Aus dem Zugang (1)

Sinclair Lewis wurde 1930 als erstem US-Amerikaner der Nobelpreis für Literatur verliehen. Besondere Erwähnung fanden in der Laudatio unter anderen sein Roman Main Street (1920) und sein Bestseller Babbitt (1922), der gerade bei Manesse in einer neuen Übersetzung von Bernhard Robben vorgelegt wurde. Nun war Sinclair Lewis schon lange ein Desiderat meiner Lesegeschichte, so dass ich die Gelegenheit genutzt habe, und ich wurde nicht enttäuscht: Babbitt ist eine witzige Satire auf den us-amerikanischen Mittelstand der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und ohne Zweifel eines der wichtigen literarischen Vorbilder für die Bascombe-Romane Richard Fords, der allerdings nicht einmal halb so viel wagt wie Sinclair.

Da der Übersetzer im Nachwort anmerkt, er habe den Text sprachlich auf das Deutsche des 21. Jahrhunderts heruntergebrochen (die von Robben verwendete Redeweise vom „möglichst zeitlos […] halten“ der Sprache ist natürlich kompletter Unfug), habe ich mir aus den USA antiquarisch einen Band der Library of America bestellt, um den Grad des Gefälles beurteilen zu können. Der Band war mit 9 € verdächtig billig und erwies sich bei seiner Ankunft als ein Bibliotheksexemplar.

Wie man dem (von mir von einer weiteren Kunststoff-Schicht befreiten) Umschlag des Buches bereits ansieht, hat der Band einiges mitgemacht. Er entstammt – so kann man einem Exlibris auf dem vorderen Vorsatz entnehmen – einer 60 Bände der Library of America umfassenden Schenkung der Andrew W. Mellon Foundation sowie des GFWC Senior Woman’s Club of Muhlenberg (Vorsicht: Link zu Facebook!) an die Muhlenberg Community Library. Die Schenkung muss Ende 1993 oder Anfang 1994 geschehen sein, da das Buch im Mai 1994 in den Bestand der Bibliothek eingearbeitet worden ist, wie es die Ausleihkarte heute noch dokumentiert:

Was diese Karte eben leider auch dokumentiert, ist, dass sich in Muhlenberg (das heute ironischerweise ein Stadtteil von Reading, Pa. ist!) niemand, aber auch gleich gar niemand für die beiden Romane Sinclair Lewis’ interessiert hat. Und so hat sich – leider lässt der Band keinen Schluss darauf zu, wann dies geschehen ist – eine Bibliothekarin in Muhlenberg wahrscheinlich schweren Herzens entschlossen, Platz im Regal zu schaffen und das Geschenk an einen Antiquar zu verkaufen. Ob es direkt oder wie es sonst bei einem Internethändler in Dallas gelandet ist, der es mir dann für 10,60 $ nach Deutschland geschickt hat, ist ebenfalls nicht zu eruieren, jedenfalls nicht von hier aus. Ich will es nun hüten und pflegen, solange ich kann.

Mehr über Babbitt und Sinclair Lewis in Bälde auf dieser Seite.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien

obs/Egmont Ehapa Media GmbH„Naja, so lala“, hätte mein Vater gesagt. Der neue Asterix gehört zu den akzeptablen Stücken; dass er derzeit über den grünen Klee gelobt wird, liegt wohl daran, dass sich die Rezensenten nicht mehr an die wirklich guten Asterix-Abenteuer erinnern können.

Die Fabel ist ebenso dünn wie rasch erzählt: Ein korrupter römischer Politiker, der für den Straßenbau in Italien zuständig ist, erfindet ein internationales Auto Wagenrennen, um vom schlechten Zustand der Straßen abzulenken. Wie das funktionieren soll, bleibt unklar. Cäsar besteht darauf, dass ein römischer Wagen gewinnen muss, koste es, was es wolle. In Obelix erwacht durch eine Reihe schicksalhafter Zufälle der Wille, Wagenlenker zu werden. Die Gallier fahren beim Rennen durch Italien mit. Wer gewinnt, verrate ich nicht!

Insgesamt ist der Band ein zweiter Aufguss aus Tour de France mit dem Internationalismus aus Obelix auf Kreuzfahrt aufgekocht und mit einigen übrig gebliebenen Tourismus-Witzen aus Asterix in Spanien abgeschmeckt. Was den Lesern auffallen darf, ist, dass es sich bei Italien wie bei allen europäischen Staaten um einen Vielvölkerstaat handelt, dessen einzelne Völker ihre nationale Eigenständigkeit zwar aufgegeben, ihre Identität aber nicht vergessen haben. Sollte das ankommen, wäre es einen mittelmäßigen Asterix wert. „Wir heißen Euch hoffen“.

Jean-Yves Ferri / Didier Conrad: Asterix in Italien. Asterix Bd. 37. Berlin: Egmont Ehapa, 2017. Bedruckter Pappband, 47 Seiten (28,8 × 22,4 cm). 12,– €.

 

Allen Lesern ins Stammbuch (101)

Im Bücherschrank standen die Klassiker. Schiller, Göthe, Wieland, Shakespeare. Die kannte ich ja längst, und sie hatten mir doch nicht geholfen. Ach Gott, ich hatte die Klassiker gelesen, wie früher die Räuberromane, eilfertig, eilfertig, nur das Stoffliche verschlingend.

Im Bücherschrank, in alten, ehrwürdigen Einbänden, standen auch Herder und Lessing. Mit Herder war nichts anzufangen. Schon nach den ersten Seiten schweiften meine Gedanken abseits; für den war ich wohl noch nicht reif. Also Lessing, aber nicht etwa Emilia Galotti oder Minna Barnhelm, nein, etwas Lehrreiches. Der Laokoon, der sollte ja sehr tief und sehr bildend sein. Ich las ihn mit concentrirter Aufmerksamkeit, Satz für Satz, ich machte mir Auszüge. Meine Mutter kam einmal dazu. Ich hätte mich nicht sonderlich gegrämt, wenn sie, wie vor Jahren die Veronika, diesmal den Laokoon conficirt hätte. Ich wagte nicht mir zu gestehen, daß ich ihn langweilig fand. Von Kunst hatte ich nicht den leisesten Schimmer. Ich war noch nicht einmal im Museum gewesen.

Hedwig Dohm:
Schicksale einer Seele

Sprache in Bildern

Ein Ge- oder Verschenkbuch ist eines, dass man für sich selbst nicht kaufen würde, bei dem man sich im besten Fall aber freuen würde, wenn man es geschenkt bekäme. Im schlechteren Fall schenkt man es einer/m, weil man sonst nicht weiß, was man ihr/m schenken soll. Es gibt einfach Menschen, die haben schon alle anderen Bücher – also, falls sie überhaupt welche haben. Aber lassen wir die Abgründe der Geschenke-Dialektik rasch hinter uns und wenden uns dem vorliegenden Fall eines typischen Geschenkbuchs zu:

Der Dudenverlag (einer der wenigen deutschen Verlage, der zwischen seinem Namen und seiner Branche lobenswerter Weise kein Leerzeichen pflegt) legt ein Büchlein mit 50 sogenannten Infografiken rund um die Sprache vor. Die meisten dieser angeblichen Grafiken umfassen eine Doppelseite, so dass man ein ganz nettes Büchlein für die 10 geforderten Euro erhält: Es ist nicht zu groß, lässt sich gut einpacken, der bil­der­buch­di­cke Pappeinband trägt zusätzlich zum soliden Eindruck bei. Zum Durch­blät­tern ist der Band ganz nett, nur genauer hinschauen, geschweige denn zugleich dabei denken sollte der Betrachter nicht. Oder doch?

Es fängt damit an, dass – wie oben schon angedeutet – zahlreiche der Grafiken nur mit Müh und Not als solche anzusprechen sind. Die meisten Seiten präsentieren mehr oder weniger einleuchtend ummalte Wortlisten (es ist ja bei einem Buch über Sprache auch nur wenig anderes zu erwarten), nur in einzelnen Fällen trägt der grafische Anteil eine zusätzliche Information. So erfahren wir etwa in Grafik 28 den längsten und die kürzesten Ortsnamen in Europa und in Deutschland, und zusätzlich informieren uns Grafiken wo Oy bzw. Llan­fair­pwllg­wyn­gyll­go­ge­rych­wyrn­drobwll­llan­ty­si­lio­go­go­goch ungefähr liegen. Auf anderen Seiten (74/75, Grafik 34) hat der Grafiker schlicht vor der Aufgabe kapituliert und aus der Wörterliste eine Wörterliste gemacht; eine Tabelle ist ja schließlich auch eine Art von Grafik, irgendwie, oder?

Schauen wir uns ein paar Grafiken inhaltlich an: Grafik 33 präsentiert sogenannte Wortwolken; in der Mitte steht ein Bezugswort und außen herum angeblich Wörter, die mit dem Bezugswort „typische Verbindungen“ eingehen, wobei die Größe, in der diese Wörter dargestellt sind, Auskunft darüber geben soll, wie typisch die Verbindung ist. Nun erscheint mir das Messen eines Grads von – ja was? Typischsein? eher schwierig, weshalb ich eher einen Grad der Häufigkeit der Verbindung erwartet hätte. Das kann aber nicht dargestellt sein, denn eine Verbindung wie „Sinn machen“, die extrem häufig verwendet wird, bewertet die Grafik als sehr untypisch, während eine Verbindung von „blau“ und „Maus“ – da wage ich nicht einmal das sprachliche Normal zu bilden [„Maus, Du bist ja schon wieder blau“?] – sehr typisch sein muss, wenn es nach der Grafik 33 geht. Aber nicht nur ich scheine hier meine Zweifel zu haben, denn die Redaktion warnt Betrachter dieser Grafik: „Die Daten, die den Wolken zugrunde liegen, sind maschinell erzeugt [„Wenn man Tomatensaft ganz maschinell erzeugt, dann wird es Automatensaft“, heißt es bei Georg Kreisler] und nicht das Ergebnis redaktioneller Arbeit. Das bedeutet [ist es nicht nett, dass die Redaktion meint, erläutern zu müssen, was es bedeutet, dass etwas nicht das Ergebnis redaktioneller Arbeit ist; eher würde man erwarten, dass sie erklärt, was denn überhaupt redaktionelle Arbeit ist]: Sie stellen keine Handlungsempfehlung oder Wertung dar.“ Ergo ist das Ergebnis redaktioneller Arbeit normalerweise eine Hand­lungs­em­pfeh­lung oder Wertung? Na, lassen wir es auf sich beruhen.

Wenden wir uns stattdessen Grafik 4 zu: „Das moderne lateinische Alphabet besteht bekanntlich 26 Buchstaben.“ So geht es zu, nachdem man erst einmal das Wort ,bekanntlich‘ zur Sprache zugelassen hat: ä, ö und ü sind keine eigenen Buchstaben, sondern a, o und u mit einem Trema [„Nein, das kommt in dem Fall nicht vom Trinken, Maus!“] bzw. Umlautpunkten, die vom Trema aber nicht einmal mikroskopisch zu unterscheiden sind; und das arme ß besteht nun gleich aus zwei Buchstaben, die für immer ligiert [sic!] wurden, wird also auch nicht als wirklicher Buchstabe gezählt, auch wenn es inzwischen einen großen Bruder bekommen hat [Patchwork-Family]. Es bleibt also dabei: 26 Buchstaben. Folgt eine Grafik, die deutlich macht, dass zahlreiche Sprachen in ihrer Schreibung auf die Verwendung einiger dieser Zeichen verzichten (Hawaiisch verwendet zum Beispiel nur 12 lateinischen Buchstaben und kommt auch so sehr gut zurecht), während andere, nicht-lateinische Alphabete oft deutlich mehr als 26 Zeichen verwenden, so etwa „das japanische Alphabet“ mit angeblich 46 Zeichen. Abgebildet sind dann 46 Zeichen Katakana, was den Fall hinreichend und schlüssig beweist. Schade nur, dass es eben gar kein „japanisches Alphabet“ gibt, denn erstens vertreten die Zeichen nur im Fall der Vokale einen einzelnen Laut in unserem Sinne, während alle anderen Zeichen eine Zu­sam­men­set­zung aus Konsonant und Vokal repräsentieren (nur das ン steht für einen Nasal am Silbenende), zweitens gibt es mit Katakana und Hiragana mindestens zwei originär japanische Aufschreibsysteme, drittens steht die Zahl 46 für eine recht restriktive Zählung der im Gebrauch befindlichen Kana (eigentlich gibt es mindestens 51 unterschiedliche Zeichen, die zudem auch noch abgewandelt werden können [vgl. oben das Um­laut­schick­sal!]) und viertens sollte man sicherlich auch über Kanjis reden, wenn man schon über japanische Schriftzeichen spricht. Aber 46 Buchstaben im japanischen Alphabet geht natürlich auch. Ist zwar falsch, prägt sich aber gut ein, wie einer meiner Professoren in Tübingen seine Falschinformationen zu rechtfertigen pflegte.

Ich höre jetzt auf. Wie man leicht sieht, bietet das Büchlein einem besserwisserisch veranlagten Menschen tage-, vielleicht auch wochenlang  Spaß und Gelegenheit, seinen Mitgeschöpfen auf die Nerven zu gehen. Andererseits ist er, hat er den ersten Fehler entdeckt, so sehr mit der Prüfung der anderen Grafiken beschäftigt, dass man auch stundenlang Ruhe vor ihm hat. Ob dies alles die verlangten 10 Euro wert ist, muss natürlich jede/er für sich selbst beurteilen. Ich jedenfalls werde mein Rezensionsexemplar sogleich verschenken. An jemanden, der allem Gedruckten blind vertraut: „Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“

Sprache in Bildern. Zahlen, Fakten & Kurioses aus der Welt der Wörter. Berlin: Bibliographisches Institut, 2017. Bedruckter Pappband, 111 Seiten. 10,– €.

Schweres Sprach

Im Deutschen gibt es zum Teil doch sehr feine Unterschiede, die auch Muttersprachlern nicht immer unbedingt geläufig sind, besonders wenn die entsprechenden Wendungen ungebräuchlich oder alterthümlich sind.

Da schlage ich also den gerade erhaltenen Band Jack Engles Leben und Abenteuer von Walt Whitman (Büchergilde Gutenberg, 2017) auf und lese:

Nach griech. Mythos war Telemachos noch ein Kind, als sein Vater Odysseus in den Trojanischen Krieg zog. Zum jungen Mann herangewachsen, verließ er seine Mutter Penelope, machte sich auf die Suche nach seinem Erzeuger und traf ihn bei der Heimkehr in Gestalt eines Bettlers an. Nachdem Odysseus sich ihm zu erkennen gegeben hatte, rächten Vater und Sohn gemeinsam die Freier, die die vermeintlich Witwe Penelope bedrängt und belagert hatten. (S. 165)

Nun sind im Deutschen „jemanden rächen“ und „sich an jemandem rächen“ zwei sehr unterschiedliche Dinge; während dies bedeutet, an dem Verantwortlichen eines Unrechts Rache zu nehmen, also den „jemand“ zu strafen für etwas, was er getan oder zu verantworten hat, bedeutet jenes, einem Opfer Genugtuung zu verschaffen, indem man einen Dritten straft oder zur Verantwortung zieht, also „jemandem“ für ein erlittenes Unrecht einen Ausgleich zu schaffen.

Odysseus und Telemach werden mithin „sich an den Freiern“ und nicht „die Freier“ gerächt bzw. werden sie Penelope gerächt haben.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Die schiere Existenz dieser Idee war ein unwiderlegbarer Beweis, dass sie den Tatsachen entsprach.

Frankensteins Monster, das so häufig direkt mit dem Namen seines Schöpfers identifiziert wird, ist eine der Ikonen des Schauders der wissenschaftlichen Laien angesichts der Errungenschaften der modernen Wissenschaft. Sein Schöpfer, Victor Frankenstein (kein „Baron“, kein „von“, kein „Dr.“!), steht stellvertretend für die Hybris der modernen Wissenschaft, die sich von ihren eigenen Schöpfungen verfolgt sieht, nachdem sie sie in die Welt entlassen hat. Natürlich ist das alles nur in den Köpfen der wissenschaftlichen Laien und der Naiven, Idealisten und Gutmenschen so, während die Wissenschaftler ihre objektive Distanz bewahren und die Dinge auch weiterhin so sehen, wie sie wirklich sind.

Nachdem wir auf diese Weise sowohl die metaphysisch als auch die wissenschaftstheoretisch relevanten Zugriffe auf den Stoff erledigt haben, wenden wir uns dem Buch zu: Manesse legt in einer überarbeiteten Übersetzung die Urfassung von Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein aus dem Jahr 1818 vor. Die Unterschiede zur späteren Überarbeitung von 1831 sind nicht besonders gewichtig, nehmen dem Buch aber die eine oder andere autobiographische, satirische oder kritische Spitze. Dem Interessierten werden die wichtigsten Differenzen zwischen den beiden Versionen in den Anmerkungen zum Text ausreichend erläutert.

Mary Shelley selbst betont in ihrem Vorwort, dass der Roman aus einer Laune heraus entstanden ist: Sie verbrachte zusammen mit ihrem Mann, Lord Byron und Dr. Polidori einige regnerische Tage in der Gegend um Genf. Zur Unterhaltung las man gemeinsam eine Sammlung deutscher Schauergeschichten, die ins Französische übersetzt worden war. Man unterhielt sich mit den und über die Erzählungen und beschloss, jede und jeder einen Beitrag zum Genre zu liefern. Ganz und gar abgeschlossen wurde wohl nur der Roman von Mary Shelley, der spielerisch und um der schauerlichen Wirkung willen einige Themen der zeitgenössischen Wissenschaft aufnimmt und zur Gothic Novel umdichtet.

Der Roman beginnt mit einer Rahmenerzählung um den englischen Abenteurer Robert Walton, der sich auf einer Expedition zum Nordpol befindet, als er eines Tages den abgemagerten und kranken Victor Frankenstein von einer Eisscholle aufliest. Nach einigem Zögern erzählt Frankenstein seinem Retter seine Lebensgeschichte, die dieser aufzeichnet und seiner Schwester in England zusendet. Im Zentrum dieser ersten Binnenerzählung steht, wie schon angedeutet, ein übergeschnappter Wissenschaftler, der aus der Hybris seiner jugendlichen Genialität heraus den Entschluss fasst, das Unmögliche möglich zu machen und Leben aus leblosem Stoff zu erschaffen. Angesichts der damit verbundenen Schwierigkeiten der mikroskopischen Chirurgie fällt sein erstes und einziges Musterstück etwas grob aus, so dass selbst sein Schöpfer sich der spontanen Bezeichnung Monster nicht enthalten kann. Das namenlose Monster entflieht, nachdem es einmal zum Leben erwacht ist, dem Labor seines Schöpfers, der sich angesichts des eigenen Grauens vor seiner Kreatur ins Bett zurückgezogen hat. Als er wieder erwacht und das Monster entflohen findet, versucht er zur Tagesordnung überzugehen.

Von seiner um ihn besorgten Familie ins heimatliche Genf zurückgerufen, findet er bei seiner Rückkehr seinen jüngsten Bruder William ermordet und ein Hausmädchen der Familie des Verbrechens angeklagt. Da er aber in der Nacht seiner Ankunft das Monster in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben glaubt, steht für ihn fest, dass er sich selbst die Schuld am Tod seines Bruders und der Verurteilung und Hinrichtung des unschuldig verdächtigten Mädchens zuschreiben muss. Um der Depression, die sich aus diesem Schuldgefühl ergibt, gegenzusteuern, unternimmt die Familie Frankenstein einen Ausflug nach Chamonix. Dort wird Victor bei einer Gletscherwanderung von seiner Kreatur gestellt, die ihm in einer weiteren ausführlichen und seitenschindenden Binnenerzählung ihr Leben nach der Flucht aus dem Laboratorium erzählt. Nach einigem Umherirren wird er zum versteckten Beobachter einer Familie, deren Schicksale nun in einer dritten Binnenerzählung eingeholt werden, die aber gänzlich unerheblich für den Roman ist und nur als eine schlecht erfundene Ausrede dafür herhalten muss, wie das Monster zu seiner intellektuellen und ethischen Erziehung kommt, die es nun befähigt, seinem Schöpfer mit einer Forderung entgegenzutreten: Er will eine Gefährtin erschaffen haben, ein Objekt und Subjekt der Liebe, die er in sich fühlt, aber nicht leben kann, da alle Menschen nur mit Entsetzen auf seine Erscheinung reagieren.

Bedroht von seiner Kreatur, die er zugleich bemitleidet, und beeinflusst von seiner Sorge um seine Familie, die das Monster mit Mord und Totschlag bedroht, stimmt Frankenstein zu, dem Monster eine solche Gefährtin an die Seite zu stellen. Er reist zu diesem Zweck mit seinem Jugendfreund Henry Clerval zuerst nach London und von dort weiter nach Schottland. Dort zieht er sich auf eine der Orkneyinseln zurück, um die zweite Kreatur zu erschaffen. Doch dann besinnt er sich eines anderen gerade in dem Moment, als ihn das Monster auf der Insel aufsucht. Frankenstein verweigert sich nun der Forderung seiner Kreatur, die ihm daraufhin droht, ihn in seiner Hochzeitsnacht wieder aufzusuchen. Das Monster flieht, ermordet unterwegs noch rasch Henry Clerval, ein Mord, der diesmal Victor Frankenstein zur Last gelegt wird, der aber auf wundersame und gänzlich unglaubhafte Weise von dem Verdacht rein gewaschen wird. Es lohnt nicht, die Geschichte noch weiter nachzuerzählen; es endet jedenfalls damit, dass Frankenstein sich selbst zur Jagd auf seine Kreatur verpflichtet und auf diesem Wege im Nordmeer endet, wo er von Robert Walton aufgelesen wird, der seine Lebensgeschichte aufzeichnet und wohl auch für ihre Publikation nach dem Tod des Monsterschöpfers Sorge getragen haben wird.

Sieht man von seiner ungeheuerlichen Berühmtheit und Ungelesenheit ab, so muss der Roman wohl leider als ziemlich miserabel bezeichnet werden. Nahezu alle seine Aspekte sind schlecht konstruiert und unglaubwürdig, an viel zu vielen Stellen merkt man, dass sich die Autorin nur etwas zusammenreimt, ohne auch nur eine geringe Ahnung davon zu haben, wie das, was sie beschreibt, ins Werk gesetzt werden oder auch schlicht nur geschehen sollte. Je tiefer die Binnenerzählungen geschachtelt sind, desto einfältiger und schematischer werden sie. Die Gespräche zwischen der Kreatur und ihrem Schöpfer sind so voller Plattitüden, dass es nur als unfreiwillige Ironie aufgefasst werden kann, dass gerade sie von Victor Frankenstein selbst „korrigiert und verbessert“ worden sein sollen, „hauptsächlich um die Gespräche zwischen ihm und seinem Widersacher lebhafter und geistreicher zu gestalten“. Und was soll man zu einem Buch sagen, das ernsthaft Sätze wie die folgenden enthält:

Landwirte führen ein über aus gesundes Leben, und es ist der am wenigsten schädliche oder eher der zuträglichste aller Berufe.

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass noch nicht alles überstanden war und dass es abermals ein abnormes Verbrechen verüben würde, dessen Ungeheuerlichkeit die Erinnerungen an das vorherige womöglich gar in den Schatten stellte.

Ach! Victor, wenn Lüge der Wahrheit doch so ähnlich ist, wer kann sich dann noch seines Glücks sicher sein? Mir ist, als ginge ich am Rand eines Abgrunds entlang, an dem sich Tausende versammeln und mich in die Tiefe zu stoßen versuchen.

Auch ich begriff zum ersten Mal, welche Pflichten ein Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hat und dass ich für sein Glück sorgen sollte, bevor ich seine Bosheit beklagte.

Verzagen sie nicht. Keine Freunde zu haben ist wirklich ein großes Unglück. Doch die Herzen der Menschen sind voll brüderlicher Liebe und Güte, wenn sie nicht gerade wegen ihrer eigenen naheliegenden Interessen Vorurteile hegen.

Solche Lebensweisheiten und -einsichten sind leider omnipräsent im gesamten Text. Und das hat sich auch mit der späteren Fassung nicht geändert.

Wer das Genre schätzt, findet hier natürlich einen der ganz großen Klassiker, der die Quelle noch zahlloser Romane des 19. und 20. Jahrhunderts werden sollte. Wer das Genre historisch liest, nimmt das Buch achselzuckend zur Kenntnis als ein Beispiel für einen schwachen Text einer mäßig begabten Autorin, die aufgrund der Tatsache, dass sie zufällig und mehr schlecht als recht eine der mythologischen Unterströmungen unserer Kultur getroffen hat, einen Bestseller und Klassiker landen konnte. Manchmal hilft die Nutzung einer Wünschelrute eben doch.

Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Urfassung von 1818. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. München: Manesse, 2017. Geprägter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 464 Seiten. 22,– €.

E. T. A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theater-Direktors

Geschmack! Das ist nur eine fabelhafte Idee – ein Gespenst, von dem alle sprechen und das niemand gesehen hat.

Die Ausgabe, in der ich derzeit Hoffmanns Sämtliche Werke zu lesen in der Lage wäre, so ich denn wollte, rühmt sich zu Recht die vollständigste jemals erschienene zu sein. Das liegt unter anderem daran, dass sie neben den hier besprochenen Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors (1819) eine frühere und deutlich kürzere Fassung des Textes mit abdruckt, die 1817 im Berliner Dramaturgischen Wochenblatt unter dem Titel Die Kunstverwandten über mehrere Lieferungen hin erschienen war. Der Herausgeber der hier vorliegenden Sämtlichen Werke weist – ebenso zu Recht – darauf hin, dass es sich hier um den von Hoffmann am meisten überarbeiteten und erweiterten Text handelt. Für den Nichtfachmann und den, der nicht Fachmann werden möchte, beweist jene frühere, kürzere Fassung in der Hauptsache eines, nämlich dass die spätere, längere Fassung an einigen Stellen doch unmäßig lang geraten ist, was man aber vielleicht auch ohne den direkten Vergleich hätte herausfühlen können. Aber für den Germanisten taugt alles Fühlen nichts, wenn er etwas geradewegs durch Nachzählen beweisen kann!

Die Seltsamen Leiden eines Theater-Direktors nehmen eine Form auf, die sich bereits in den Fantasiestücken in der Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza gefunden hat: der unmittelbare Dialog als Stellvertreter für die fortlaufende Erzählung. Schon in der Nachricht war es in einigen Passagen um das zeitgenössische Theater gegangen, und Hoffmann nimmt diesen Punkt nicht nur formal, sondern auch inhaltlich wieder auf, in dem er in den Seltsamen Leiden gleich zu Anfang von einer Oper die Rede sein lässt, deren Protagonist, der Löwe Gusmann, von einem wohlabgerichteten Hund gespielt werden soll: „Himmel! – wieder ein Hund! – wieder ein Hund!“

In diesem Fall aber unterhalten sich zwei Theaterdirektoren miteinander, die zufällig im Frühstücksraum eines Gasthauses aufeinander treffen. Der Graue ist Direktor der offenbar nicht kleinen Städtischen Bühne, der Braune dagegen Direktor einer reisenden Truppe. Während der Graue ein an dem eigenen, durch Jahre der Erfahrung gestählten Pragmatismus verzweifelnder Macher („Wir machen mal was zusammen!“) ist, erweist sich der Braune dagegen als ein durch keine Beschränkungen eingeschüchterter Idealist, der Autoren, Schauspielern, Intendanz, Publikum und Kritik nur das Beste abverlangt und in seinen Ergüssen immer aufs Neue beweist, dass das Beste nicht nur besonders gut, sondern auch besonders förderlich und nützlich ist („Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci / lectorem delectando pariterque monendo“).

Wie schon gesagt, ist das eine oder andere für den heutigen (wahrscheinlich aber auch für den zeitgenössischen) Leser etwas langatmig geraten. Dafür entschädigen aber alle naselang Theateranekdoten, die man nicht verpassen möchte, weswegen man sich nicht wirklich traut, vom Quer- zum Kreuz-und-quer-lesen überzugehen. Überhaupt hat der Text ein Ende, nachdem sich auch bessere Schriftsteller als Hoffmann (und so sehr viele gibt es da nicht) die Finger geleckt haben würden: Nicht nur wird ein Märchen von Gozzi nacherzählt, das es in sich hat und jeder romantischen Bühne zur Ehre gereicht hätte, sondern die letzten Zeilen warten mit einer Pointe auf, die einen beinahe den Text noch einmal lesen ließe, wenn er nur ein wenig kürzer wäre. Aber das erwähnte ich wohl schon.

Eine durchaus vergnügliche Lektüre, besonders auch für jene, die noch dem Theaterbetrieb, ob innerlich, ob äußerlich, folgen, aber auch für die anderen, denen die romantische Kunstauffassung nahegeblieben oder nahegekommen ist. Und dort, wo sie ungeduldig werden, mögen sie sich sagen: „Geduld! Geduld!“

E. T. A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theater-Direktors. Aus mündlicher Tradition mitgeteilt vom Verfasser der Fanatsiestücke in Callots Manier. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

E. T. A Hoffmann: Nachtstücke

Der Gärtner sagt dir, daß dies Wäldchen, wie man es von der Höhe des Hauses hinabschauend, deutlich wahrnehmen kann, die Form eines Herzens hat. Mitten darin ist ein Pavillon von dunklem schlesischen Marmor in der Form eines Herzens erbaut. Du trittst hinein, der Boden ist mit weißen Marmorplatten ausgelegt, in der Mitte erblickst du ein Herz in gewöhnlicher Größe. Es ist ein dunkelroter in den weißen Marmor eingefugter Stein. Du bückst dich herab, und entdeckest die in den Stein eingegrabenen Worte: Es ruht!

Die Nachtstücke (1816/1817) sind Hoffmanns Versuch, an die ungewöhnlich erfolgreichen Fan­ta­sie­stü­cke (1814) anzuschließen. Als große Oberthemen der acht Er­zäh­lun­gen (in zwei Bänden) lassen sich Wahn und Ver­bre­chen ausmachen, worauf der Titel offensichtlich anspielt. Das bekannteste der Nachtstücke ist zweifellos und zu Recht Der Sandmann, das zumindest zu meinen Zeiten als Student an kaum einem Germanisten vorübergegangen sein dürfte. Alle anderen Erzählungen der Sammlung fallen deutlich gegen dieses Zauberstück ab, wie überhaupt das erzählerische Niveau von Stück zu Stück sehr unterschiedlich ist.

Der Sandmann ist die Erzählung um den jungen Nathanael, der seine Heimatstadt zum Studium verlassen hat, dort aber immer noch Kontakt pflegt zu seinem Freund Lothar und dessen Schwester Clara, mit der er verlobt ist. Die Erzählung beginnt mit einem bewegenden Brief, in dem sich Nathanael der Umstände erinnert, unter denen sein Vater zu Tode gekommen ist: Bei alchemistischen Experimenten, die er zusammen mit der unheimlichen Figur Coppelius unternimmt, kommt es zu einem für den Vater tödlichen Unfall, den Nathanael ob zu Recht oder nicht für die Schuld Coppelius’ hält. Nun ist ihm an seinem Studienort der fliegende Händler für Brillen und andere optische Geräte Coppola begegnet, der ihn nicht nur dem Namen nach an den fatalen Coppelius erinnert und durch sein Auftauchen ein traumatisches und letztendlich schicksalhaftes Wiederdurchleben der Erinnerungen an den Tod des Vaters auslöst, sondern der Nathanael auch für die Begegnung empfänglich macht, die den Kern der Fabel bildet. Der Professor Spalanzani, bei dem Nathanael studiert, hat vorgeblich eine Tochter namens Olimpia, die er vor der Gesellschaft verbirgt. Nathanael aber, der im Haus gegenüber der Wohnung des Professors sein Quartier hat, beobachtet durch eines der Ferngläser des Händlers Coppola diese Tochter heimlich, die stundenlang regungslos an einem Tisch sitzt. Bei der schließlich doch erfolgenden Einführung Olimpias in die Gesellschaft verliebt sich Nathanael sofort in das junge Mädchen, das von allen anderen Anwesenden als hölzern und wenig sympathisch empfunden wird. Die weitere Fabel im Detail nachzuerzählen, ist unnötig: Nathanael verfällt einem sich immer weiter steigernden Liebeswahn, kehrt nach der Entlarvung Olimpias (mehr sei hier nicht verraten!) nach Hause zurück, wird scheinbar geheilt und …

Diese Erzählung hat solche Unmengen von Deutungen hervorgebracht, dass deren Studium beinahe faszinierender ist als die des Stücks selbst. Der Sandmann ist zur Hervorbringung von Interpretationen nahezu ideal geeignet: Offenbar wusste der Autor Hoffmann selbst nicht um die Bedeutung der verschiedenen suggerierten Zusammenhänge und das Verhältnis der einzelnen Elemente der Erzählung zueinander. Schon allein der Kunstgriff, das Kindheitstrauma Nathanaels über die Dop­pel­gän­ger­fi­gur Coppelius / Coppola mit dem Liebeswahn um Olimpia zu verknüpfen, garantiert der Erzählung eine Mehrdeutigkeit, die von der Interpretation kaum einzuholen sein wird. Hinzukommen die Spiegelthemen Alchemie / Mechanik, Animismus / Rationalismus, Gefühl / Vernunft und Vernunft / Wahn, die die Erzählung nahezu zwangsläufig zu einem Herd einander widerstreitender Deutungen machen. Nur von Zeit zu Zeit gelingt einem Autor einmal ein solcher Wurf, von dem sich noch Generationen von Lesern getroffen fühlen; von der hehren Germanistik noch ganz zu schweigen.

Wie schon angedeutet fallen die anderen Stücke der Sammlung dem gegenüber ab:

  • Ignaz Denner ist eine Räubererzählung mit juristischem Nachspiel.
  • Die Jesuitenkirche in G. ist eine Künstlernovelle um einen Maler, der seine wahre Bestimmung nicht oder nur sehr unglücklich und spät findet.
  • Das Sanctus ist eine Künstlernovelle um eine psychosomatisch erkrankte Sängerin, die durch eine heimlich mit angehörte Erzählung geheilt wird.
  • Das öde Haus ist eine aufgelöste Gespenstergeschichte, der es nicht wirklich gelingt, das Unheimliche, das sie erzeugen möchte, aufs Papier zu bringen.
  • Das Majorat ist eine Bruder-, Mord- und Geistererzählung, die umständlicher ist, als ihr gut tut.
  • Das Gelübde erzählt um die verwickelten politischen Verhältnisse Polens herum eine Liebes- und Vergewaltigungsgeschichte, die schon von den Zeitgenossen Hoffmanns als eine unangenehme Fortsetzung der Kleistschen Marquise von O….  empfunden wurde.
  • Das steinerne Herz schließlich, das immerhin seinen Titel einem der Romane Arno Schmidts geliehen hat, ist eine motivisch außerordentlich locker gebaute Liebesgeschichte, deren Nachtseite sich auf eine recht pragmatische Art und Weise auflöst. Am Ende wird geheiratet, wie sich das für jede anständige Komödie gehört.

Alles in allem gelingt es Hoffmann nicht, den Fantasiestücken eine gleichwertige Sammlung von Erzählungen an die Seite zu stellen, was angesichts der sehr unterschiedlichen Produktionszeiten auch nicht wirklich zu erwartet ist. Das herausragende Stück der Sammlung wird noch Generationen von Lesern und Germanisten beschäftigen, bis sich eines Tages jemand wundern wird, dass es eine Zeit gegeben hat, in der man sich über derartige Konstruktionen weitreichend Gedanken gemacht hat.

E. T. A. Hoffmann: Nachtstücke. In: Sämtliche Werke 3. Hg. v. Hartmut Steinecke. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 22011. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 1200 Seiten. Diese Ausgabe ist derzeit nur als Taschenbuch lieferbar.

Geschichte der deutschen Lyrik

Bei Reclams Geschichte der deutschen Lyrik handelt es sich, wie häufig bei den Produkten des Verlages, nicht um eine einheitlich konzipierte Darstellung aus der Feder (heute wohl eher der Tastatur) eines einzelnen Autors, sondern um die Zusammenstellung von sechs weitgehend unabhängig voneinander entstandenen Texten, die mittels eines Vorworts über das gemeinsame Thema hinaus wenigstens aufs Gröbste miteinander verbandelt wurden. Ziel war letztendlich eine Publikation der einzelnen Teile in separaten Bänden innerhalb der RUB, was denn auch 2012/2013 geschehen ist.

Diese Geschichte der deutschen Lyrik umfasst den Zeitraum vom Mittelalter (etwa seit dem 10. Jahrhundert) bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde folgende Aufteilung und Gewichtung des Stoffs vor­ge­nom­men:

  1. Mittelalter von Franz-Josef Holznagel (85 Seiten)
  2. Von der Reformation bis zum Sturm und Drang von Hans-Georg Kempner (167 Seiten)
  3. Klassik und Romantik von Mathias Mayer (115 Seiten)
  4. Zwischen Romantik und Naturalismus von Bernhard Sorg (97 Seiten)
  5. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs von Ralf Schnell (111 Seiten)
  6. Deutschsprachige Lyrik seit 1945 von Hermann Korte (86 Seiten)

Die Ansätze der Darstellung sind in den einzelnen Teilen durchaus unterschiedlich: Während etwa Holznagel sehr detaillierte Auskunft zur Entstehung und Überlieferung der Quellen gibt, findet bei Mayer eine inhaltlich konzise, zugleich aber anspruchsvolle Auseinandersetzung sowohl mit Genres und Formen als auch inhaltlich mit einzelnen Gedichten statt.

Enttäuschend ist einzig der 4. Teil von Bernhard Sorg, der sich einerseits zu spekulativen poetologischen Konstruktionen aufschwingt, die in keinem zeitgenössischen Text verankert werden, andererseits bei der Interpretation konkreter Beispiele aber derart flach bleibt, dass einige seiner Deutungen kaum über ein räsonierendes Nacherzählen des Gedichts  hinauskommen. Und dass einer „die Epoche des Realismus“ in der deutschen Lyrik behandelt, dabei aber den Namen Fontanes nicht an einer einzigen Stelle auch nur erwähnt, wird ihm wahrscheinlich auch so rasch keiner nachmachen wollen.

Bei den letzten beiden Teilen fällt natürlich auch dem Nichtfachmann auf, wie stark die Darstellung gedrängt und kursorisch bleiben muss; hier wäre eine deutlich erweiterte Geschichte der deutschen Lyrik im 20. Jahrhundert wünschenswert. Immerhin sollte lobend erwähnt werden, dass Ralf Schnell ein Kapitel seiner Darstellung der deutschen Lyrik zwischen 1933 und 1945 widmet (NS-Lyrik, Innere Emigration, Widerstand und Exil), wobei auch hier nicht mehr als repräsentative Schlaglichter geboten werden können.

Insgesamt ein trotz der sehr unterschiedlichen Ansätze der Autoren (offenbar hat man sich in Stuttgart nicht sehr bemüht, wenigstens eine einzige Germanistin ausfindig zu machen, die über Lyrik schreiben kann), empfehlenswerter Überblick, wobei ich die Teile 2 und 3 als besonders gelungen empfunden habe.

Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart: Reclam, 2004. Pappband, 755 Seiten. In dieser einbändigen Ausgabe nicht mehr lieferbar; verfügbar sind die sechs Teilbände innerhalb der RUB.