lange verabredete Verlobung mit seiner wohlhabenden Kusine endlich zu realisieren. Die Familie Bothos ist auf das Geld angewiesen, und Botho gibt den Vernunftgründen nach, trennt sich von Lene und heiratet das Geld. Seine Frau Käthe erweist sich als eine fröhliche, wenn auch etwas oberflächliche Natur, mit der sich gut auskommen lässt. Dennoch hängt Botho auch nach seiner Hochzeit immer noch seiner Liebe zu Lene nach. Auch Lene macht die Trennung zu schaffen, aber sie bewältigt ihre Trauer: Sie sorgt für den Umzug mit ihrer Mutter in eine bessere Gegend und lernt einen soliden, älteren Mann kennen, der sie trotz ihrer Vorgeschichte heiratet. Sowohl Botho als auch Lene wachsen am Ende über ihre Liebe hinaus und werden vom Autor in eine ernüchternde Normalität entlassen.

Fontane selbst hat Irrungen, Wirrungen ebenso wie den nachfolgenden Roman Stine, der von einer ganz ähnlichen Beziehung erzählt, als „harmlos“ bezeichnet. Offensichtlich handelt es sich in beiden Fällen um Literatur aus Literatur, also eine Variation eines damals populären und in der Trivialliteratur der Zeit viel behandelten Stoffs. Doch das von Fontane gewählte Ende von Irrungen, Wirrungen, das sich sowohl einer Tragödie als auch dem Happy End der Komödie verweigert, hebt seine Abwandlung aus dem zeitgenössischen Schema heraus: Nichts Dramatisches ereignet sich, niemandes Leben wird zerstört, aber es werden auch keine Standesgrenzen gesprengt und das kleine, private Glück der Liebe gefeiert. Lene und Botho bleiben beide mit einem „Knax für’s Leben“ zurück – um noch einmal Fontane selbst zu zitieren –, doch bleibt es bei der „Berliner Alltagsgeschichte“, als die der Roman im Zeitungsvorabdruck bezeichnet wird.

Neben der Liebesgeschichte liefert Fontane besonders im ersten Teil ein breit ausgemaltes Bild vom einfachen Leben im Berlin der 1870er Jahre. Für wie gelungen man das hält, muss jede und jeder für sich entscheiden; mir ist der darin vorherrschende etwas süßliche Idyllenton schon ein wenig auf die Nerven gegangen.

Das Buch hat bei der Vorab-Veröffentlichung einen ziemlichen Skandal gemacht; besonders die gemeinsame Übernachtung der beiden Unverheirateten hat damals einige Gemüter in Wallung gebracht, obwohl es sich gerade bei dieser Passage um die noch dezenteste des ganzen Buchs handelt. An anderen Stellen werden die Umstände, unter denen der „Storch“ die Kinder in die Welt bringt, weit deutlicher angesprochen. Auch wenn sich das für heutige Leser alles gänzlich harmlos liest, kann man hier gut erkennen, welchen Empfindlichkeiten sich ein Autor am Ende des 19. Jahrhunderts noch gegenüber sah.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. RUB 18741. Stuttgart: Reclam, 2010. Broschur, 199 Seiten. 4,40 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (125)

Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von anerkanntem Verdienste zu verfahren: es fängt nach und nach an, gleichgültig gegen sie zu werden, und begünstigt viel geringere, aber neu erscheinende Talente, es macht an jene übertriebene Forderungen und läßt sich von diesen alles gefallen.

Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre

Allen Lesern ins Stammbuch (124)

Die Illusion der Klarheit kommt zustande, sagte Linda, weil der Text immer deutlicher ist als das Leben dessen, der ihn geschrieben hat. Der Text ist sogar klarer als das Leben jedes beliebigen Lesers. Darin liegt die fürchterliche Verlockung der Literatur; das Leben soll endlich dem Text folgen, es soll sich in Klarheit verwandeln.

Wilhelm Genazino
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Wolf Wondratschek: Erde und Papier

Normalerweise kaufe ich solche Sammelbände nicht, die in den meisten Fällen nichts anderes darstellen als eine ausgefegte Schreib­tisch­schub­la­de des Autors. Doch diesmal stand ich in der Buchhandlung, sah verwundert auf den Autor und dachte: „Ach, den gibt’s noch?“ Ich schlug den Band auf und las:

1. Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?

Mir ist es nicht einmal gelungen, ein irgendwie besonderes Interesse dem eigenen Leben gegenüber aufzubringen. Dagegen bewunderte ich immer schon, und das fast neidisch, die Klugheit der Tiere. Keines nimmt sich wichtig. Ein Vogel fällt tot vom Ast, ohne sich leidzutun.

2. Warum?

Ich schaue gern vom Spielfeldrand zu und erwarte den Abpfiff. Das Menschengeschlecht war ein Irrtum, eine Ungeheuerlichkeit, eine Zumutung. Schluss damit! Angesichts der Ewigkeit, also historisch gesehen, wird das Auftauchen des Homo sapiens und sein Verschwinden ohnehin eine Unwichtigkeit gewesen sein.

Die Fragen erkannte ich sofort. Auch ich hatte einmal – in pubertärer Verwirrung – versucht, die Fragebögen aus Max Frischs Tagebuch 1966–1971 zu beantworten und war an der Spannung zwischen Idealismus und Pessimismus in mir gescheitert. Aber diese Antworten waren mir jetzt ganz nah. So hätte ich damals wohl auch antworten mögen, ohne es zu können.

Der Band versammelte essayistische Texte von den 70-er Jahren bis nah an die Gegenwart heran. Ton und Inhalt sind ganz und gar eigenständig und weit von der allgemeinen Albernheit unseres offiziellen Kulturbetriebs entfernt. Man muss nicht alles teilen – so finde ich etwa die Begeisterung von Intellektuellen für Leute, die sich gegenseitig in die Fresse schlagen, einfach abstoßend –, aber selbst das, was mir fremd geblieben ist, habe ich mit Interesse gelesen. Mal schauen, wohin es führt.

Wolf Wondratschek: Erde und Papier. Hg. v. Claudia Marquardt. Berlin: Ullstein, 2019. Pappband, 329 Seiten. 24,– €.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro

»Was für ein Krampf, das Dahrsein«

Nach langwierigen Vorarbeiten erschien dieser Roman 1959 und war praktisch über Nacht ein Erfolg, wurde bereits in darauf folgenden Jahr verfilmt und auch ins Deutsche übersetzt. Mit diesem Roman wurden die deutschen Leserinnen und Leser zum ersten Mal mit der Avantgarde der französischen Literatur bekannt, die Eugene Helmlé wenigstens für eine Weile praktisch im Alleingang ins Deutsche übersetzte. Nach Queneaus Stilübungen hat Frank Heibert nun auch dessen bekanntesten Roman neu übertragen.

Zazie in der Metro erzählt von einem Wochenende in Paris, an dem Jeanne Grossestittes – ihr Namen ist auch im Original ein so grobes Wortspiel – ihre Tochter Zazie bei ihrem Onkel Gabriel abgibt, da sie sich ungestört mit einem Liebhaber vergnügen möchte. Zazie kommt aus der Provinz und ihr wichtigstes Ziel bei diesem ersten Besuch der Großstadt ist eine Fahrt in der Metro. Zu Zazies Pech wird die Metro an dem Wochenende bestreikt, so dass ihr erst ganz am Ende die ersehnte Fahrt vergönnt ist, die sie aber wohl aufgrund einer zuvor durchgefeierten Nacht verschläft.

Zazie ist wahrscheinlich so um die 13 Jahre alt, ziemlich vorlaut – „Leck mich!“ ist ihre Lieblingsphrase – und hat, wenn man ihr glauben darf, schon einiges durchgemacht: einen Alkoholiker als Vater, der sie missbraucht hat, die Ermordung dieses Vaters durch die Mutter und deren Liebhaber, den Gerichtsprozess, in dem sie aussagen musste. Es ist also nicht verwunderlich, dass Zazie etwas frühreif geraten ist. Und auch die Menschen, die sie durch ihren Onkel nun kennenlernt, sind hauptsächlich bestimmt durch ihr Verhältnis zu Sex, Alkohol und die Polizei. Aber das hindert sie nicht daran, in dem sich immer weiter steigernden Chaos des Wochenendes ihr Vergnügen zu finden.

Insgesamt ist das Buch episodisch und erzählt eine Alltagsgeschichte, deren Fiktion immer wieder durch Figurenverwandlungen, Wortspiele, Leseransprache etc. durchbrochen wird. Queneau mischt die unterschiedlichsten Sprachstile von der hohen Literatursprache bis zum Straßenargot, das in bester avantgardistischer Manier phonetisch wiedergegeben wird. Die Neuübersetzung ist in Tempo und Sprachwitz auf der Höhe des Originals und ermöglicht die vergnüglich Wiederentdeckung eines Klassikers der französischen Moderne.

Raymond Queneau: Zazie in der Metro. Aus dem Französischen von Frank Heibert. Berlin: Suhrkamp,22019. Pappband, Lesebändchen, 239 Seiten. 22,– €.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow

Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten und ziehen dann jedesmal den Kürzeren.

Schach von Wuthenow aus dem Jahr 1882 (Buchausgabe: 1883) ist nach Vor dem Sturm Fontanes zweiter Roman, dessen Handlung in der Napoleonischen Zeit spielt. Ob die Gattungsbezeichnung korrekt ist, wird seit langer Zeit diskutiert; Fontane selbst nannte den Text mehrfach eine Novelle, so dass man je nach Geschmack entweder von einem kurzen Roman oder einer ausgefallenen Novelle sprechen kann. Wie zahlreichen anderen Texten Fontanes liegt auch diesem ein historischer Fall zugrunde, den Fontane dramaturgisch strafft und zuspitzt.

Die Handlung spielt in Berlin im Jahr 1806 am Vorabend der preußischen Niederlage gegen Napoleon. Erzählt wird von dem jungen Baron Schach von Wuthenow, Angehöriger des Regiments Gendarmes, der als ein Außenseiter und eingebildeter Schönling gilt. Schach verkehrt im Salon der verwitweten Josephine von Carayon, die mit ihrer Tochter Victoire in keineswegs luxuriösen Umständen in der Nähe des Gendarmenmarktes wohnt. Ihn verbindet eine offensichtliche Sympathie mit der Mutter; zugleich lässt sich eine Verliebtheit der mit ihm etwa gleichaltrigen Tochter in Schach aber nicht leugnen.

Der erste Teil des Romans widmet sich ausführlich der Schilderung der Situation Preußens, das einen fragilen Frieden mit Frankreich erreicht hat, an dessen Dauer aber niemand recht glauben kann. Zur Knüpfung des dramatischen Knotens kommt es, als Schach eines Abends unangemeldet bei den Carayons vorspricht und Victoire allein antrifft. Statt sich sofort wieder zu verabschieden, wie es sein erster Impuls ist, bleibt Schach und beginnt, mit Victoire zu plaudern.

Ach, das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte. Und nun hörte sie sie willenlos und schwieg in einer süßen Betäubung.

Die Zimmeruhr schlug neun und die Turmuhr draußen antwortete. Victoire, die den Schlägen gefolgt war, strich das Haar zurück, und trat ans Fenster und sah auf die Straße.
» Was erregt dich?«

Der Übergang des Dialogs vom formellen Sie zum intimen Du muss genügen, um das eigentliche Geschehen zu schildern. Victoire ist eine ehemalige Schönheit, die durch eine Erkrankung an Blattern entstellt ist. Alles, was der Leser sonst von ihr erfährt, macht sie zu einer potentiell idealen Gattin Schachs, doch fürchtet der eine offizielle Verbindung mit ihr, die ihn möglicherweise dem Spott seiner Kameraden aussetzen würde. Schach versucht daher in den folgenden Wochen konsequent jede intimere Begegnung mit Victoire zu vermeiden, die auch diese Wendung ihrer Beziehung zu Schach klag- und kommentarlos hinnimmt, bis sie eines Tages zusammenbricht und ihrer Mutter das Geschehene verrät, wohl auch, weil es sich ohnehin nur noch eine begrenzte Zeit würde verheimlichen lassen.

Frau von Carayon stellt Schach daraufhin bestimmt, wenn auch nicht unfreundlich zur Rede, der sich sofort zu seiner Verantwortung bekennt und mit der Mutter sowohl den Verlobungs- als auch den Hochzeitstermin festlegt. Doch in der Woche vor der Bekanntmachung der Verlobung erscheinen in Berlin Stück für Stück drei Karikaturen, die Schachs Verhältnis sowohl zur Mutter als auch zur Tochter thematisieren. Schachs einziger Einfall ist es, sich sofort und ohne sich zu verabschieden auf sein Schloss Wuthenow zurückzuziehen und dort quasi zu verstecken.

Die düpierte Frau von Carayon, die von den Karikaturen noch nichts weiß, glaubt Schach wolle sich nun doch vor der Ehe mit Victoire drücken und nutzt ihre Verbindung zum Hof, um die Einhaltung von Schachs Versprechen einzufordern. Der König – Friedrich Wilhem III. –, zitiert ihn an den Hof und teilt ihm ziemlich lakonisch mit, dass er von ihm die Erfüllung seiner Pflicht oder seinen Abschied als Offizier erwarte. Sogar Königin Louise lässt sich dazu herbei, Schach ins Gewissen zu reden.

Die gnädigen Worte beider Majestäten hatten eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt; trotzdem war er nur getroffen, in nichts aber umgestimmt worden. Er wusste, was er dem König schuldig sei: Gehorsam! Aber sein Herz widerstritt, und so galt es denn für ihn, etwas ausfindig zu machen, was Gehorsam und Ungehorsam in sich vereinigte, was dem Befehle seines Königs und dem Befehle seiner eigenen Natur gleichmäßig entsprach.

Dieses „etwas“ bildet nun die eigentliche Pointe des Textes: Schach verlobt sich und heiratet Victoire, wie es von ihm erwartet wird, und auf der Rückfahrt von der Hochzeitsfeier nach Hause – am nächsten Tag soll das Brautpaar in die Flitterwochen reisen – erschießt er sich in seinem Wagen.

Fontane schließt mit zwei Deutungen des „Falls Schach“: Zum einen durch den damals berühmten Militärhistoriker von Bülow, der Schach als ein Symbol für den aushöhlten Ehrbegriff des preußischen Militärs versteht, zum anderen durch Schachs Ehefrau Victoire, die den Freitot ihres Mannes als Flucht vor der von ihm gefürchteten Institution der Ehe deutet und sich mit dem Glück ihres Kindes bescheidet. Wie durch den ganzen Text hindurch repräsentiert Victoire den Sieg des Stoizismus über die Welt.

Natürlich bietet sich eine dritte Deutung des Buch, nicht so sehr des „Falls Schach“ an: Fontane wollte seine Erzählungen als eine Fortsetzung des Programms der Weimar Klassiker unter Überspringen des romantischen Denkens und Erzählens verstehen. Von daher kann Schach von Wuthenow programmatisch gelesen werden, die sozusagen im Rückblick der Romantik den Spiegel vorhält und sagt: Seht dies war Eure Welt und solche Stoffe standen Euch zur Verfügung, und nichts davon findet sich in Euren Romanen wieder. Dass diese Sicht nicht nur anachronistisch, sondern auch ungerecht wäre, ist sowohl offensichtlich als auch wenig erheblich. Klappern gehört eben zum Handwerk, auch dem eines Schriftstellers.

Nur am Rande sei hier noch auf eine außerordentliche Auseinandersetzung mit diesem Text hingewiesen: Uwe Johnson lässt im vierten Band seiner Jahrestage Gesine Cresspahl in ihrem letzten Schuljahr diesen Roman unter Anleitung eines jungen, gerade von der Universität kommenden Kandidaten lesen und liefert so einen wundervollen Kommentar eines Schriftstellers zu einem Meisterstück eines seiner Vorgänger. Unbedingt lesenswert.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. RUB 19518. Stuttgart: Reclam, 2019. Broschur, 214 Seiten. 4,40 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (122)

«Ihr tut meinem Beruf zu viel Ehre an», sagte Yoomy. «Wir Sänger singen unsre Lieder ganz unbekümmert, edler Herr Media.»
«Ja und umso mehr Unheil verursachen sie.»
«Doch manchmal sind wir Dichter auch lehrreich.»
«Lehrreich und öde. Viele von euch langweilen allzu gern, außer sie sind boshaft.»
«Doch in unseren Versen, edler Herr, führen nur wenige von uns Böses im Schilde.»
«Seid ihr auch für euch selbst harmlos, so doch nicht für Mardi.»
«Entspringen schmutzige Flüsse nicht oftmals klaren Quellen, edler Herr?», bemerkte Babbalanja. «Die Essenz alles Guten und Bösen ist in uns und nicht außerhalb. Die Blumen, auf denen sich Bienen und Wespen nebeneinander niederlassen, enthalten weder Gift noch Honig. Natur ist eine unbefleckte Jungfrau, edler Herr, die stets unverhüllt vor uns steht. Echte Poeten malen nur den Zauber, den alle Augen schauen. Die Verderbten wären auch ohne sie verderbt.»

Herman Melville
Mardi