schreibe einen text. jetzt
entferne sämtliche lügen.
cia rinne
Wie progressiv mein Deutschunterricht gewesen ist, begriff ich erst, als mir klar wurde, dass die Kenntnis von Gedichten Ernst Jandls oder Gerhard Rühms durchaus nicht zur Allgemeinbildung der meisten deutschen Gymnasiasten gehörte. Dass jene Gedichte, die ich unter dem Schlagwort „Konkrete Poesie“ kennengelernt hatte, eine sehr moderne Spielart der Lyrik waren, war mir klar; eine wie schmale Spalte sie bildeten dagegen nicht. Und noch später fand ich dann erst die Vorläufer, die spätestens seit der Barocklyrik existieren. Dass diese Spielart des Wortspiels überhaupt so bekannt ist, wie sie es ist, verdankt sich zu einem wesentlichen Teil auch der Sammlung Eugen Gomringers, die 1972 zum ersten Mal erschien und eine essentielle Auswahl vorstellte. Reclam hat nun im vergangenen Jahr eine erweiterte Neuauflage des Bändchens aufgelegt, die zusätzlich Gedichte von neun weiteren Autoren liefert.
konkrete poesie – das sind texte zum meditieren, zum spielen und mitspielen. sie helfen das gesicht der wörter wieder zu entdecken, im trivialen das komplexe, im komplexen das triviale.
Die Sammlung zeigt eine erstaunliche Breite an Stilen und Ansätzen, die von rein formalen Spielen über rhetorische Studien bis zu sehr direkt politischen Gedichten reicht. Natürlich kann immer nur ein sehr schmaler Ausschnitt aus dem lyrischen Werk der Autoren aufgenommen werden, aber der Band ist ein idealer Einstieg in diese Form moderner Lyrik, von dem ausgehend sich ganz eigene Welten entdecken lassen.
a short history of life
(en vers, tout calculé)
verehren
verkehren
verzehren
vermehren
vers ehren
gegen ehren
(so kann das nicht weitergehen)
cia rinne
Ergänzend hat Gomringer im Jahr 1996 den Band „visuelle poesie“ zusammengestellt, dessen Beiträge einen deutlich stärkeren optischen Einschlag haben. Wer sich den einen Band besorgt, sollte auch gleich den anderen mit bestellen.
konkrete poesie. anthologie von eugen gomringer. Erweiterte Neuausgabe. RUB 19554. Stuttgart: Reclam, 2018. Broschur, 271 Seiten. 8,80 €.
visuelle poesie. anthologie von eugen gomringer. RUB 9351. Stuttgart: Reclam, 1996. Broschur, 153 Seiten. 4,80 €.
Raymond Queneau gehört zu einer Gruppe französischer Schriftsteller, die sich in Deutschland einen kleinen, aber treuen Kreis von Lesern erobern konnte, was in der Hauptsache der unermüdlichen Übersetzungsarbeit Eugen Helmlés zu verdanken sein dürfte. Queneaus bekanntester Text dürfte der kleine Roman Zazie in der Metro (1959) sein, auch wegen der Verfilmung durch Louis Malle.
Die Stilübungen sind eine Sammlung kurzer Variationen auf eine vollständig nichtssagende Anekdote von einem jungen Mann, der sich in einem Bus mit einem anderen Passagier streitet, weil dieser ihn mehrfach angerempelt hat und sich dann auf einen freien Platz setzt; zwei Stunden später entdeckt der anonyme Erzähler den jungen Mann erneut, als der von einem Bekannten über einen fehlenden Knopf an seinem Mantel belehrt wird. Diese kurze Erzählung wird nun durch allerlei stilistische Varianten gejagt, sowohl in Prosa als auch in Versform. So kommen insgesamt mehr als Hundert Kurztexte zusammen, die auf immer andere Weise um dasselbe Nichts tanzen.
Interessanterweise sind eine bedeutende Anzahl dieser Stilübungen noch während des Zweiten Weltkriegs unter der deutschen Okkupation Frankreichs entstanden und veröffentlicht worden. 1947 erschien dann ein Buch mit 99 Stilübungen, die aber mit der Zeit immer noch erweitert wurden. Eugen Helmlé übersetze dann 1961 zusammen mit Ludwig Harig 100 dieser Kurztexte ins Deutsche und eröffnete damit überhaupt erst die Rezeption Queneaus in Deutschland. Jetzt arbeitet Frank Heibert diesen Übersetzungen noch einmal nach, indem er vor drei Jahren zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel eine stark erweiterte Ausgabe der Stilübungen neu übersetzte und in diesem Jahr auch Zazie in der Metro folgen ließ. Die Neuübersetzung ist frisch und macht Spaß holt damit die besten Qualitäten Quenaus wieder zurück ins Bewusstsein der jüngeren deutschen Leserschaft.
Für alle, die Vergnügen an Sprachspielen und -variationen haben, eine sehr gute Gelegenheit, sich Queneaus wirklich bedeutendem literarischen Werk zu nähern.
Raymond Queneau: Stilübungen. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. bibliothek suhrkamp 1495. Berlin: Suhrkamp,22017. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 215 Seiten. 22,– €.
Von Zeit zu Zeit fällt einem doch wieder einmal ein rundum gelungenes Buch in die Hand! Dieser großformatige Band (ein wenig über DIN A4) widmet sich dem Zusammenhang zwischen Kartographie und Literatur, also nicht nur dem Phänomen der fiktiven Karten, sondern auch dem der geographischen Karten, die zu Stoff für die Phantasie von Autoren wurden oder die selbst ihre weißen Flächen mit erfundenen Kontinenten, Inseln, Ländern und Bewohnern angefüllt haben. Er ist üppig bebildert und enthält zahlreiche locker geschriebene, gut lesbare und interessante Essays, die sich von ganz verschiedenen Richtungen aus dem zentralen Thema annähern: So eröffnet der Herausgeber Huw Lewis-Jones den Band mit einem ausführlichen Gang durch den Teil der englischsprachigen Literatur, der auf die ein oder andere Weise mit der Kartographie verbunden ist; es folgen dann Autoren der phantastischen Literatur, Zeichner phantastischer Karten (darunter Daniel Reese, der die Karten für die Herr-der-Ringe-Verfilmungen von Peter Jackson gezeichnet hat), Leserinnen und Leser (so etwa die witzige und immer originelle Sandi Toksvig, die durch die durch und durch englische Quizshow QI endgültig zur Berühmtheit geworden ist), ja es findet sich mit Roland Chambers sogar ein Illustrator, der die durchaus weit verbreitete Furcht vor Karten thematisiert.
Der Band ist zu stundenlangem staunenden Blättern ebenso gut wie zur unterhaltendsten Lektüre, die selbst wieder Anlass werden wird zu eigenen Entdeckungen und neuen Lektüren. Als deutschsprachiger Leser wünschte man sich natürlich, dass auch die eigene Literatur vorkäme, so etwa Arno Schmidt mit seinen selbstgezeichneten Karten und Skizzen oder auch Heimito von Doderer mit seinen riesigen Wandplänen, auf denen er die Welt seiner Figuren entworfen hat. Aber man kann nicht alles haben.
Es ist noch ein wenig früh für Geschenktipps zum Fest: Aber mit diesem Buch macht man allen Freunden gleich welchen Literaturgenres eine Freude. Ein ideales Geschenk für sich und andere!
Huw Lewis-Jones (Hg.): Verrückt nach Karten. Aus dem Englischen von Hanne Henninger. Geniale Geschichten von fantastischen Ländern. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 256 Seiten. 34,– €.
Als sich Lombardo ans Werk machte, wusste er nicht, was es werden würde. Er mauerte sich nicht in Pläne ein, er schrieb drauflos; und dadurch drang er immer tiefer in sein Inneres. Wie ein beherzter Reisender, der sich durch trügerische Wälder schlägt, wurde er schließlich für seine Mühen belohnt.
Zum 200. Geburtstag Melvilles legt Manesse noch einmal dessen dritten Roman Mardi vor, der vor 170 Jahren erschienen ist. Melville hatte seine Laufbahn als Autor mit zwei Südsee-Romanen (Typee (1846) und Omoo (1847)) begonnen, die auf das allgemeine Interesse der Zeit an Reisebeschreibungen und die voyeuristischer Neugier auf die Südsee-Insulaner im Besonderen trafen und vergleichsweise erfolgreich waren. Natürlich waren Verleger und Publikum an einer Fortsetzung dieser Linie interessiert, aber Melville selbst war durch die Wiederholung des ewig Gleichen offenbar gelangweilt. Ihm ging es eher darum, seine Möglichkeiten als Autor auszutesten und den Rahmen dessen, was in einem Roman möglich war, auszuloten. Daher heißt es schon im kurzen Vorwort zum Roman:
Nachdem ich in jüngster Zeit zwei Reiseerzählungen aus dem Pazifik veröffentlicht hatte, die mancherorts ungläubig aufgenommen wurden, kam mir der Gedanke, tatsächlich ein Südseeabenteuer als Fantasieerzählung zu schreiben, um zu sehen, ob diese Fiktion nicht möglicherweise für wirklich genommen werden kann: in gewissem Grade die Umkehrung meiner vorigen Erfahrung.
Dementsprechend fängt Mardi als ein ziemlich konventioneller Seefahrer-Roman an: Der Ich-Erzähler hat auf einem Walfänger angeheuert, um von einer der Südsee-Inseln fort und über die Zwischenstation der Galapagos-Inseln wieder in zivilisiertere Gebiete zu kommen. Doch der Kapitän der Arcturion ändert, da das Jagdglück ausbleibt, seinen Kurs nach Norden, um in arktischen Gewässern Wale zu finden. Der Erzähler macht sich deshalb zusammen mit einem Schiffskameraden nachts heimlich von Bord, um zurück zu den Südsee-Inseln zu segeln, solange sie noch erreichbar sind. Nach einiger Zeit schon ganz in der Nähe ihres Ziels stoßen die beiden Deserteure – die inzwischen von einem treibenden Schiff einen Eingeborenen als Passagier aufgelesen haben – auf ein Floß, auf dem ein älterer Priester und seine drei Söhne eine offenbar weiße, junge Frau transportieren. Als der Erzähler begreift, dass der Priester vorhat, das Mädchen Yillah zu opfern, tötet er diesen eher beiläufig und entführt sie.
Auf der Insel, die die kleine Reisegesellschaft kurze Zeit später erreicht und die zur fiktiven Inselgruppe Mardi gehört, die dem Roman seinen Titel gibt, wird der Erzähler als Personifikation des Halbgottes Taji angesprochen und zusammen mit seinen Gefährten entsprechend wohlwollend aufgenommen. Es beginnt eine kurze Episode paradiesischen Glücks, bis eines Tages Yillah spurlos verschwunden ist. Taji macht sich zusammen mit König Media, dem Philosophen Babbalanja, dem Poeten Yoomy und dem Historiker Mohi auf die Suche nach Yillah, womit der eigentliche, fantastische Teil der Reise durch Mardi beginnt. Von dieser Stelle an wandelt sich der Charakter des Textes zum Teil von Kapitel zu Kapitel: Zuerst findet sich eine Swiftsche Satire diverser Sitten und Institutionen, aber schon bald schweift das Buch über zu Gesprächen über Philosophie, Waljagd und Paläontologie, Freiheit und Notwendigkeit, Deismus und Atheismus, der Allmacht Gottes, Demokratie und Monarchie, Poetik und Geschichtsschreibung und was der Dinge mehr sind. Innerhalb der Reise durch Mardi findet auch eine komplette Weltumsegelung statt, bei der Charakterisierungen ganzer Kontinente, aber auch einzelner Länder vorgenommen werden. Es findet sich eine Verhöhnung Englands ebenso wie eine scharfe Kritik der Sklaverei in den USA – nicht nur, aber besonders die Südstaaten betreffend – und auch satirische Portraits einzelner Politiker. Auch die Februarrevolution wird als zerstörerischer Vulkanausbruch im Reiche Franko allegorisiert.
Man kann nicht wirklich sagen, ob das Buch mit seinen 800 Seiten zu kurz oder zu lang geraten ist. Bis auf den roten Faden der Suche nach Yillah und der Verfolgung Tajis durch die drei Söhne des getöteten Priesters ist die zweite Hälfte des Romans weitgehend formlos und anekdotisch. Er dokumentiert die weitgreifende Belesenheit des Autors, sein ernsthaftes Interesse an letzten Fragen, sein eigenwilliges religiöses Denken und nicht zuletzt sein politisches Engagement – von hier aus betrachtet, wird auch Moby-Dick zu einer deutlich politischeren Lektüre. Sowohl in seiner Auflösung der Form als auch in seinen enzyklopädischen Neigungen ist Mardi ein entscheidender Schritt Melvilles auf dem Weg zum Jahrhundertautor, der er durch Moby-Dick nur zwei Jahre später werden sollte.
Manesse hat die gute, moderne (und überhaupt einzige) Übersetzung des Romans komplett neu gesetzt, die Endnoten des Übersetzers in Fußnoten verwandelt – was angesichts der Tatsache, dass einige Teile des Textes für die meisten Leser doch der Erläuterung bedürfen, eine gute Entscheidung ist – und damit insgesamt ein sehr schönes Buch vorgelegt, bei dem einzig die Fadenheftung fehlt, um es als vollständig gelungen anzusehen.
Herman Melville: Mardi und eine Reise dorthin. Aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Rainer G. Schmidt. Zürich: Manesse, 2019. Pappband, Lesebändchen, 824 Seiten. 45,– €.
Fr. Rat. Morgens nach dem Kaffee – und dazu trink ich eine Bouteille Wasser, weil mir aus Eifer das Blut in den Kopf steigt – les ich zwei Stund und länger, aber alle Augenblick muß ichs Buch hinlegen und mich verwundern. Vorige Woche fing ich ein Buch an über die Inquisition von Goa. Da muß ich sagen, wenn auch mein Glauben mir bis zum Bergversetzen gelungen wär, so versetzt solch ein Buch mitsamt denen Bergen mich außer allen Glauben!
»Wär’s da nicht besser, Sie lesen solche Bücher nicht? – die nur Ihr Gemüt beunruhigen und Ihnen keine Erheiterung sind.«
Fr. Rat. Was halten Sie von mir, daß Sie mir einen so schwächlichen Rat geben? – Sollt ich meinen Geist mehr schonen als meinen Leib? – Der kann auch nicht auf Rosen gebettet liegen! und die Seel würde samt ihm zugrund gehen, die kein ander Exerzitium hätt als bloß Wohlbehagen. – Der Geist ist grad dazu gemacht, sich durch Dorn und Distel zu reißen, ich kann den Rat von Ihnen nicht gut heißen, ihn wie einen Schlemmer zu behandlen!
Da, da rennen sie alle auf der Straße hin und her, einer wie der andere schon seiner Natur nach ein Lump und Verbrecher; noch schlimmer – ein Idiot!
Der erste der fünf letzten, umfangreichen Romane Dostojewskijs, die im Westen das Zentrum seiner Rezeption bilden. Ich habe den Roman jetzt zum ersten Mal in der Übersetzung Swetlana Geiers gelesen, nachdem ich während des Studiums und auch später noch einmal an der Hermann Röhls gescheitert war. Überhaupt stelle ich fest, dass ich mit vielen Übersetzungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts so meine Schwierigkeiten habe. Mit der Neuübersetzung hat sich mir der Roman auf eine neue und ungeahnte Weise geöffnet.
Wie allgemein bekannt sein dürfte, erzählt das Buch die Geschichte vom Mord des ehemaligen Jurastudenten Rodion Raskolnikow an einer alten Pfandleiherin und ihrer Schwester, die ihn zufällig bei seiner Tat überrascht. Überhaupt ist Raskolnikow jene Art von Amateur, die sich für besonders schlau hält und sich gerade deshalb besonders dumm anstellt. Seine Tat geht in seiner eigenen Einschätzung weit über einen simplen Raubmord hinaus, vielmehr möchte sich der junge Mann für einen kommenden Napoleon halten und sich auf diese Weise das Startkapital für eine überragende, die Menschheit oder doch zumindest Russland beglückende Karriere verschaffen. Ein wesentlicher Teil der Entwicklung des Romans besteht darin, seinem Protagonisten wenigstens im Ansatz deutlich werden zu lassen, dass er eher kein Napoleon ist. Enttäuscht von sich selbst und eingeholt von der Sinnlosigkeit seiner Tat – die Beute hat er nicht angerührt, sondern an einem zufälligen Ort versteckt – stellt sich Raskolnikow der Polizei, als schon niemand mehr außer einzig dem ermittelnden Staatsanwalt an seine Schuld glaubt. Soweit das Muster des Kriminalromans, dem das Buch auf den ersten Blick folgt. Zwar macht ein sogenannter Epilog, der Raskolnikows Zeit und Wandlung in Sibirien schildert, deutlich, dass es Dostojewskij wesentlich um eine Wandlung Raskolnikows vom nihilistischen Saulus zum christlichen Paulus geht, doch kann man diesen Aspekt bei der Lektüre weitgehend ignorieren.
Der Roman zeichnet sich durch eine Fülle hoch differenzierter und interessanter Figuren aus: So etwa dem Lüstling Swidrigajlow, der sich an Raskolnikows Schwester zu vergreifen versucht und am Ende keine bessere Lust mehr weiß, als sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen. Oder Semjon Marmeladow, ein ehemaliger Beamter, der dem Suff verfallen ist und sich zugleich schwerste Vorwürfe macht, dass seine Familie im Elend lebt, ja seine Tochter aus erster Ehe – Sonja, die der rettende Engel Raskolnikows werden soll – sogar der Prostitution nachgeht, um die Familie über Wasser halten. Oder Pjotr Luschin – hier kein Schachspieler –, ein eingebildeter, egozentrischer, rachsüchtiger Schwachkopf, der sich allein wegen seiner Arroganz für ein überlegenes Wesen hält. Zudem laufen noch ein sozialistischer Ministerialbeamter, eine sentimentale Mutter, eine selbstbestimmte Schwester, ein immer auf das Notwendige verfallender Kommilitone, ein psychologisierender Arzt und was der wundervollen Typen mehr sind durchs Buch. Alle diese Charaktere sind handfester und ernster als die entsprechenden Chargen etwa bei Dickens, aber der Reichtum der Texte an Menschen und Menschlichkeit ist durchaus vergleichbar. Natürlich fehlt es Dostojewskijs Roman über weite Strecken an Humor – einige Stellen beweisen allerdings, dass er durchaus über diesen Ton verfügt –, doch zum Ausgleich dafür zeigt sein Figurenensemble eine durchaus sehenswerte Palette weltanschaulicher Positionen der Mitte des 19. Jahrhunderts.
In der Übersetzung Swetlana Geiers erscheint das Buch tatsächlich als der moderne Roman, als der er zu Anfang des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde.
Fjodor Dostojewskij: Verbrechen und Strafe. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft,21994. Pappband, Fadenheftung, 767 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 13,– €.
– Ich schmelze, sagte er, wie die Kerze sehr richtig bemerkte, als sie … Aber Schwamm drüber. Kein Wort mehr zu diesem Thema. Kinch, wach auf. Brot, Butter, Honig. Haines, komm rein. Der Fraß ist fertig. Segne uns, Herr, und diese deine Gaben.
Wo ist der Zucker? O je, wir haben keine Milch.
Stephen holte den Brotlaib, den Honigtopf und den Butterkühler aus dem Schränkchen. Buck Mulligan setzte sich in einem plötzlichen Anfall von schlechter Laune hin.
– Was ist das hier bloß für ein Saftladen! murrte er. Ich hab’ ihr doch ausdrücklich gesagt, sie soll gleich nach acht kommen!
– Wir können ihn ja schwarz trinken, sagte Stephen. Im Schrank ist auch noch eine Zitrone.
– Verdammtnochmal, du und deine Pariser Marotten, sagte Buck Mulligan. Ich will Sandycove-Milch!
Haines kam vom Eingang herein und sagte ruhig:
– Die Frau kommt schon herauf mit der Milch.
– Gottes Segen über dich! schrie Buck Mulligan, vom Stuhl aufspringend. Setz dich hin. Schenk den Tee da ein. Der Zucker ist in der Tüte. Hier, ich kann nicht erst lange noch rummurksen an den verdammten Eiern. Er hackte in dem Gebratenen auf der Schüssel herum, klatschte es auf drei Teller und sagte:
– In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.
Haines setzte sich, um den Tee einzuschenken.
– Ich gebe euch jedem zwei Stücke, sagte er. Aber das muß ich schon sagen, Mulligan, du machst ja den Tee ganz schön stark, was?
Buck Mulligan, eben dabei, dicke Scheiben vom Brotlaib zu säbeln, sagte mit der Schmeichelstimme einer alten Frau:
– Wenn ich Tee mache, dann mache ich Tee, wie die olle Mutter Grogan sagte. Und wenn ich Wasser mache, dann mache ich Wasser.
– Beim Jupiter, es ist Tee, sagte Haines.
Buck Mulligan fuhr fort zu säbeln und zu schmeicheln:
– Das mach’ ich, jawoll, Mrs. Cahill sagt sie. Ach Herrjeh, Ma’am, sagt da Mrs. Cahill, dann geb’s nur der liebe Gott, daß Sie’s nicht beides in denselben Topf machen!
Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobne Stellen – alles dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.
„Können Sie schwören, daß dies das weitestverbreitete Buch des Jahres ist?“
„Ohne Zweifel.“
„Können Sie behaupten, daß dies das Buch ist, das man gelesen haben muß?“
„Unbedingt.“
„Ist das Buch auch wirklich gut?“
„Was für eine gänzlich überflüssige und unstatthafte Frage!“
„Ich danke Ihnen recht sehr“, sagte ich kaltblütig, ließ das Buch, das die absolut weiteste Verbreitung gefunden hatte, weil man es unbedingt gelesen haben mußte, lieber ruhig liegen, wo es lag, und entfernte mich geräuschlos, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. „Ungebildeter und unwissender Mensch!“ rief mir freilich der Verkäufer in seinem berechtigten, tiefen Verdruß nach. Ich ließ ihn jedoch reden und ging gemächlich weiter, und zwar, wie ich sogleich auseinandersetzen und verständlich machen werde, direkt in die nächstgelegene imposante Bankanstalt.