Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here

Der Roman entstand und erschien 1935 und beschreibt einen faschistischen Staatsstreich in den USA nach dem Vorbild der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Der demokratische (im Sinne der US-amerikanischen Partei, nicht der Staatsform) Kandidat Berzelius Windrip gewinnt die Wahl 1935 mit einem populistischen Programm, das sich an Arme und Veteranen wendet und ihnen vergleichsweise goldene Zeiten verspricht. Nach seiner Inauguration Anfang 1936  hebelt er durch Not­stands­ge­set­ze den Kongress aus und zerschlägt die traditionellen US-Staaten durch das Einführen von willkürlichen Verwaltungsgrenzen und -strukturen, in denen seine Parteigänger als Funktionäre eingesetzt werden. Gestützt und geschützt wird dieser Prozess durch eine private Miliz, die Minute Men (M. M.), die faktisch die Polizeigewalt inne haben.

Protagonist des Romans ist Doremus Jessup, älterer Chefredakteur einer Tageszeitung einer Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Sozial etabliert, verheiratet mit drei Kindern und einer Geliebten, nicht parteipolitisch gebunden, ist Jessup das Muster des liberalen nordamerikanischen Intellektuellen: klassisch gebildet, sich der sozialen Frage bewusst mit einer leichten Tendenz zum demokratischen Sozialismus, misstrauisch allen starken Ideologien der Zeit gegenüber – also letzten Endes ein idealisierter Selbstentwurf Lewis’. Im Gegensatz zu den meisten seiner Bekannten misstraut Jessup von Beginn an dem Kandidaten Windrip, hält sich aber zurück in dem Glauben, dass das alles vorübergehen wird.

Erst ein Gewaltverbrechen an einem Rabbi und einem Universitäts-Professor durch einen betrunkenen hohen Vertreter des neuen Staates, also ein Übergriff politischer Barbaren auf die gesellschaftliche Gruppe, der er sich selbst zuordnen, veranlasst ihn zu einem ersten offen kritischen Kommentar in seiner Zeitung. Die Reaktion des neuen Staates lässt nicht lange auf sich warten: Jessup wird verhaftet und einem Richter vorgeführt, der sich aber überraschend milde zeigt, indem er Jessup dazu zu überreden versucht, sich mit dem neuen Staat zu arrangieren. Um seinem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, lässt er Jessups Schwiegersohn umgehend standrechtlich erschießen und  setzt ihm in seiner zeitung einen staatlichen Aufpasser vor die Nase, den er vorgeblich als seinen Nachfolger einarbeiten soll.

Jessup betreibt daraufhin erfolgreich seine Pensionierung und beginnt zugleich, sich dem politischen Widerstand gegen die Diktatur zu verbinden. Er betreibt im Neuen Untergrund eine geheime Presse, die Flugblätter mit Nachrichten und Gerüchten herstellt und verteilt. Insgesamt geht man in der kleinen lokalen Widerstandsgruppe sehr lax mit der Geheimhaltung um, so dass es kein Wunder ist, dass Jessup nach nur wenigen Monaten in einem Konzentrationslager landet. Nach nur fünf Monaten und nicht der grausamsten aller denkbaren Behandlungen wird er durch Initiative seiner Geliebten befreit und nach Kanada gebracht, wo er eine Stelle in der US-amerikanischen Exil-Regierung findet. Der Roman hat ein offenes Ende, das die ersten Erfolge des politischen und militärischen Widerstandes gegen den neuen Staat beschreibt, an dessen Spitze nach mehrfachen Staatsstreichen inzwischen ein Militär steht. Der letzte Satz feiert den ewigen Jessup, der nun bei aller ironischen Distanz und wohl in Ermangelung eines Besseren dann doch zum idealen Vorkämpfer der guten Sache gemacht werden muss.

Der Roman war ein sofortiger großer kommerzieller Erfolg. Man plante sogar eine Hollywood-Verfilmung, die aber trotz weitreichenden Vorbereitungen nie zustande kam– man darf staatliche Rücksichtnahme auf die Beziehungen zum Deutschen Reich als Ursache dafür annehmen. Stattdessen gab es eine sehr erfolgreiche Umsetzung für die Bühne. Es ist leicht zu erkennen, dass nicht nur Sinclair das Szenarium des Romans für eine nicht ganz und gar abwegige utopische Alternative zur US-amerikanischen Geschichte hielt.

Angeregt zu dem Buch wurde Lewis durch die Reportagen seiner Ehefrau Dorothy Thompson, die von 1924 bis 1934 in Berlin gelebt und den Aufstieg der Nationalsozialsten zur Macht journalistisch eng begleitet hatte. Aus ihrer Kenntnis und der weiterer Bekannter, die in dieser Zeit in Europa gelebt hatten, bezog Lewis im Wesentlichen die Vorbilder für die faschistische Machtübernahme in seinem Roman. Streng genommen gehört das Buch nicht in das Genre der Alternativen Geschichte, da es in der unmittelbaren Zukunft spielt, also eine Warnutopie darstellt, wird aber natürlich heute so gelesen. Es hat durch den aktuellen weltweiten  Rechtspopulismus, aber auch durch den in den USA gezogenen durchaus provokanten Vergleich des Aufstiegs Donald Trumps mit dem von Lewis’ Diktator Berzelius Windrip überraschend an Popularität gewonnen.

Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here. New York: Penguin Random House, 2014. Kindle-Edition, 195 Seiten. 5,49 €.

Warum es [angeblich] nicht egal ist, wie wir schreiben

Aber im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst gerät man in den Verdacht, man habe Ressentiment.

Theodor W. Adorno

Wenn der Duden ein Büchlein herausbringt, in dem es um Rechtschreibung geht, so kann man schlechthin keine Kampfschrift gegen das eigene Gewerbe erwarten, denn das Bibliographische Institut verdient ganz gut an der fixen Idee, alle Menschen in Deutschland müssten die meisten Wörter auf ein und dieselbe Weise schreiben. Doch folgt der Duden faktisch selbst der Einsicht, dass Sprache ein lebendiges System ist, das von den Gewohnheiten seiner Sprecherinnen und Schreiber geprägt wird und sich so in stetigem Wandel befindet. Was heute recht geschrieben ist, mag morgen schon obsolet sein und übermorgen falsch. Mithin dürfte man wenigstens den Anschein einer Einsicht in die faktische Relativität all dieser Regeln erwarten, wenn es schon bis zur historischen Relativierung nicht reicht.

Doch nichts davon enthält das Bändchen. Die gewählte literarische Form war mir bislang unbekannt: Es handelt sich um eine schriftliche Talkshow, mithin die Niederschrift von Stammtischgerede eines Treffens, das am 30.10.2017 in der Duden-Redaktion in Berlin stattgefunden hat. Ob dieses Treffen noch einem anderen Zweck diente, als dem, als Publikation zu enden, wird nicht mitgeteilt. Teilnehmerinnen sind: Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Duden-Redaktion, Ulrike Holzwarth-Raether, u. a. Grund- und Hauptschullehrerin, Peter Gallmann, Linguistik-Professor aus Jena, und Burghart Klaußner, Schauspieler und Inhaber eines orthographisch ungewöhnlichen Namens. Bei der Leiterin der Duden-Redaktion begreift man noch, warum sie teilnimmt, beim Professor sieht man es noch ein, aber was der Schauspieler da soll, ist eher unbegreiflich, allerdings nur solange, bis er den Mund aufmacht:

Ich fange gleich pathetisch an: Rechtschreibung ist Zivilisation. Ohne Rechtschreibung keine Zivilisation, keine Zivilisiertheit, keine Literatur, keine Sprache, nichts, außer Radebrechen und sich irgendwelche Schlagworte um die Ohren hauen.

Die halbfette Textauszeichnung entstammt so dem Büchlein; man markiert damit solch rasante Stellen, die der Sache besonders förderlich zu sein scheinen. Nun wäre eine solche Äußerung gleich eine gute Gelegenheit gewesen, Herrn Klaußner darauf aufmerksam zu machen, dass er besser sein Hirn einschalten sollte, bevor er das Mundwerk in Betrieb nimmt: Da es die Idee einer einheitlich geregelten Rechtschreibung in Deutschland vielleicht seit dem späten 17. Jahrhundert gibt, als Adelungs Wörterbuch zuerst erschien (und nicht erst seit 1880, als das erste Wörterbuch von Konrad Duden herauskam, wie man in der Dudenredaktion glauben zu müssen scheint (vgl. S. 45)), dürfte es gemäß der Klaußnerschen Theorie der Zivilisation zuvor keine deutsche Literatur gegeben haben. Dem scheinen einige Fakten entgegenzustehen. Und auch mit der Rechtschreibung scheint die Neigung zum Um-die-Ohren-hauen von Schlagwörtern (nicht Schlagworten!) nicht verschwunden zu sein. Aber gut.

Auch im weiteren erweist sich die Erfahrung als stimmig, dass wenn vier Menschen zusammensitzen und miteinander reden, viel Blödsinn zusammenkommt. Sicherlich findet sich vereinzelt auch ein vernünftiger, nicht gänzlich banaler Gedanke (besonders Professor Gallmann ist für solche Stellen gut), aber im Ganzen werden nur einige bekannte Vorurteile umeinander gewälzt, Herr Klaußner stellt seine durchgängige Inkompetenz zur Schau, Frau Kunkel-Razum verwechselt Unterrichtsmethoden der Grundschule miteinander, Frau Holzwarth-Raether beklagt die orthographische Qualität von Künstlerinnen- und Künstler-E-Mails, Herr Klaußner glaubt, es habe einstmals eine Regel gegeben, dass vor „und“ niemals ein Komma zu stehen kommt usw. usf. Es ist das alltägliche Durcheinander.

Zwar stellen die Beteiligten fest, dass sie alle selbst nicht zu 100 % rechtschreibsicher sind, aber keiner kommt auf die Frage, wie es denn um einen gesellschaftlichen Anspruch bestellt sein kann, der nicht einmal von denen erfüllt wird, die sich ganztägig und professionell damit beschäftigen. Und ebenso wenig kommt eine(r) auf die Frage, wie die angeblich nicht existente Zivilisation denn vor den Zeiten der einheitlichen Rechtschreibung hat erfolgreich schriftlich kommunizieren können. Gefährlich nahe kommt man der Einsicht, dass es sich bei der Rechtschreibung um „Herrschaftswissen, so hätte man früher gesagt,“ (Klaußner) handelt, kann aber das Schlimmste noch verhindern, indem man Herrn Klaußner hier wie auch anderswo erfolgreich ignoriert.

Alles in allem ein fröhliches Hauen und Stechen; wenn es ein Video wäre, würde ich die vorherige Zubereitung von Popcorn empfehlen. Natürlich wird nicht geklärt, warum es nicht egal ist, wie wir schreiben, aber wahrscheinlich ist das einfach deshalb so, weil es zwar schon egal wäre, aber der „Duden gelb“, wie es an einigen Stellen impressiv heißt, sich dann deutlich schlechter verkaufen würde. Ohnehin gibt es außerhalb von Schule und Behörden keinen Zwang zur Rechtschreibung, und selbst dem Duden würde nichts anderes übrig bleiben als zu kapitulieren, wenn wir uns denn alle dazu entschlössen, so zu schreiben, wie uns die Finger gewachsen sind: einander ähnlich, aber keiner gleich. Doch gilt auch hier die alte Einsicht: „Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt.“

Warum es nicht egal ist, wie wir schreiben. Berlin: Dudenverlag, 2018. Broschur, 64 Seiten. 8,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (105)

Die Philosophie ist Tochter deines Denkens und der ganzen Welt und wohnt in dir selbst; zwar noch nicht in klarer Gestalt, doch ähnlich der Erzeugerin Welt in ihrem gestaltlosen Anfang. Du mußt verfahren wie die Bildhauer, die durch Bearbeitung der gestaltlosen Materie mit dem Meißel die Gestalt nicht bilden, sondern aus ihr herausholen. Ahme der Schöpfung nach. Über den verworrenen Abgrund deiner Spekulationen und Experimente möge (wofern du willens bist, dich ernstlich um die Philosophie zu mühen) dein Denken emporgetragen werden. Das Verworrene muß zerteilt und unterschieden werden und jegliches, nachdem es die ihm zukommende Bezeichnung erhalten hat, seinen festen Platz bekommen, d.h. es bedarf einer Methode, die der Schöpfung der Dinge selbst entspricht.

Thomas Hobbes
Grundzüge der Philosophie

Marcus Braun: Der letzte Buddha

Marcus Brauns Bücher sind seit seinem ersten Roman „Delhi“ anspruchsvolle Lektüren. Sein vorletzter Roman „Armor“ erschien vor etwas mehr als 10 Jahren; nun folgte im vergangenen Jahr „Der letzte Buddha“. Während es sich bei „Armor“ um eine erzählerisch sehr verdichtete Kriminalerzählung handelte, versucht sich Braun nun im Genre der Alternativen Geschichte.  Allerdings ist seine Erzählweise diesmal recht schlicht: Nur die historischen Voraussetzungen der Fabel stellen einige Ansprüche an die Leser, der Text selbst liest sich flott herunter.

Dem Buch zugrunde liegt der Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts aufgekommene Konflikt um die Bestimmung des 11. Panchen Lama: Nach dem Tod des 10. Panchen Lama im Jahr 1989 machte man sich wie üblich auf die Suche nach seiner Reinkarnation. Nachdem man eine Reihe von Kandidaten ermittelt hatte, legte man dem im Exil befindlichen 14. Dalai Lama ihre Fotos vor und bat ihn um seine Auswahl. Der vom Dalai Lama ohne weitere Rücksprache ausgewählte Gendün Chökyi Nyima wurde aber von der chinesischen Regierung abgelehnt; Peking ließ seinen eigenen Kandidaten Gyeltshen Norbu durch ein traditionelles Losverfahren ermitteln und in sein Amt einsetzen. Seitdem gibt es zwei nominelle Inhaber der Position des Panchen Lama: der chinesische Panchen Lama residiert in Lhasa; der von der tibetischen Exilregierung gewählte Prätendent ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, lebt und arbeitet aber nach offiziellen Angaben irgendwo in China.

Marcus Braun lässt nun eben diesen Gendün Chökyi Nyima als Jonathan Daguerre an der Westküste der USA wieder auftauchen: Adoptivsohn zweier vielbeschäftigter Eltern, die das Kind der Adoptiv-Großmutter überlassen, ist Jonathan zu einem etwas unpraktischen und arbeitsscheuen jungen Mann herangewachsen, der sein Leben zwischen psychiatrischer Therapie und Surfboard verbringt. Dies Leben nimmt die für den Roman notwendige unerwartete Wendung, als dem Korrespondenten der Los Angeles Times in Nepal ein Umschlag zugespielt wird, der die Behauptung enthält, der verschwundene Prätendent des Dalai Lama lebe als adoptiertes Waisenkind von 20 Jahren in den USA.

Diese Offenbarung trifft bei Jonathan auf offene Ohren, der sich sofort berufen glaubt, die ihm angebotene Existenz als 11. Panchen Lama anzunehmen. Er gibt bereitwillig sein altes Leben auf und zieht sich als tibetischer Mönch in ein Kloster zurück, um seine spirituelle Ausbildung zu beginnen. Doch weder der tibetische Buddhismus noch das Erlernen der tibetischen Sprache scheinen ihm sehr zu liegen. Den Höhepunkt seiner Karriere bildet ein Treffen mit dem Dalai Lama, das aber zu einem nichtssagenden Fiasko gerät; kurz danach wirft man ihn aus dem Kloster und kümmert sich nicht weiter um ihn.

In der Zeit, in der Jonathan diese Verwandlung durchläuft, gerät auch das Leben des chinesischen Panchen Lama aus den Fugen: Nach einer längeren Meditationsübung kommt Gyeltshen Norbu zu dem Entschluss, er müsse die Tibeter in die Freiheit führen, und beginnt daher, politisch aktiv zu werden. Der lokale politische Kommissar der chinesischen Kommunisten sieht darin eine Chance, seine eigene politische Position zu stärken (wie das genau geschieht, verrät uns der Autor zum Glück nicht), und lässt den Panchen Lama vorerst agieren, ja, macht ihn später sogar zum Gouverneur Tibets. Auch diese Geschichte endet nicht wirklich glücklich.

Es braucht hier nicht erzählt zu werden, wie die beiden Protagonisten enden; Braun bringt seine Geschichte nur knapp zu einem glaubhaften Ende. Wenn es ein Ziel von Literatur ist, zu berichten, was wahrscheinlich geschieht, wenn etwas Unwahrscheinliches geschieht, so muss man wohl feststellen, dass Brauns Fabel dies nur zu einem Teil zu erfüllen vermag. Nicht nur bleibt völlig offen, von wem und zu welchem Zweck die Entdeckung Jonathans ins Werk gesetzt wird, noch kann Braun mit seiner Hauptfigur nach dem Durchlaufen der offensichtlichsten Folgen dieser Entdeckung noch irgendetwas anfangen. Und ehrlich gesagt ist mit Jonathan auch sonst kaum irgendetwas los. Mag sein, es soll dem Leser gezeigt werden, wie weit die moderne Brot und Spiele-Welt von der Welt des Buddhismus entfernt ist, dass sich Machtpolitik und Meditation ausschließen oder – man verzeihe die grobe Wendung – dass auch Mönche über gebrauchsfähige Geschlechtsorgane verfügen. Doch kaum einer, der das nicht ohnehin schon weiß, wird wohl bei Brauns Buch ankommen.

Marcus Braun: Der letzte Buddha. München: Hanser Berlin, 2017. Pappband, 208 Seiten. 20,– €.

Rudyard Kipling: Kim

»Je mehr man über die Eingeborenen weiß, desto weniger kann man vorhersagen, was sie tun werden oder was nicht.«

Rudyard Kipling ist in Deutschland in der Hauptsache als Autor des „Dschungelbuchs“ wahrgenommen worden; nur wenige dürften wissen, dass er 1907 der erste englische Literaturnobelpreisträger wurde und bis heute der jüngste Träger dieses Preises geblieben ist – Kipling war erst 41 Jahre alt, als ihm der Preis verliehen wurde. Während ihn die meisten deutschen Leser als eine Art von Kinderbuch-Autor ansehen werden, war Kipling in seiner Heimat aufgrund seines politischen Engagements eine höchst umstrittene Person; von seinen Gegnern wurde er gern als Faschist beschimpft, war aber im Grunde wenig mehr als ein erzkonservativer Militarist, der mit der Militärpolitik der britischen Regierungen stets höchst unzufrieden blieb. Auch sein Bild Indiens wurde von seinen ideologischen Kontrahenten gern bespöttelt: Wie man bei George Orwell lesen kann, wurde diesem von Bekannten Kiplings versichert, Kipling habe von Indien nur wenig Ahnung gehabt.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, bildet „Kim“ zusammen mit den beiden „Dschungelbüchern“ die Grundlage für das Indien-Bild zahlreicher Europäer. Kipling wurde 1865 in Bombay geboren und stand über die Schwestern seiner Mutter sowohl mit der künstlerischen als auch der politischen Elite Englands in verwandtschaftlicher Beziehung. Kiplings Vater war Künstler und Kunstpädagoge und später Museumsdirektor in Indien; Kipling erhielt zuerst die bei vermögenden Engländern übliche Erziehung in England; er wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Georgiana Burne-Jones, der Frau des Präraphaeliten Edward Burne-Jones. Eine anschließende universitäre Ausbildung in England konnte Kiplings Vater nicht finanzieren, so dass Kipling 1882 nach Indien zurückkehrte und in Lahore einen Job als Journalist bei der Civil & Military Gazette übernahm. In dieser Tageszeitung erschienen dann auch seine ersten Gedichte und Erzählungen. Bereits 1889 verließ Kipling Indien wieder und erreichte nach einer Weltreise London. Bereits verheiratet lebte Kipling anschließend für einige Zeit in den USA, bevor er sich dauerhaft in England niederließ. Als er 1907 den Literaturnobelpreis erhielt, war er bereits ein ebenso weltbekannter wie umstrittener Autor. Alle seine vier Romane hat Kipling in dem Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende verfasst – „Kim“ erschien als letzter 1901 in Buchform –, später beschränkte er sich auf Erzählungen und Gedichte.

Kim, der titelgebende Protagonist des Romans, ist ein halb irischer, halb indischer Waisenjunge, der bei einer Schwester seiner indischen Mutter in Lahore aufwächst. Als der Roman beginnt, ist Kim etwa 12 Jahre alt – die Handlung ist historisch nicht präzise einzuordnen, spielt aber sicherlich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts – und von einem eingeborenen Inder kaum zu unterscheiden. Er bewegt sich auf den Basaren wie ein Fisch im Wasser, hat Freunde unter den Fakiren und ist insbesondere befreundet mit dem afghanischen Pferdehändler Mahbub Ali, für den er von Zeit zu Zeit diskret kleine Aufträge erledigt. Erzählanlass aber ist, dass Kim vor dem Museum von Lahore einen Lama, also einen buddhistischen Mönch aus Tibet kennenlernt, dem er sich nahezu augenblicklich als Schüler zugesellt. Die beiden beginnen eine Reise durch Nordindien, da der Lama auf der Suche nach einem geheimnisvollen Fluss ist, der ihm Erleuchtung bringen soll.

Unterwegs treffen die beiden auf das Regiment, zu dem Kims Vater gehörte; Kim wird als Engländer erkannt und man will ihn in eine englische Wai­sen­schu­le stecken. Doch der Lama verpflichtet sich, für Kims Ausbildung zu bezahlen, und so besucht Kim – zwar zuerst nur widerwillig – eine der besten englischen Schulen in Lucknow. Natürlich erweist es sich, dass Mahbub Ali für den englischen Geheimdienst in Indien arbeitet und Kim aufgrund seiner Intelligenz und seiner Fähigkeit, als Inder durchzugehen, für eine Karriere in diesem Dienst vorgesehen ist. Während der Ferien erhält er eine Spezialausbildung als Spion und wird nach dem Ende seiner Schulzeit – er ist nun etwa 16 Jahre alt – zusammen mit seinem Lama wieder auf die Straßen Nordindiens geschickt. Es spinnen sich eine Reihe von Geheimdienst-Abenteuern an, in denen sich Kim natürlich aufs Beste bewährt, aber auch an seine körperlichen Grenzen gerät. Das Buch hat ein offenes Ende, das den Protagonisten nach seiner ersten Bewährungsprobe quasi als Unseren Mann in Ambala in die Welt entlässt.

Kipling erzählt diese Geschichte vor einem breiten Panorama nordindischer Kultur und Landschaft. Hindus, Moslems und Buddhisten treffen aufeinander, Kim und sein Lama geraten bis in die Berglandschaft des Himalaya mit ihren wieder ganz eigenen, lakonischen Bergbauern. Auch sprachlich ist die Erzählung von einer ungewöhnlichen Fülle geprägt; wenn Kipling vielleicht auch nicht so sehr viel von der Politik Indiens verstanden haben mag, wie man dort sprach, wusste er ziemlich genau. Es ist dieser kulturelle Reichtum, der das Buch zu einem Klassiker hat werden lassen. Leider geht in sprachlicher Hinsicht in der Übersetzung notwendig viel verloren, aber Gisbert Haefs ausführlicher Kommentar und sein Nachwort holen einiges davon wieder ein.

Rudyard Kipling: Kim. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Fischer Taschenbuch 90526. Frankfurt/M.: Fischer, 22016. Broschur, 431 Seiten. 10,99 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (104)

Es gibt keinen höheren Zweck der Kunst, als in dem Menschen diejenige Lust zu entzünden, welche sein ganzes Wesen von aller irdischen Qual, von allem niederbeugenden Druck des Alltagslebens wie von unsaubern Schlacken befreit und ihn so erhebt, daß er, sein Haupt stolz und froh emporrichtend, das Göttliche schaut, ja mit ihm in Berührung kommt. – Die Erregung dieser Lust, diese Erhebung zu dem poetischen Standpunkte, auf dem man an die herrlichen Wunder des Rein-Idealen willig glaubt, ja mit ihnen vertraut wird und auch das gemeine Leben mit seinen mannigfaltigen bunten Erscheinungen durch den Glanz der Poesie in allen seinen Tendenzen verklärt und verherrlicht erblickt – das nur allein ist nach meiner Überzeugung der wahre Zweck des Theaters.

E. T. A. Hoffmann
Nachricht von den neuesten Schicksalen
des Hundes Berganza

Jahresrückblick 2017

2017 ist das erste Jahr, für das das bislang bei den Jahresrückblicken eingehaltene Schema der jeweils drei besten und schlechtesten Lektüren nicht passen will. Von daher lasse ich von jetzt an die noch aus news:de.rec.buecher ererbte Form hinter mir. Also:

Dagegen ragen aus der Lektüre positiv zwei Sachbücher und die ersten Lektüren zweier us-amerikanischer Autoren heraus:

  • Mit To Hell And Back beweist Ian Kershaw einmal mehr seine herausragende Qualität als historischer Autor.
  • Nikolaus Wachsmann liefert mit KL einen grausigen Referenztext zum Thema Konzentrationslager. Ein Text, der nicht nur durch die Lektüre erschüttert, sondern auch durch den Gedanken an den Autor, der sich gezwungen hat, dieses Material zu Papier zu bringen.
  • Mit Thomas Wolfes Erstlingsroman Schau heimwärts, Engel habe ich ein beeindruckendes us-amerikanisches Talent kennengelernt, dessen Erzählen zwar offensichtlich ein undiszipliniertes Naturereignis ist, sich zum Ausgleich aber als inhaltsreich und weltsatt erweist.
  • Ebenfalls eine private Neuentdeckung war Sinclair Lewis mit seinem Babbitt. Eine in weiten Teilen gelungene Satire auf das Amerika der 20er Jahre mit Anklängen an den schon damals erkennbaren aufsteigenden Faschismus in der freiesten aller Nationen.

Insgesamt ist mir aufgefallen, dass ich in der Belletristik nur einen einzigen lebenden Autor gelesen habe, dessen Roman aber nur eine weitere Ent­täu­schung darstellte. Von allen anderen sogenannten Romanen dieses Jahres habe ich die Finger gelassen; einzig Marcus Brauns Der letzte Buddha ist meiner Aufmerksamkeit zu lange entgangen; diese Lektüre wird im nächsten Jahr aber sicherlich nachgeholt werden.

Allen Lesern von Bonaventura wünscht der Nachtwächter ein zufriedenes, gesundes und lektürereiches Jahr 2018!

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder (1. Band)

»Schwäne fressen keinen Marzipan«

Die Serapionsbrüder sind Hoffmanns große Sammlung von Erzählungen, die zwischen Februar 1819 und Mai 1821 in vier Bänden erschienen ist. Hoffmann selbst nennt im Vorwort Ludwig Tiecks Fragment gebliebenen Phantasus (3 Bände, 1812–1816) als Vorbild für sein Werk. Zwar verwendet auch Hoffmann wie Tieck einen erzählerischen Rahmen für seine Sammlung, aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch beinahe schon auf. Während sich bei Tieck eine gesellige Versammlung von vier (nur zuhörenden) Damen und sieben vortragenden Herren trifft (das Werk sollte am Ende 7 mal 7 Werke enthalten, also beinahe ein halbes Decamerone), sind es bei Hoffmann nur vier Freunde, die einander nach vielen Jahren wiedersehen und an ihre alte Geselligkeit anknüpfen wollen. Auch Hoffmann lässt die jeweils vorgetragene Erzählung im Anschluss von den vier Freunden kommentieren und kritisieren, verfolgt dabei aber durchaus keine systematische Poetik, wie das bei Tieck durchaus der Fall ist. Die Hoffmannsche Bescheidenheitsgeste im Vorwort gegenüber dem Vorbild ist auch von daher keine bloße Floskel, dass sich der Autor durchaus darüber im Klaren war, dass er literarisch auf einem deutlich populäreren Niveau schrieb als Tieck. Das dürfte mit dazu beigetragen haben, dass Die Serapionsbrüder heute immer noch zum lebendigen Kanon der deutschen Literatur gehören, während Tiecks Phantasus außerhalb eines eher engen Kreises von Fachleuten kaum noch bekannt sein dürfte.

Biographisches Vorbild für den Kreis der vier Serapionsbrüder Theodor, Lothar, Ottmar und Cyprian war der Hoffmannsche Seraphinenorden, der sich bald nach Hoffmanns Rückkehr nach Berlin 1814 gegründet hatte. Hoffmann reduziert in der Fiktion die Anzahl der Teilnehmer und hatte wohl auch keine direkte Zuordnung seiner Figuren zu den Mitgliedern des tatsächlichen Kreises im Sinn, da ja ohnehin alle Erzählungen von ihm selbst stammen.

Jeder der vier Bände liefert die Fiktion zweier literarischer Abende, die die Freunde miteinander verbringen und an denen jeweils drei oder vier Texte vorgetragen und kurz besprochen werden. Dabei müssen die einzelnen Erzählungen einander durchaus nicht immer ergänzen oder sich um ein gemeinsames Thema gruppieren; oft genügt auch der ausdrückliche Gegensatz zum zuvor Vorgetragenen, um die Eingliederung der nächsten Erzählung zu begründen.

Der erste Band präsentiert in seinen beiden Abschnitten die folgenden Erzählungen:

  • Erster Abschnitt
    • [Der Einsiedler Serapion] (Cy)*: Erzählung über einen Verrückten, der sich für den heiligen Einsiedler und Märtyrer Serapion hält (um welchen genau es sich handelt, lässt sich nicht sagen, da Hoffmanns Angaben die Legenden mindestens zweier Märtyrer miteinander verquicken) und in der Nähe einer süddeutschen Kleinstadt im Wald haust, den er für die thebanische Wüste hält. Der Erzähler bildet sich nun autodidaktisch zum Psychologen aus zu dem alleinigen Zweck, Serapion von seinem Wahn zu heilen. Überraschenderweise wird er von ihm aber rasch davon überzeugt, dass er nicht beweisen könne, wessen Realität die wahre, und zudem Serapions Sicht der Welt eine höhere, weil phantastischere sei. Damit ist ein wichtiges Grundthema der Erzählungen Hoffmanns und der Sammlung im besonderen angeschlagen: die Überhöhung der Wirklichkeit durch die Phantasie.
    • [Rat Krespel] (Th): Erzählung von dem musikliebenden und gei­gen­bau­en­den Eigenbrödler Krespel, der mit seiner hübschen, jungen Tochter Antonie zusammen lebt, der er das Singen verbietet. Er nimmt zudem alte Geigen auseinander, um durch die Analyse ihrer Bauformen die Geheimnisse ihres Klangs auszuforschen. Der Erzähler macht nähere Bekanntschaft mit dem Rat und will Antonie zum Singen verführen, um wenigstens einmal ihre in der Stadt legendäre Stimme zu hören. Der Rat weiß das aber zu verhindern und wirft ihn aus dem Haus. Nach drei Jahren kehrt der Erzähler in die Stadt zurück, gerade als Antonie beerdigt wird. Vom trauernden und zugleich ob seiner gewonnenen Befreiung jubilierenden Rat erfährt der Erzähler nun die wahre Geschichte Antoniens, die der Rat mit einer italienischen Sängerin gezeugt, das Mädchen aber erst bei sich aufgenommen habe, als die Mutter auf einer Tournee durch Deutschland verstorben sei. Antonie sei als lungenkrank diagnostiziert worden und zu singen sei tödlich für sie gewesen, weshalb der Rat ihr nur einmal, bei der Ankunft in der Stadt, erlaubt habe zu singen. Nun aber sei er frei und brauche keinen Geigen mehr zu bauen.
    • Die Fermate (Th): Ausgehend von der Betrachtung eines Bildes erzählt Theodor vom Beginn seiner musikalischen Ausbildung. Er sei in einer Kleinstadt aufgewachsen, die ihm nur sehr eingeschränkt Gelegenheit zur musikalischen Erziehung geboten habe. Dann aber seien zwei italienische Sängerinnen in die Stadt gekommen, mit denen er auf und davon ist. Zuerst in die eine, dann in die andere verliebt, erfährt er bald, dass beide ihn nur zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen suchen, und verlässt sie. Das Bild aber zeige den Augenblick ihrer Wiederbegegnung in Italien viele Jahre später.
    • Der Dichter und der Komponist (Th): Dialog in der Manier der Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors über die Oper, genauer  die romantische Oper. Reflektiert werden hier wohl die Erfahrungen und Gedanken, die Hoffmann während der Zusammenarbeit mit Fouqué bei der Arbeit an der Oper Undine gemacht hat.
  • Zweiter Abschnitt
    • Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde (Ot): Drei Freunde, Alexander, Marzell und Severin, treffen sich nach langer Zeit wieder in Berlin: Alexander, um eine Erbschaft anzutreten, Marzell und Severin kommen gerade aus dem Krieg zurück. Die Freunde treffen sich im Tiergarten zum Kaffee und erzählen einander Geistergeschichten, angeregt durch Alexanders nächtliche Geistererscheinung seiner toten Tante, die spukt, um ihre Magentropfen einzunehmen! Marzell berichtet von seiner Begegnung mit einem Verrückten, der in seiner Pension im Zimmer gegenüber wohnt und nachts an seinem Bette gestanden habe. (Marzell wird später mit diesem Verrückten verwechselt werden, was zur irrtümlichen Annahme führt, er sei ins Irrenhaus überführt worden.) Severin kommt nicht zu seiner Geistergeschichte, da sich die drei jungen Männer zugleich in ein junges Mädchen verlieben, das mit seinen Eltern ebenfalls die Gaststätte aufsucht. Die Beschäftigung mit ihrer Verliebtheit treibt die drei Freunde auseinander, und erst zwei Jahre später sehen sie sich wieder: Jeder erzählt nun die Geschichte seiner Vernarrtheit und wie sie scheiterte, bis abschließend Alexander enthüllt, dass er das fragliche Mädchen nicht verfolgt, sondern durch Zufall als Nachbarin seiner verstorbenen Tante wieder getroffen und später geheiratet habe. Thema dieser kunstvoll gebauten Erzählung ist einmal mehr die Überschreibung der Wirklichkeit durch die Einbildungskraft, wodurch die Liebes- und Geistergeschichten motivisch miteinander verknüpft werden.
    • Der Artushof (Cy): Erzählung von dem  jungen Danziger Kaufmann Traugott, der eine Berufung zum Maler in sich spürt. Er gibt seine bürgerliche Karriere immer mehr auf, verliebt sich in die Tochter seines alten, verrückten Meisters, die dieser als Knaben getarnt hat, was Traugott aber erst begreift, nachdem Vater und Tochter angeblich nach Sorrent entflohen sind. Traugott reist nach Italien, vollendet dort seine Ausbildung zum Künstler, verliebt sich erneut, sucht aber doch noch in Sorrent nach der Geliebten, nur um bei seiner Rückkehr nach Danzig zu erfahren, dass Sorrent der Spitzname eines Hauses in einem Vorort von Danzig ist. Seine Geliebte Felicitas ist inzwischen eine verheiratete Frau Kriminalrat mit mehreren Kindern, und Traugott kehrt nach Rom zu seiner weltlichen Geliebten Dorina zurück, die er nun heiraten wird.
    • Die Bergwerke zu Falun (Th): Elis Fröbom, ein Seemann im Dienst der Ostindischen Gesellschaft und gerade nach Göteborg zurückgekehrt, wird durch die Nachricht vom Tod seiner Mutter so erschüttert, dass er dem oberflächlichen Leben eines Seemanns entsagt und ein Leben in der Tiefe sucht, indem er Bergmann zu Falun wird. Dort verliebt er sich in Ulla, die Tochter seines Chefs. Der Rest der Erzählung entspricht im Groben und Ganzen der Bearbeitung von Hebel (1809): Elis fährt am Morgen seines Hochzeitstages noch einmal ein, wird durch einen Bergsturz verschüttet und seine Leiche erst 50 Jahre später fast unversehrt geborgen. Erkannt wird er von seiner Braut, die 50 Jahre lang an jedem Hochzeitstag zur Grube von Falun zurückgekehrt ist und hier ihren Geliebten noch einmal so zu sehen bekommt, wie sie ihn erinnert.
    • Nußknacker und Mausekönig (Lo): Ein hoch literarisches und fein gebautes Weihnachtsmärchen um die Erlebnisse der jungen Marie, die zusammen mit ihren Geschwistern von ihrem Patenonkel am Heiligen Abend einen Nussknacker geschenkt bekommt, der aber bereits an diesem ersten Abend aus dem Leim geht. Hoffmann hängt an diesen Erzählanlass einen Reigen von ineinandergreifenden Träumen und erzählten Märchen an, in denen der Nussknacker als Held einer merkwürdigen Geschichte von der Heilung der Prinzessin Pirlipat vom Fluch der Frau Mauserinks und ihres Sohns, des Mausekönigs agiert. Das ganze ist überaus fein konstruiert, und das Hauptgewicht der Erzählung liegt ganz in der Entwicklung der fantastischen Fabel selbst; nur am Rande kommt wieder das Thema der bürgerlichen Welt vor, die sich dem Reich des Phantastischen verweigert, so dass die Protagonistin Marie sich am Ende gezwungen sieht, über ihre Erlebnisse  den Erwachsenen und sogar ihrem Bruder gegenüber zu schweigen.

Auch in dieser Sammlung finden sich zwei Schaustücke Hoffmannschen Erzählens, die der Autor bewusst ans Ende des Bandes platziert: Die Interpretationen zu den Bergwerken zu Falunsowohl in dieser Fassung als auch in der kurzen Paraphrase des Schubertschen Originals bei Hebel dürften inzwischen jeden vernünftigen Rahmen gesprengt haben; und Nußknacker und Mausekönig ist immer noch eine der beliebtesten Erzählungen Hoffmanns, ganz unabhängig von der im Anschluss an das Märchen diskutierten Frage, ob es sich um einen für Kinder geeigneten Text handele oder nicht. Für die Bergwerke spricht ohne Frage die bruchlose Mischung von (Elementar-)Geister-Erzählung und realistischem Rahmen, der seine vorgebliche Authentizität direkt aus Schuberts Bericht und den 1819 bereits vorliegenden Bearbeitungen (Adam Müller/Kleist; Hebel) bezieht. Ähnlich wie im Falle des Sandmanns überbaut Hoffmann das an sich schon merkwürdige Geschehen mit weiteren Ebenen, die es ins Bedeutend-Allgemeine heben: Der Gegensatz von Oberfläche (Seefahrt) und Tiefe (Bergbau), der Tod der Mutter, der den Protagonisten sozusagen in die Tiefe treibt, der Geist des alten Torbern, der Elis anwirbt und magisch an die Grube bindet, und nicht zuletzt die Liebe Elis’ zu Ulla und zugleich zur elementargeistigen Bergkönigin bieten unzähligen Variationen und Kombinationen von Deutungen Nahrung. Auch dies ist einer der Fälle des von Tucholsky markierten Zusammenhangs zwischen Literatur und Suppekochen.

Wird fortgesetzt …

E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Sämtliche Werke 4. Hg. v. Wulf Segebrecht. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 2001. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1679 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.


* – Titel in eckigen Klammern tauchen nicht im Original auf; die Kürzel in Klammern hinter den Titeln zeigen an, welcher der Serapionsbrüder die Erzählung vorträgt.

Allen Lesern ins Stammbuch (103)

Der Goetheaufsatz war schwer! Uff! Darlegen u. auseinanderfalten ist ja nicht meine Stärke, der ich mehr für Ausdruck u. Stoffvernichtung bin. 20 werden ihn zu Ende lesen, davon 10 sagen: dilettantisch, weil ich kein Privatdozent bin, 8: langweilig, weil es keine Verse sind. Die restlichen 2 sagen: ganz nett, aber ich hätte es besser gekonnt.

Gottfried Benn
an Ewald Wasmuth, 17.12.1931

 

William Shakespeare: König Heinrich VIII.

König Heinrich VIII. gehört zu den derzeit unbeliebteren Stücken Shakespeares, während es noch Anfang des 20. Jahrhunderts mit großem Pomp und Erfolg inszeniert worden ist. Im Kern behandelt es eine vergleichsweise kurze Phase im Leben Heinrichs VIII. zwischen seiner ersten Bekanntschaft mit Anne Boleyn und der Taufe ihrer gemeinsamen Tochter Elizabeth. Das Stück endet mit einer Apotheose der jungen Elizabeth, wahr­schein­lich zu dem Zweck, um damit zugleich Elizabeth Stuart zu feiern, die 1613, im Jahr der Erstaufführung, Friedrich V. von der Pfalz, den späteren böhmischen Winterkönig geheiratet hat.

Das Stück weist eher wenig Dramatik auf, insbesondere was seine Titelfigur angeht: Heinrich VIII. erscheint fast als eine Figur des Hintergrundes, während sich im Vordergrund eine Reihe politischer Tragödien abspielt: Der Herzog von Buckingham fällt einer Intrige des Kardinals Wolsey zum Opfer, der damit einen seiner politischen Gegner beseitigt. Königin Katharina durchleidet die Scheidung von ihrem untreuen Ehemann; der Kardinal wird anschließend selbst Opfer einer Intrige oder eigenen Ungeschicks, und sein Nachfolger Thomas Cramner entgeht nur knapp der nächsten Intrige, weil der König ihn als seinen treuen Freund anerkennt und schützt. Es folgen Geburt und Taufe der späteren Königin Elizabeth, und bei der Taufe eben jene Feier der goldenen Zukunft, die Elizabeth dem englischen Volk bereiten werde.

Wenn man unbedingt einen kritischen Gehalt des Stückes suchen will, so findet man ihn in der durchgehenden Thematisierung des Problems der Wahrheit in der politischen Welt. Wahr ist, was so erscheint, und oft muss eben dieser Schein genügen. Darauf weist auch schon platterdings der Titel hin, unter dem das Stück erstmals gespielt wurde: Alles ist wahr. Übersetzer Frank Günther weist darauf hin, dass dieser Titel selbst zweideutig ist, denn er könne neben dem Anpreisen der historischen Verlässlichkeit des Stückes auch bedeuten, dass eben alles und jedes als wahr erscheinen kann, wenn es nur richtig in Szene gesetzt wird. In diesem Sinne wäre dann auch die das Stück beschließende Apotheose Elizabeths cum grano salis zu lesen.

Das Stück ist in seiner Anlage insgesamt eher opernhaft und muss mit großem Pomp inszeniert werden, um seine Wirkung zu entfalten. Es enthält zahlreiche dafür geeignete Szenen, die in den Regieanweisungen mit außergewöhnlicher Aus­führ­lich­keit geschildert werden. Offensichtlich passt ein solch eher oberflächliches Spektakel nicht gut in das rezente Bild von Shakespeare als Dramatiker. Hinzukommt, dass es eines jener Stücke ist, bei dem man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts annimmt, dass Sha­kes­pea­re nur als Co-Autor tätig gewesen ist (so weit wir wissen, damals wie heute eher der Normalfall); der andere Autor soll John Fletcher ge­we­sen sein, der Shakespeare als festen Autor der King’s Men abgelöst hat. Hand­fes­te Be­le­ge für Fletchers Beteiligung am Stück gibt es nicht, nur stilistische Hinweise für die Tätigkeit eines zweiten Autors neben Sha­kes­pea­re.

Wer nicht allzu viel vom Stück erwartet, kann hier ein Stück dramatischer Panegyrik genießen, wie sie zu dieser Zeit durchaus üblich war. Solche Festdramen schlossen sich nahtlos an Inszenierungen königlicher Herrschaft wie Feste, Umzüge, Ankunftsfeiern und ähnliches an. Sie waren als Spektakel beim Volk höchst beliebt und lieferten das, was heute Fern­se­hen, das Goldene Blatt, die Frankfurter Allgemeine und vergleichbare Medien leisten. Dass auch Shakespeare, als Star der Unterhaltungsindustrie seiner Zeit, an solchen Inszenierungen beteiligt war, ist kaum ver­wun­der­lich. Klappern, so heißt es, gehört zum Handwerk.

William Shakespeare: König Heinrich VIII. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 32. Cadolzburg: ars vivendi, 2015. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 320 Seiten. 33,– €.