William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona

Außerdem: 1594 […] war [Shakespeare] 30 Jahre alt; vergleichsweise war Georg Büchner da schon sechs Jahre tot.

Wolfgang Wicht

Shakespeare Guenther 09

Bei den „Zwei Herren aus Verona“ handelt es sich um eines jener Stücke Shakespeares, die den Nachlebenden erhebliche interpretatorische Bauchschmerzen bereiten. Uneins ist man sich bereits bei der Frage der zeitlichen Verortung des Stückes: Einige halten es eindeutig für ein Frühwerk, andere weisen auf die raffinierte Gearbeitetheit des Stückes hin und wollen es auf jeden Fall dem reifen Dichter zuordnen. Was die einen nur als dramaturgische Hilflosigkeit verstehen können, ist für die anderen eine provokante Parodie auf spätmittelalterlichen Chauvinismus. Was auch immer es ist, wirklich gelungen scheint es nicht zu sein.

Einmal mehr handelt es sich bei den „Zwei Herren aus Verona“ um eine italienisch situierte Liebeskomödie Shakespeares: Valentin und Proteus, zusammen in Verona aufgewachsen und dicke Freunde, werden auf kurze Zeit voneinander getrennt: Valentin geht nach Mailand an den Hof des Kaisers, Proteus bleibt zurück, um seine geliebte Julia zu hofieren. Das allerdings nützt ihm nicht viel, denn sein Vater entscheidet bald, dass auch der Stubenhocker Proteus nach Mailand soll, wogegen der sich plötzlich nicht mehr wehrt. In Mailand eingetroffen findet er Valentin verliebt in Silvia vor, die Tochter des Herzogs. Ruck, zuck vergisst Proteus seine Julia, verliebt sich ebenfalls in Silvia und will sich nun den zum Widersacher gewordenen Valentin vom Halse schaffen. Daher verrät er Valentins und Silvias Fluchtplan dem herzoglichen Vater, der Valentin daraufhin verbannt. Auf dem Weg nach Mantua wird Valentin von einer Räuberbande aufgegriffen, die ihn kurzerhand zu ihrem Hauptmann macht, anstatt ihn auszurauben. Schließlich laufen auch Silvia, Proteus, der Herzog und dessen Ehekandidat für Silvia, ein Herr Thurio, in den Wald, wo sich alle zum Happy End treffen: Valentin und Proteus versöhnen sich wieder, Proteus wendet sich der als Page verkleideten Julia wieder zu, der euphorisierte Herzog verzeiht Valentin und allen seinen Räubern alles und erlaubt die Heirat mit Silvia, und selbst Herr Thurio wird mit zur Doppelhochzeit eingeladen.

Das Stück ist nach unserem Verständnis tatsächlich dramaturgisch abenteuerlich uneinheitlich: Einerseits lässt sich auf das schön gearbeitete gegenseitige Spiegelverhältnis der Paare Proteus/Julia und Valentin/Silvia hinweisen; auch die feinen Spitzen gegen höfisches Rittertum sind nicht von der Hand zu weisen. Andererseits überzeugen weder die urplötzliche Räuberhauptmannschaft noch die gesamte Konstellation der Konfliktlösung am Ende des Stücks. Als eigentliche Crux erweist sich dabei die Versöhnung der beiden Protagonisten, zwischen denen nicht nur nach einem kurzen Reuebekenntnis des Proteus alles wieder gut ist, sondern als deren Konsequenz Valentin auch noch ganz großzügig Silvia dem Proteus als Freundschaftspreis anbietet.

Nun weisen zwar Übersetzer Frank Günther und der Verfasser des beigebundenen Essays Wolfgang Wicht darauf hin, dass man dies – ob Parodie oder Ernst – im Rahmen der zeitgenössischen Ideologie der Männerfreundschaft lesen sollte, doch auch das befriedet nur, befriedigt aber letztlich nicht. Was auch immer der Grund für die augenscheinliche Unausgewogenheit des Stückes sein mag (man könnte geneigt sein, ein zeitgenössisches Stück erfinden zu wollen, das so schlecht und zugleich so bekannt war, dass Shakespeare mit „Zwei Herren aus Verona“ eine direkte Parodie darauf verfasst hat, die aber keiner mehr erkennt, weil die Vorlage vollständig verschwunden ist; natürlich würde das in unseren Zeiten der Vernunft kein Mensch gelten lassen), wir werden damit leben müssen, hier nur ein verwachsenes Kind des Schwans vom Avon vorliegen zu haben.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 9. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 246 Seiten. 33,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (87)

Eine ganze Horde von Beobachtern ist in alle Lebensgebiete eingebrochen und jeder weiß in jedem Bescheid. Die alten Phrasen sind abgetan. Aber ihr Inhalt war länger lebendig und mußte ehrlicher erworben sein als der der neuen. Dagegen sind die neuen viel handlicher und ermöglichen es jedem ohne Unterschied der Begabung und der Konfession, Literatur zu treiben. Vor einer Sache, über die man nichts sagen konnte, war man ehedem verloren. Jetzt gehts; was man nicht deklinieren kann, das sieht man als »merkwürdig« an.

Karl Kraus

William Shakespeare: Was ihr wollt

Jetzt geht’s zu End, die ganze großspurige große Welt wird ein salbaderndes Narrenhaus!

Shakespeare Guenther 08Im Jahr eines Shakespeare-Jubiläums soll man nach Möglichkeit auch Shakespeare lesen! Fangen wir also an: Bei „Was ihr wollt“ handelt es sich – wie schon der Titel erahnen lässt – um eine von Shakespeares leichten Komödien, die versuchen, einen möglichst breiten Publikumsgeschmack zu treffen. Im Vordergrund stehen daher Spaß und Klamauk, Wortspiele und Liebes-Gedöns. Als Gegengewicht wird ein alternder, zum Narren verkommener Philosoph mit in die Handlung verwickelt, und weil man dann immer noch nicht auf die notwendige Länge kommt, stecken wir noch eine kleine Verwechslungsgeschichte mit Zwillingen dazu.

Die Handlung ist im Grunde diese: A liebt B, B liebt C, C liebt A. D liebt heimlich auch B, wird aber dafür von E, F und G – die letztern beiden Saufkumpane, von denen G, um die Verwirrung komplett zu machen, es auch noch auf B abgesehen hat – auf den Arm genommen. C ist eigentlich eine Frau, hat sich zur Sicherheit aber als Mann verkleidet, da sie als Schiffbrüchige (beinahe hätte ich geschrieben ‚Alleinerziehende‘) im fremden Land – einem vollständig erfundenen Illyrien – leben muss. Verkleidet als Mann gleicht sie zum Verwechseln ihrem Zwillingsbruder C1. C und C1 glauben einander wechselseitig ertrunken. Den Rest kann sich jeder leicht selbst ausdenken, es kommt nicht so sehr aufs Detail an. Die Hauptsache ist ein üppiges Hin und Her, das ausreichend Gelegenheit zu gewollten und ungewollten Missverständnissen, Wortwechseln, Streitereien und Verwechslungen liefert, die sich schließlich alle durch eine, in diesem Fall sogar zwei Hochzeiten auflösen lassen.

Dieser weitgehend schematisierte Klamauk ist natürlich dadurch geadelt, dass er von Shakespeare stammt. Die Qualität der Wortspiele ist hoch, hier und da fällt sogar ein echter Gedanke dabei ab. So darf der neben der eigentlichen Handlung herlaufende Narr Feste wenigstens halbwegs Anspruch auf Originalität machen. Anlass für diesen speziellen Klamauk war eine Art von englischem Karneval, der um die Weihnachtszeit gefeiert wurde und dessen Höhepunkt auf den Dreikönigstag – der Twelfth Night nach Weihnachten; daher der englische Haupttitel des Stücks – fiel.

Es sind aber gerade die Wortspiele, die es dem Übersetzer schwer machen: Frank Günther, dessen erklärtes Ziel es ist, eine spielbare Übersetzung zu liefern, die dem heutigen deutschen Publikum einen ähnlichen Eindruck vermittelt wie das Original den Zeitgenossen Shakespeares, macht aus der Not eine Tugend und erfindet Dialoge zum Teil vollständig neu, da sich die englischen nicht ins Deutsche retten lassen. In den umfangreichen Anmerkungen werden die entsprechenden Entscheidungen vom Übersetzer ausführlich dokumentiert und erläutert; da die Shakespeare-Ausgabe Günthers immer zweisprachig daherkommt, kann sich jeder Leser auch selbst ein Bild davon machen, was der Übersetzer aus dem Original hat werden lassen.

Ein Stück, das man nicht zu ernst nehmen sollte – was offenbar, wie man dem angehängten Essay von Christa Jansohn entnehmen kann, auf deutschen Bühnen gern geschieht – und das, mit dem richtigen Tempo gespielt, auch heute noch seine Wirkung entfalten dürfte.

William Shakespeare: Was ihr wollt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 8. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 296 Seiten. 33,– €.

Alois Brandstetter: Altenehrung

Der Zahn der Zeit nagt freilich auch am Denkmalschützer selbst.

Brandstetter AltenehrungDer Österreicher Alois Brandstetter wurde mir im letzten Jahr in Wien empfohlen, als wir dort unter anderem über Schriftsteller wie Thomas Bernhard und Herbert Rosendorfer sprachen. Ich wurde auch gleich mit zwei Romanen Brandstetters ausgestattet, darunter „Altenehrung“ von 1983. Brandstetter war im Hauptberuf Professor für ältere deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt, hat aber dennoch ein umfangreiches belletristisches Œuvre vorgelegt. Mir selbst war er bis im letzten Jahr vollkommen unbekannt, woraus ich aber nicht auf seine tatsächliche Bekanntheit schließen möchte; manchmal verpasst man auch einfach etwas. Andererseits könnte Brandstetter auch auf diese Weise ganz gut mit Herbert Rosendorfer zusammenpassen, der bis auf sein One-hit-wonder der „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ebenfalls weitgehend ein Geheimtipp geblieben ist.

„Altenehrung“ (Betonung auf der ersten Silbe) ist die Ich-Erzählung eines alternden Kunsthistorikers, der in Klagenfurt als Denkmalschützer verbeamtet ist. Der Erzählanlass kommt im Buch erst relativ spät zur Sprache: Der Erzähler hat seine berufliche Karriere mit einem anarchischen Akt der öffentlichen Beleidigung seines Vorgesetzten beendet; dies wurde offensichtlich auch von seiner Frau dazu benutzt, ihn zu verlassen, so dass die Erzählung mehr und mehr als der Monolog eines grantelnden Alten erscheint, bis sie ganz zum Schluss eine merkwürdige Wendung ins Offene nimmt. Der Hauptgrund jener Beleidigung ist das Gefühl des Erzählers, bei der Beförderung ungerechterweise übergangen worden zu sein und einen zwar dienstälteren, aber inkompetenten und ungebildeten Kollegen vor die Nase gesetzt bekommen zu haben. Der Erzähler protzt durch den ganzen Text hindurch mit seiner umfangreichen Kenntnis lateinischer Spruchweisheiten – die er in den meisten Fällen aber freundlicherweise für die Leser gleich ins Deutsche übersetzt – und zeigt sich stolz auf seine bedeutendste wissenschaftliche Leistung: eine Sammlung von Inschriften vom Frühmittelalter bis zum 30-jährigen Krieg im Bundesland Kärnten. Schon darin hatte er in einer hinzuerfundenen lateinischen Inschrift eine Schmähung seines Vorgesetzten versteckt, was aber erst in Laufe seines Disziplinarverfahrens zutage gekommen ist.

Außer diesem Hauptstrang der Erzählung finden sich zahlreiche weitere Anlässe zur Unzufriedenheit: andere Denkmalschützer, die Jugend von heute (darunter sein eigener Sohn), die anderen Mitarbeiter im Amt, universitäre Gepflogenheiten, die allgemeine Unbildung, die alten Nazis (in den frühen 80ern noch nicht die neuen!) usw. In diesen Passagen klingt in Brandstetters Text zum Teil zu deutlich der Ton von Bernhards Prosa an, auch wenn die Bernhardsche Penetranz offenbar bewusst vermieden wird. Merkwürdig immerhin bleibt die Schlusswendung des Textes, die hier unerörtert bleiben mag.

Alles in allem ist Brandstetter eine positive Entdeckung: Unter den zahlreichen Bernhard-Epigonen der deutschsprachigen Literatur sticht er mit einer außergewöhnlich gepflegten Sprache und einer ungewöhnlichen literarischen Bildung hervor. Seine Sprache ist nur auf den ersten Blick unauffällig, erweist sich bei genauerem Hinsehen als exakt und differenziert; auch dadurch passt er gut mit Rosendorfer zusammen. Bei Gelegenheit werde ich eine Besprechung von „Die Burg“ (1986) nachliefern.

Alois Brandstetter: Altenehrung. Salzburg/Wien: Residenz, 1983. Leinenband, 140 Seiten. (Zuletzt im dtv-Taschenbuch; derzeit nicht lieferbar.)

Theodor W. Adorno: Minima Moralia

Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid.

Adorno-Digitale-BibliothekBei der Kleinen Ethik Adornos, die in der Hauptsache zwischen 1944 und 1947 entstanden ist, handelt es sich wahrscheinlich um sein meistgelesenes Buch überhaupt. Die Auflage liegt inzwischen bei über 120.000 Exemplaren, was für ein deutschsprachiges, ernsthaft philosophisches Buch des 20. Jahrhunderts beachtlich ist. Dabei ist zu betonen, dass es Adorno seinen Lesern durchaus nicht einfach macht: Seine Sprache befindet sich überall auf der Höhe der Reflexion, die behandelten Themen werden vor dem Hintergrund einer nirgends ausführlich ausgeführten Gesellschaftstheorie analysiert und viele dieser Analysen sind sehr knapp gehalten; einzig die Gliederung des Materials in 153 Abschnitte, die selten mehr als drei Seiten umfassen, kommt der Lektüre des philosophischen Laien entgegen.

Adorno Minima MoraliaJe nach Lektüre lassen sich unterschiedliche Zentren des Buches ausmachen. Adorno selbst hat später die Handreichung gegeben, die „Minima Moralia“ seien ein Buch über das falsche Leben; genau so könnte man behaupten, dass sie ein Buch über die Unmöglichkeit einer Ethik in einer auf den Tauschwert aller Erscheinung geeichten Gesellschaft ist. Man kann es auch als eine differenzierende Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ lesen. Neben spezifisch ethischen Themen behandelt Adorno auch Fragen der Ästhetik, insbesondere der Erscheinungen der Massenkultur – sein Lieblingsbeispiel ist der Hollywood-Film, wobei hier zu bedenken ist, dass er die volle Entwicklung dieser Form des Kunstgewerbes zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht einmal erahnen konnte.

Die bedeutendste Schwierigkeit, die sich einer angemessenen Auseinandersetzung mit Adornos Ethik entgegenstellen dürfte, ist sein eigentümliches Menschenbild, das den Individualismus nahezu vollständig als fehlerhaftes begriffliches Konzept behandelt und mit Ausnahme weniger widerständiger Intellektueller und Künstler nurmehr den bis auf verschwindende Reste mit seiner gesellschaftlichen Funktion identischen Massenmenschen kennt. Man wird unter diesen Massenmenschen auf Anhieb wahrscheinlich nur wenig Bereitschaft finden, diesem anthropologischen Entwurf beizutreten. Die Lebensform der Menschheit ist – wie bereits gesagt – die grundsätzliche Reduzierbarkeit aller Erscheinungen auf ihren Tauschwert, sprich der Kapitalismus, als dessen konsequenteste Form sich der Faschismus erwiesen hat. Angesichts solcher Verhältnisse ist an eine Ethik im emphatischen Sinn nicht zu denken. Was bleibt ist die dialektische Kritik, die stets fortzuentwickeln ist, da das falsche Weltverhältnis die prinzipielle Tendenz hat, jegliche Kritik in sich zu vereinnahmen und aufzuheben. Es wäre für Adorno ein verzweifelter Genuss gewesen, hätte er erleben dürfen, wie sehr er mit seiner Analyse Recht behalten sollte.

Unabhängig davon, ob man dem zugrunde liegenden Weltbild zustimmt oder nicht, bietet das Buch eine Überfülle von präzisen und auf den Punkt formulierten Details. Ich selbst habe Adorno zuletzt in meiner Studienzeit gelesen und bei der erneuten Lektüre einen nicht erinnerten Reichtum an Einzelbeobachtungen und -formulierungen gefunden, die für sich bestehen uneingedenk der konkreten dialektischen Bewegung, der sie entstammen.

Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichts aber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft, als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wird daran denken können, denn jedes Trauma, jeder unbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist ein Ferment kommender Destruktion. – Karl Kraus tat recht daran, sein Stück »Die letzten Tage der Menschheit« zu nennen. Was heute geschieht, müßte »Nach Weltuntergang« heißen.

Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Digitale Bibliothek Band 97 (CD-ROM). Berlin: Directmedia Publishing, 2004. Digitale Lizenzausgabe der Gesammelten Schriften in 20 Bänden des Suhrkamp Verlages.

Anthony Burgess: Earthly Powers

Toomey offers this bulky but overpriced novel as an elected swansong.

Burgess Earthly PowersDieser Roman stand seit Mitte der 80er Jahre ungelesen in meinem Bücherschrank. Ich hatte damals – angeregt durch einen Kommilitonen – eine kurze Phase der Burgess-Begeisterung, konnte mich dann aber doch nicht dazu aufraffen, mich durch die 650 Seiten dieses Romans zu beißen. Wahrscheinlich hätte er mir damals auch nicht so viel Vergnügen gemacht wie heute, einfach deshalb, weil mir viele der Anspielungen entgangen wären.

Ich-Erzähler ist der über 80-jährige britische Schriftsteller Kenneth M. Toomey, der zur Jetzt-Zeit des Romans – Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts – in Malta lebt, um der Besteuerung in England zu entgehen. Toomey war über die Ehe seiner Schwester verwandt mit Carlo Campanati, Papst Gregor XVII., der in der fiktiven Welt des Romans 1958 als Nachfolger Pius’ XII. gewählt wird. An seinem 81. Geburtstag erhält Toomey einen Besuch des Erzbischofs von Malta, der ihn bittet, im Heiligspechungsverfahren Gregors als Zeuge aufzutreten, da er eine vorgebliche Wunderheilung durch den damals noch als Exorzisten wirkenden Carlo miterlebt habe. Dies liefert den Anstoß dazu, dass Toomey sein Leben ab dem Jahr 1916 erzählt, was die Hauptmasse des Romans bildet. Auftakt der pseudoautobiographischen Erzählung bildet Toomeys innere Lossagung von der katholischen Kirche, die seine Homosexualität nur als Sünde begreifen kann. Toomey ist eines von drei Kindern aus einer britisch-französichen Ehe und im Glauben seiner Mutter erzogen worden. Er ist bereits zu Anfang der Autobiographie als Schriftsteller tätig. Sein erster Roman ist zwar kein großer Erfolg, doch gelingt ihm der Durchbruch als Bühnenautor mit einigen leichten Komödien. Als eine Affäre mit einem verheirateten Schauspieler publik wird, flieht Toomey vor einer drohenden Strafverfolgung aus England; in Italien lernt er wenig später zufällig die Brüder Carlo und Domenico Camapanati kennen. Carlo ist damals bereits ein ambitionierter Geistlicher, während Domenico ein mittelmäßig begabter Musiker ist, der mit einer Oper Erfolg zu haben hofft. Toomey soll ihm das Libretto dazu schreiben; die Oper wird zwar kein Erfolg, doch Domenico und Kenneth’ Schwester Hortense werden ein Paar und heiraten.

Der weitere Roman verfolgt nun in der Hauptsache die Karrieren dieser vier Familienmitglieder des Toomey-Campanati-Clans sowie der beiden Kinder von Hortense und Domenico. Ihre gewöhnlich ungewöhnliche Familiengeschichte liefert Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Kultur der USA, insbesondere Hollywoods, dem Nationalsozialismus – Toomey durchleidet mehrfach unfreiwillige Verwicklungen –, der katholischen Kirche und der Schriftstellerei als Beruf und Geschäft. All das ist witzig und intelligent gemacht, liefert aber trotz Ausflügen nach Asien und Afrika durchaus nicht das große, umfassende Bild der Welt des 20. Jahrhunderts, das dem Buch manchenorts zugeschrieben wird. Es ist viel eher als eine vielfach gebrochene, in weiten Teilen uneitle Selbstbespiegelung des alten Burgess’ zu lesen, woran auch die dem Protagonisten zusätzlich aufgepfropfte Homosexualität nichts ändert.

Ich habe mich anlässlich dieser Lektüre gefragt, ob Burgess in Deutschland noch gelesen wird. Soweit der Buchmarkt einen Hinweis gibt, scheint das nicht so zu sein: Zwar sind die Übersetzungen von “A Clockwork Orange” (dies sogar in zwei Übersetzungen) und “Earthly Powers” („Der Fürst der Phantome“) sowie der lesenswerten Einführung in das Werk von James Joyce – der naturgemäß auch in “Earthly Powers” prominent vertreten ist – “Here Comes Everybody” (zuletzt 2004 als „Joyce für Jedermann“ im Suhrkamp Taschenbuch) noch lieferbar, aber alles andere scheint vergessen zu sein und das, obwohl Burgess in bedeutender Breite ins Deutsche übertragen wurde.

Da mir “Earthly Powers” einiges Vergnügen bereitet hat, wird hier sicherlich in Zukunft noch der eine und andere Hinweis auf Bücher von Burgess folgen.

Anthony Burgess: Earthly Powers. New York u.a.: Penguin, 51983. Broschur, 649 Seiten. Lieferbar als Vintage Classic für ca. 27,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (86)

Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche.

So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealistische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.

Karl Philipp Moritz
Anton Reiser

Robert Louis Stevenson: Der befremdliche Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Es handelt sich hier um eine jener Angelegenheiten, die sich durch Reden nicht reparieren lassen.
Rathjen-Jekyll-Hyde

Die 1886 erschienene Erzählung von Dr. Jekyll und Mr. Hyde dürfte eines der erfolgreichsten Bücher Stevensons zu seinen Lebzeiten gewesen sein. Sie ist sowohl formal als auch inhaltlich der Romantik verpflichtet, und ihr simpler Dualismus von Gut und Böse dürfte in Verbindung mit der pseu­do­wis­sen­schaft­lichen Grundierung wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen haben.

Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters, der Advokaten Utterson, der mit Dr. Henry Jekyll seit langem befreundet ist. Dr. Jekyll ist Mediziner und ein vorbildlicher Bürger Londons, der allerdings phasenweise zur Absonderung von seinen Freunden neigt. Er bewohnt ein großes Haus, das früher einem Anatom gehört hat; Jekyll gehört als Chemiker der wissenschaftlich nächsten Generation von Medizinern an; er hat den Seziersaal seines Vorgängers in ein Laboratorium verwandelt. Hier findet er eher zufällig eine Droge, die die böse Seite seiner Persönlichkeit an die Oberfläche bringt; im Zuge dieser Verwandlung stellt sich auch eine massive körperliche Veränderung ein: der hochgewachsene Dr. Jekyll wird zu dem kleingeratenen, häßlichen und von seinen Mitmenschen als verwachsen empfundenen Edward Hyde. Die Verwandlung lässt sich bequemerweise mit einer weiteren Gabe derselben Droge wieder rückgängig machen.

Von all dem erfährt der Leser aber nur Stück für Stück: Zuerst steht die merkwürdige Verbindung zwischen dem hoch angesehenen Dr. Jekyll und dem etwas merkwürdigen, moralisch fragwürdigen Mr. Hyde im Zentrum, den Jekyll in seinem Testament zu seinem Universalerben eingesetzt hat, selbst für den Fall, dass er nur für mehr als drei Monate verschwunden sein sollte. Die Lage spitzt sich zu, als Hyde einen Mord begeht, für den es einen Zeugen gibt und der ihn zwingt, anscheinend aus London zu verschwinden. Mit dem Verschwinden Hydes kehrt Jekyll für eine Weile zu seinen alten, geselligen Gepflogenheiten zurück, doch dann stellen sich plötzlich die alten Verhältnisse wieder ein.

Zur Krise kommt die Erzählung, als Utterson vom Hausdiener Jekylls aufgesucht wird, der über die seltsamsten Zustände im Haus seines Herrn berichtet: Der Doktor verlasse seinen Raum über dem Laboratorium kaum noch, keiner seiner Bediensteten habe ihn seit Tagen gesehen, der Butler vermutet sogar, dass es gar nicht Jekyll ist, der im Haus lebt. Eine Inspektion des Hauses führt auch Utterson zu der Überzeugung, dass es Hyde sein muss, der dort lebt. Als man sich schließlich entschließt, die Tür zu dem Wohnraum aufzubrechen, findet man dort Hyde vor, der sich mit Blausäure das Leben genommen hat. Aus einem von Jekyll hinterlassenen Dokument erfährt Utterson – und mit ihm der Leser – nun alles über den befremdlichen Fall: dass sich Jekyll immer häufiger spontan in Hyde verwandelt habe; dass diese böse Seite sich nur unter Maßgabe der Droge für immer kürzere Zeit habe unterdrücken lassen; dass die Droge zur Neige gegangen und in ihrer besonderen Zusammensetzung nicht wieder zu beschaffen gewesen und so Hyde letztlich zum stabilen Zustand der Persönlichkeit Jekylls geworden sei.

Das Hübsche an dieser im Grunde sehr einfach gestrickten Fabel ist, dass sie sich widerstandslos zahlreichen interpretatorischen Zugriffen öffnet: Man kann sie lesen als eine Allegorie auf die dualistische Natur des Menschen, als eine Variation auf die Geschichte von Kain und Abel, als Vorgriff auf die psychoanalytischen Konzepte von Über-Ich und Unbewusstem, als Geschichte eines dem Wahnsinns verfallenden Wissenschaftlers und zweifellos noch auf diverse andere Weisen. So schlicht die Erzählung ist, sie bildet einen eleganten Fokus für zahlreiche Themen der Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, und sie funktioniert darüber hinaus auch noch als Horrorerzählung.

Die hier vorgestellte Ausgabe der Erzählung in der Übersetzung Friedhelm Rathjens ergänzt den bereits früher hier angezeigten Band „Stimmen“ im Selbstverlag des Übersetzers. Die Übersetzungen aus diesen beiden Büchern sind 1998 erstmals bei Haffmans erschienen und bildeten damals zusammen mit Rathjens Übersetzung der „Schatzinsel“ und einem dritten Band eine kleine Werkauswahl Stevensons. Mit „Der befremdliche Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ liegen nun erfreulicherweise alle diese Übersetzungen Rathjens wieder vor. Die Ausgabe ist auf 99 nummerierte und signierte Exemplare limitiert. Bestellungen erfolgen am besten per E-Mail direkt beim Verlag.

Robert Louis Stevenson: Der befremdliche Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2016. Bedruckter Pappband, 106 Seiten. 25,– €.

Henry James: Eine Dame von Welt

Das letzte Wort zu alldem musste lauten, dass Mrs. Headway ein Quälgeist war.

James Dame„Eine Dame von Welt“ heißt im Original “The Siege of London”, also Die Belagerung von London. Dass der Verlag eine solche Umbenennung für notwendig hielt, macht deutlich, dass James in Deutschland mittlerweile so unbekannt ist, dass man mit einer getreuen Übersetzung des Titels die Leser historischer Romane in die Irre zu leiten fürchtet. Ich vermute, dass es inzwischen in China eine Ausgabe von Thomas Manns „Der Zauberberg“ unter dem chinesischen Titel Das Sanatorium gibt, um die chinesischen Fantasy-Leser nicht zu verwirren. Einerseits ist eine solche Haltung in Zeiten eines immer breiteren und zugleich immer differenzierteren Buchmarktes verständlich (dazu gehört auch die hinzuerfundene Gattungsbezeichnung „Eine Salonerzählung“), andererseits nimmt die deutsche Ausgabe mit dieser Entscheidung dem intelligenteren Leser ein von James bewusst an den Anfang gesetztes Signal, um den Ton der Erzählung einschätzen zu können. Aber was nützt das beste Straßenschild, wenn es kaum wer als solches erkennt? Da kann man an derselben Stelle auch gleich eine Reklametafel aufstellen. Denn immerhin existiert ja noch die Straßenverkehrsordnung, wenn die auch kaum mehr wer kennt. „Das ist ein prächtiger Anfang! Wenn jeder nur erst wieder von Null ausgeht, da müssen die Fortschritte in kurzer Zeit außerordentlich bedeutend werden“, bemerkte Goethe zu Johann Daniel Falk am 17. April 1808. Wie rasch doch die unbedeutendsten Dinge zu vollständig nutzlosen Betrachtungen führen können.

Wie so oft bei James ist es nicht einfach zu entscheiden, wessen Geschichte eigentlich erzählt wird. Es beginnt mit einer Begegnung der beiden US-Amerikaner George Littlemore und Rupert Waterville mit Nancy Headway in der Pariser Comédie Française. Littlemore kennt Nancy aus seiner Zeit im Westen der USA; damals hieß sie noch Nancy Beck, und seit damals hat sie einige Ehen hinter sich gebracht. Nachdem sie mit dem Versuch, in die New Yorker High Society aufgenommen zu werden, gescheitert ist, versucht sie jetzt ihr Glück in London. Zu diesem Zweck hat sie dem deutlich jüngeren Sir Arthur Demesne den Kopf verdreht, den sie zu heiraten gedenkt, wenn er sich denn dazu bringen lässt. Dem steht im Wesentlichen seine Mutter im Weg, die den Verdacht hegt, Mrs. Headway sei nicht gesellschaftsfähig, es aber nicht nachweisen kann. Sie versucht sowohl Waterville, der für die US-Botschaft in London arbeitet, als auch Littlemore die entsprechenden Informationen zu entlocken. Littlemore, der mit der ganzen Sache eigentlich nichts zu tun haben will, knickt schließlich ein und bestätigt Lady Demesnes Verdacht. Doch es ist zu spät: Nancy ist bereits verlobt mit Sir Arthur und setzt sich gegen die Mutter letztlich durch.

Der moralische Konflikt ist interessanterweise der Littlemores: Nancy ist eine rücksichtslose Karrieristin, die schlicht versucht, ihre Interessen durchzusetzen; sie betrachtet das Normensystem der besseren Gesellschaft und seine Vertreter schlicht als Gegner, gegen die es sich durchzusetzen gilt. Waterville dagegen will als Vertreter des Normensystems erscheinen, ist aber nicht bereit, die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen: Von Lady Demesne nach der Vergangenheit von Nancy Headway befragt, windet er sich aus der Verantwortung heraus, obwohl er sie moralisch ebenso verurteilt wie die Fragestellerin oder seine Mutter oder Schwester. Littlemore schließlich, der das ganze als eine Art oberflächlichen Spiels ansieht und auf dem Standpunkt steht, dass Nancy jedes Recht hat zu versuchen, sich gegen den Widerstand der Gesellschaft durchzusetzen, ist derjenige, der Lady Demesne am Ende das liefert, was sie braucht. Er tut dies in dem Wissen, dass eine Verlobung bereits stattgefunden hat, und in der Überzeugung, dass seine Antwort wahrscheinlich nichts mehr ändern wird. Dennoch ist er es, der als einziger der moralischen Forderung nach Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander nachkommt. Ob Lady Demesne einen Anspruch auf diese Wahrhaftigkeit erheben kann, bleibt dabei ebenso ungeklärt wie die Frage, ob das moralische Urteil, das sich die High Society über Nancy Headway anmaßt, berechtigt ist oder nicht.

Hält man diese distanzierte Haltung des Erzählers mit dem historisierenden Originaltitel zusammen, bekommt man einen Eindruck von der über dem Ganzen der Erzählung liegenden Ironie: James erzählt diese Episode, als würde sie beispielsweise am Hofe Heinrich VIII. spielen, und er hält sie in ihren moralischen Konsequenzen wahrscheinlich für ähnlich relevant, als hätte sie sich dort abgespielt. Nimmt man allerdings an, die Erzählung sei eine Salonerzählung und handle von einer Dame von Welt, könnte dies im Einzelfall beim Leser zu einem ganz grundsätzlichen Missverständnis führen. Doch die Hauptsache ist natürlich, dass der Vertrieb zufrieden ist.

Ergänzt wird der Band durch einen Essay von Henry James, indem er unter anderem über eines der Vorbilder der Erzählung, Alexandre Dumas’ Komödie „Le Demi-Monde“, schreibt.

Henry James: Eine Dame von Welt. Eine Salonerzählung. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Berlin: Aufbau, 2016. Flexibler Leinenband mit Banderole, Lesebändchen, 176 Seiten. 16,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (85)

Wissen sie nur einmal, was es sei, gute Schriftsteller lesen? Wissen sie, daß es nicht zuviel ist, sie zehn, zwanzig, dreißig mal mit Geschmack, mit Fleiß und Anstrengung lesen, um sie zu verdauen, um ihren Inhalt in Blut und Saft zu verwandeln? Nichts weniger als dieses. Eine einmalige flüchtige Lektüre, und wessen? Einer kleinen Zahl von Werken, die den meisten Ruf, die man sich rühmen will, gelesen zu haben; ein Zwanzig vielleicht, von denen ihnen nichts blieb, selbst die bekanntsten Anspielungen nicht, die in der Gesellschaft oder in den Schriftstellern vorkommen. Endlich nur neue Bücher, nur Zeitschriften!

Johann Gottfried Herder
Briefe zur Beförderung der Humanität