Henry James: Daisy Miller

»Sie tat, was sie wollte!«

James Daisy Miller„Daisy Miller“ ist eine der frühen Erzählungen Henry James’, erstmals veröffentlicht im Jahr 1878. Das Original trägt den etwas differenzierteren Titel “Daisy Miller: A Study”, was in dieser Neuausgabe bei dtv auf die schlichte Gattungsbezeichnung „Eine Erzählung“ reduziert wird. Der Geschichte seiner Titelheldin stand James im Alter eher reserviert gegenüber, musste aber hinnehmen, dass sie zu seinen bekanntesten und beliebtesten gehörte.

Interessanterweise ist der eigentliche Protagonist aber der junge US-Amerikaner Frederick Winterbourne, der bereits als Kind nach Europa gekommen ist. Zur Zeit der Erzählung lebt er in Genf, wo er vorgeblich studiert, tatsächlich aber eine Beziehung zu einer älteren Frau pflegt. Daisy Miller lernt er zufällig kennen, als er seine Tante im Kurort Vevey besucht. Sie fällt ihm sofort nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres sehr freien und selbstbewussten Verhaltens auf. Sie lässt sich schon nach kurzer Bekanntschaft mit Winterbourne darauf ein, zusammen mit ihm – und nur mit ihm – das nahegelegene Schloss Chillon zu besichtigen.

Winterbournes Tante reagiert auf seinen Bekanntschaft mit Daisy etwas reserviert, da sie von den Millers gesellschaftlich nicht viel hält. Daisy, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem viel jüngeren Bruder in Europa unterwegs ist, stammt aus einer Industriellenfamilie, die aber nicht zur High Society der USA zu rechnen ist. Für Winterbournes Tante machen sich diese Leute allein schon deshalb unmöglich, weil sie mit ihrem europäischen Cicerone zusammen essen und überhaupt einen vertrauten Umgang mit ihm pflegen. Daisy lebt in Europa offenbar ein außergewöhnlich freies Leben, da ihre Mutter sich als gänzlich unfähig erweist, der Selbstständigkeit ihrer Tochter irgendwelche Grenzen zu setzen.

Als Winterbourne seinen Besuch in Vevey bereits nach wenigen Tagen beendet, lässt Daisy für einen einzigen Moment durchblicken, dass ihr ironisches und distanziertes Spiel mit Frederick nur eine Farce ist, und sie an dem jungen Mann doch ernsthafter interessiert sein könnte. Sie nötigt ihm jedenfalls das Versprechen ab, sie im Winter in Rom aufzusuchen, was in Fredericks Pläne passt, da auch seine Tante sich dann in Rom aufhalten wird.

Winterbourne trifft etwa acht Monate später erwartungsvoll in Rom ein und hofft eine Daisy vorzufinden, die ihn sehnsüchtig erwartet. Stattdessen amüsiert sich die junge Frau prächtig in der römischen Gesellschaft, pflegt Freundschaften mit italienischen Junggesellen und kümmert sich wenig darum, was die amerikanische Gemeinde in Rom von ihr denkt. Diese Spannung kommt zur Entladung, kurz nachdem Frederick in Rom eingetroffen ist: Daisy wird von einer der Grande Dames der Amerikaner dazu aufgefordert, einen Spaziergang mit ihrem italienischen Freund Giovanelli abzubrechen und zu ihr in die Kutsche zu steigen; als Daisy sich weigert, das zu tun, wird sie bei nächster Gelegenheit öffentlich abgekanzelt und aus der guten Gesellschaft ausgestoßen.

Winterbourne reagiert in einer Mischung aus Enttäuschung, Eifersucht und Unsicherheit ebenfalls abweisend; er versucht zwar noch, Daisy auf den rechten Weg zu führen, gibt sie dann aber letztlich ebenfalls auf. James bringt die Erzählung zu einem recht abrupten Ende, indem er Daisy an der Malaria erkranken und kurz darauf sterben lässt. Am Grab kommt Frederick zur Einsicht, die junge Frau und ihre Handlungen falsch be- und sie daher verurteilt zu haben. Doch allzu tief scheint es ihn nicht getroffen zu haben, denn letztlich kehrt er zu seinem eigenen unmoralische Verhältnis in Genf zurück.

Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, wovon James in diesem Text eigentlich erzählt; es könnte sogar der Verdacht aufkommen, dass er das selbst nicht so ganz genau gewusst hat. Der für James typische Gegensatz zwischen nordamerikanischen und europäischen Sitten bildet nur die Folie für eine Geschichte, in der einen junge Frau von der sie umgebenden Gesellschaft dafür verurteilt und abgestraft wird, dass sie sich Freiheiten herausnimmt, die bei einem US-amerikanischen Mann in Europa selbstverständlich toleriert werden. Dass James das Thema nicht vollständig durchführen konnte, zeigt sich an dem hilfsweisen Tod Daisys, für den zum Teil ihr eigener Starrsinn, zum Teil die Leichtfertigkeit Giovanellis verantwortlich gemacht werden. Daisy scheitert an der Gefährlichkeit der Natur, der sie sich aussetzt, nicht an der Gesellschaft, von der sie verurteilt wurde. Das ermöglicht eine Tragik, für die am Ende keiner wirklich verantwortlich zeichnet, ohne dass das kritische Potenzial der Erzählung damit aufgehoben würde. Wahrscheinlich ist es diese eigentümliche Konstruktion, die zu ihrem dauerhaften Erfolg wesentlich beigetragen hat.

Die Neuübersetzung von Britta Mümmler liest sich gut und ist, soweit ich sie geprüft habe, in der Sache korrekt, nimmt sich für meinen Geschmack aber stilistisch ein wenig zu viele Freiheiten heraus – fehlende oder hinzugefügte Worte, Verwechslung von Subjekt und Objekt und andere Änderung von Satzstrukturen habe ich allein auf den ersten Seiten gefunden; den kastrierten Titel muss man wahrscheinlich dem Verlag und nicht der Übersetzerin anlasten. Wer den englischen Text nicht kennt, wird aber mit dieser deutschen Ausgabe ganz zufrieden sein; die Erläuterungen im Anhang sind gut gesetzt und hilfreich. Alles in allem eine gute deutsche Leseausgabe.

Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen von Britta Mümmler. Kindle-Edition. München: dtv, 2015. (Druckausgabe: 128 Seiten.) 9,99 €.

Uwe Timm: Rot

Bald […] werden die Herbstbilder Pegasus, Fische und Walfisch gut zu sehen sein. Und in dem Walfisch ist der [τ] Cet, der unserer Sonne so ähnlich sein soll, weil auch er Planeten hat. Vielleicht das wahre Utopia, ohne angemaßte Herrschaft, ohne unnötiges Leid, das würde schon reichen.

timm-rotEin außergewöhnlich gut konstruierter und detailreicher Roman über den Abschied von den Idealen der 68er-Studentbewegung; für die eine oder den anderen dürfte er vielleicht sogar ein wenig zu konstruiert sein. Der Ich-Erzähler Thomas, ein Alt-68er, der im bürgerlichen Leben nie recht Fuß gefasst hat, liegt buchstäblich auf der Straße, die er bei Rot überquert hatte, weshalb er angefahren wurde. Wahrscheinlich stirbt er während des Erzählens und färbt mit seinem Blut die Straße unter sich; neben ihm liegt ein Päckchen Sprengstoff, das gerade aus seiner Aktentasche gefallen ist.

Beruflich ist Thomas Grabredner, einer jener, die gebeten werden, in den Fällen über dem Toten zu sprechen, wenn keine der Konfessionen sich als zuständig betrachtet oder vom Toten gern gesehen würde. Und so hält Thomas in seinen letzten Minuten auf Erden eine Grabrede auf sich und seine ehemaligen Freunde aus der Studentenbewegung: Zum Beispiel Edmond und Vera, die aus der Frankophilie Edmonds einen lukrativen Weinimport gemacht und sich als neureiche Alkoholiker in einer Neubau-Villa niedergelassen haben. Die Ehe kriselt, Vera ist im Entzug, Edmond sitzt im von seiner Frau leergeräumten Haus, säuft Wein aus dem Suppenteller und schlägt seinen Kopf vor die Wand. Oder Krause, der mit Lisa, einer Norwegerin, in Mecklenburg-Vorpommern in ländlicher Idylle mit Streuselkuchen und Schlagsahne lebt. Beide sind Lehrer, und Krause betreibt nebenbei ein Antiquariat, das auf die Theorie der Studentenrevolution spezialisiert ist.

Am wichtigsten aber ist Aschenberger, der gerade verstorben ist und Thomas testamentarisch als seinen Grabredner verpflichtet hat. Auch Aschenberger scheint sich bürgerlich etabliert zu haben – er hat bei seiner Heirat den Namen seiner Frau angenommen und heißt nun Lüders. Er verdient sein Geld mit alternativen Stadtführungen durch Berlin, lebt in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung und plant einen letzten großen Coup: Er will die Berliner Siegessäule als Symbol der missratenen deutschen Geschichte in die Luft sprengen und sich anschließend der Polizei stellen. Aus seinem Nachlass stammt der Sprengstoff, der Thomas bei seinem Unfall aus der Tasche gefallen ist.

Die Wiederbegegnung mit Aschenberger setzt Thomas sichtlich zu, der selbst sich vor einigen Jahren nach einer Midlife-Crisis radikal von der eigenen Vergangenheit getrennt hat, in dem er allen persönlich Besitz verkauft oder weggeworfen hat und seitdem in einer kargen Wohnung sein Leben von Tag zu Tag verbringt. Doch sein unreligiöses Mönchstum wird derzeit heftig gestört: Thomas hat eine Affäre mit der verheirateten Iris, die eine Generation jünger ist als er. Iris ist Bühnenbildnerin und Lichtgestalterin, sie lebt also davon, ästhetische Illusionen zu verkaufen. Die Affäre spitzt sich kurz vor Thomas Unfall zu, als Iris schwanger wird, ihren Mann Ben verlässt und mit Thomas eine Familie gründen will. Ihre offene Emotionalität überwältigt Thomas immer mehr, der kurz davor steht, sich auf Iris Pläne einzulassen, als der Unfall all dem ein Ende setzt.

Außer dieser Hauptlinie der Erzählung glänzt der Roman mit zahlreichen weiteren Nebenfiguren und Kleinsterzählungen, etwa der depressiven Animateurin Tessy, der politisch engagierten Türkin Nilgün oder dem Maler Horch – wahrscheinlich der spannendsten Figur im ganzen Roman. Man findet heute nur wenige Erzähler, die tatsächlich soviel zu erzählen haben und denen es gelingt, ihre divergierenden Stoffe dennoch auf die großen literarischen Themen – Tod, Liebe, Geburt – zu fokussieren, ohne dass es peinlich wird. Ein wirklich gelungenes Stück!

Uwe Timm. Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001/2005. Bedruckter Pappband, 428 Seiten. 15,– Euro. (Auch als dtv-Taschenbuch lieferbar.)

100 Jahre Dada

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg

In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:

Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.

Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.

dada-almanachNatürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.

mittelmeier-dadaWer darüber mehr erfahren  und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.

Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.

Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.

Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.

Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.

Zum 150. Todestag Friedrich Rückerts

Amara, bittre, was du thust, ist bitter,
Wie du die Füße rührst, die Arme lenkest,
Wie du die Augen hebst, wie du sie senkest,
Die Lippen aufthust oder zu, ist’s bitter.

Ein jeder Gruß ist, den du schenkest, bitter,
Bitter ein jeder Kuß, den du nicht schenkest,
Bitter ist, was du sprichst und was du denkest,
Und was du hast und was du bist, ist bitter.

Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen,
Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten,
Und eine folgt den Spuren deiner Füße.

O du mit Bitterkeiten rings umfangen,
Wer dächte, daß mit all den Bitterkeiten
Du doch mir bist im innern Kern so süße.

Friedrich Rückert

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer

Zanganeh-ZaubererEine merkwürdige Mischung aus biographischer Studie, literarischem Essay und Fan-Prosa über Vladimir Nabokov und einige von seinen Büchern. Merkwürdig ist das Buch vor allem deshalb, weil es von einer Art naiver Begeisterung getragen ist, die normalerweise nicht lang genug überlebt, um in einem Buch dokumentiert zu werden. Für jemanden, der von Nabokov nur das Übliche oder gar kein Buch gelesen hat, mag das ganz nett sein, doch diejenigen, die sich nur ein wenig besser auskennen, werden schwerlich mit dem Buch zufrieden sein.

In der Hauptsache geht es um drei Bücher Nabokovs: die beiden Romane „Lolita“ und „Ada“ sowie seine Autobiographie „Erinnerung, sprich“; das ein oder andere wird zwar en passant zusätzlich zitiert, doch bleibt es bei marginalen Zitaten. Weder Nabokovs frühe Versuche im Kriminal- oder Unterhaltungsgenre werden erwähnt, noch seine Bücher, die sich in der Hauptsache um staatliche Gewalt, Gefangenschaft und Tod drehen. Denn Zanganeh geht es bei Nabokov wesentlich um eine Sache: um – ach! – die Liebe! Und die wahre Liebe gibt es natürlich immer nur in der Erinnerung, sei es Nabokovs sentimentaler Blick zurück auf seine russische Jugend oder Humbert Humberts erste und einzige pubertäre Verliebtheit an der Riviera.

Man muss fair sein und zugeben, dass Zanganeh sich wie Nabokov selbst darüber im Klaren ist, dass das Sentimentale nur eine Seite der Medaille darstellt und stets verquickt ist mit zerstörerischen Umständen: politischem Umsturz, Pädophilie oder Inzest. Doch diese Seite stört bei Zanganehs Neigung zur Sentimentalität, weshalb der unbelehrte Leser einen eher schiefen Eindruck von der Welt der Nabokovschen Fiktionen erhält. So ist Humbert Humbert zwar immer noch der egozentrische, verantwortungslose Asoziale des Romans, doch ist in Zanganehs Blick seine narzisstische Fixierung auf Dolly Haze trotz allem Liebe. Nabokov würde es wahrscheinlich mit einem schiefen Lächeln quittieren.

Neben der Auseinandersetzung mit einigen von Nabokovs Texten, wird er als Lepidopterologe gewürdigt (seine Fähigkeiten als Schachkomponist bleiben unerwähnt), sein Sohn Dmitri tritt auf und wir erfahren dies und das über die Autorin, die sich als Leserin Nabokovs immer wieder mit ins Spiel bringt. Zumindest dieser letzte Aspekt des Buches ist originell und trägt der Einsicht Rechnung, dass Lektüre im Idealfall immer die Verflechtung zweier – im Fall dieses Buches sogar dreier – Individualitäten darstellt.

Insgesamt für all jene (und das werden wohl die meisten sein), die Nabokov nicht oder nur aus dem einzigen Buch „Lolita“ kennen, wahrscheinlich eine anregende und informierende Lektüre, für einen Achtel-Kenner wie mich zu selektiv und enthusiastisch.

Lila Azam Zanganeh: Der Zauberer. Nabokov und das Glück. Aus dem Englischen von Susann Urban. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,95 € (Preis für Mitglieder) / 22,95 €.

Rene Pfeilschifter: Die Spätantike

Mit aller Macht beförderte Justinian das Heil seiner Untertanen, und sei es mit Gewalt.

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Der chronologisch sechste und letzte Band von Becks „Geschichte der Antike“ – der Band zur klassischen Epoche Griechenlands fehlt derzeit noch – behandelt die Zeit von der Herrschaft Diokletians (284–305) bis zum Aufstieg des Islams zur führenden Macht im Nahen Osten, Nordafrika und auf der iberischen Halbinsel. Erst damit ist für ihn auch im oströmischen Reich die Antike endgültig abgeschlossen. Für Westrom bietet sich als Ende der Antike bereits die Mitte des 6. Jahrhunderts an, nachdem Italien durch die Befreiung von den Ostgoten durch Ostrom wirtschaftlich und kulturell weitgehend entkräftet worden ist.

Der Beginn der Spätantike ist im Wesentlichen durch zwei Veränderungen markiert: Dioklektians Reform des Kaisertums – kurzfristig gibt es zwei Augusti und zwei ihnen nachgeordnete Caesaren im römischen Reich –, die den Anfang von Ende der Einheit des römischen Reiches bildet, zum anderen der Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion unter Konstantin (306–337), womit zugleich die Verwerfungen des sich entwickelnden Christentums zur Staatsangelegenheit und damit nicht nur innenpolitisch wirksam werden,  sondern bei denen auch der Kaiser eine bedeutende Rolle als Schlichter oder Mitstreiter spielt.

Für die weitere Entwicklung erweisen sich zudem die zunehmend militärisch aufholenden Nachbarvölker als entscheidend, die das Reich kontinuierlich unter Druck setzen. Zwar gelingt es immer wieder, die entsprechenden Gruppen durch Ansiedlung und Zahlungen zu befrieden, ja sie sogar in die eigenen Legionen einzubinden, doch erweisen sich solche Konstruktionen immer wieder als instabil. Wenn es den Vandalen, Goten oder Franken zu langweilig wird, ziehen sie erneut auf Raub aus und machen Gallien, Spanien oder den Balkan unsicher. Im Osten droht immer aufs Neue das Sasanidenreich, mit dem Frieden nur sporadisch zu halten ist.

Der eigentliche Zusammenbruch beginnt dann, als 476 der germanische Offizier Odoaker von den Germanen der Legion zum König gewählt wird und den letzten weströmischen Kaiser Romulus schlicht absetzt (nicht einmal mit dessen Ermordung hat er sich aufgehalten.) Als der oströmische Kaiser Zenon dann 488 versucht, die ihm lästigen (Ost-)Goten zu instrumentalisieren, um Odoakers Germanen aus Italien zu vertreiben, ersetzt er nur den Teufel durch Beelzebub, denn Theoderich hat wenig besseres zu tun, als sich das befreite Italien als gotisches Königreich zu eigen zu machen. Und als unter Kaiser Justinian (527–565) versucht wird, das Reich noch einmal zu einen, wird Italien derart gründlich in Grund und Boden befreit, dass es von da an für das Reich keine Rolle mehr spielen und eine leichte Beute der Langobarden werden sollte.

Und auch Ostrom kann sich nur unvollkommen halten: Im 7. (und 8.) Jahrhundert geht der Balkan zum Großteil an die von Norden einfallenden Slawen verloren, während man im Osten und in Nordafrika Besitzungen an die aggressiv expandierenden, islamischen Araber verliert. Das verbleibende byzantinische Reich ist nurmehr ein Schatten Ostroms und verliert auch kulturell zunehmend den Kontakt zum ehemaligen römischen Reich. Mit dem Tod Kaiser Herakleios 641 endet bei Pfeilschifter die Epoche der Antike wohl zum spätestmöglichen Zeitpunkt.

Pfeilschifters Darstellung ist – ebenso wie Eichs im Vorgängerband – gut strukturiert und stellt neben der Chronologie der Ereignisse in systematischen Kapiteln die politische und soziale Struktur insbesondere des oströmischen Reichs sowie die komplexe Genese des Christentums auch für den historischen Laien gut nachvollziehbar dar.

Mit diesem sechsten Band ist die Beck’sche Becks „Geschichte der Antike“ abgeschlossen. Mit der Beschränkung auf die griechische und römische Geschichte folgt man einem eher traditionellen Begriff der Antike; man würde sich zur Ergänzung zumindest einen ähnlich gut gemachten Band auch zum alten Ägypten wünschen, eventuell auch mit Ausblicken auf den aktuellen Forschungsstand zu den Phöniziern. In den selbst gesteckten Grenzen kann diese Geschichte der Antike durchweg nur empfohlen werden; ich warte mit Spannung auf den für dieses Jahr angekündigten Band zur klassischen Epoche Griechenlands.

Rene Pfeilschifter: Die Spätantike. Der eine Gott und die vielen Herrscher. C. H. Beck Paperback 6156. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Armin Eich: Die römische Kaiserzeit

Auch Becks „Geschichte der Antike“ folgt der klassischen Dreiteilung der Geschichte des römischen Imperiums in die Epoche der Republik, die Kaiserzeit und die Spätantike. Während sich die Grenze zwischen Republik und Kaiserreich mehr oder weniger von selbst versteht, kann von einem Ende der römischen Kaiserzeit nur in einem metaphorischen Sinn die Rede sein, da in der Zeit der Spätantike mehr Kaiser das römische Reich beherrscht haben als je zuvor.

Armin Eichs „Die römische Kaiserzeit“ schließt daher nahezu nahtlos an den Vorgängerband an und endet mit der Regierungszeit Kaiser Carus (282–283), also vor der Reform der Institution des Kaisertums unter Diocletian (284–305), umfasst also eine Spanne von etwa 310 Jahren. Eichs Darstellung besticht in allen Stufen der Entwicklung des Reiches in dieser Zeit durch Klarheit und Strukturiertheit, wobei die Kapitel der chronologischen Abfolge der Ereignisse durch solche der systematischen Analyse der politischen und soziologischen Verhältnisse ergänzt werden. Auch inhaltlich erscheint Eichs Geschichte der Kaiserzeit tadellos, wenn auch wahrscheinlich Kleopatra etwas gegen die Behauptung einzuwenden gehabt hätte, Gaius Iulius Caesar habe keine „direkten männlichen Nachkommen“ gehabt.

Erstaunlich und letztlich nur ansatzweise zu erklären bleibt aber immer die Stabilität des römischen Imperiums trotz massiver innen- und außerpolitischer Verwerfungen. Besonders im dritten Jahrhundert bewährt sich das Reich als Reich auch gegen massive Angriffe durch Germannengruppen im Westen und das Sasanidenreich im Osten und der schnellen Abfolge von Kaisern, die oft nach nur kurzer Regierungszeit ermordet und ersetzt werden. Auch wenn man aus heutiger Sicht die Krise bzw. Krisen des 3. Jahrhunderts als Anfang vom Ende der römischen Herrschaft über den Mittelmerraum und Westeuropa deuten kann, so ist dies für die Zeitgenossen alles andere als klar. Im Gegenteil beginnt der oben schon erwähnte Kaiser Carus, nachdem sich die Lage im Westen wieder einigermaßen beruhigt hat, umgehend einen neuen Krieg im Osten, offenbar in der Überzeugung, dass sich auch dort die Verhältnisse der Blütezeit römischer Herrschaft wieder würden etablieren lassen. Wie sehr er damit das Kräfteverhältnis zwischen Rom und seinen Nachbarn untzerschätzt haben sollte, werden aber erst die kommenden Jahrhunderte erweisen.

Armin Eich: Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium. C. H. Beck Paperback 6155. München: Beck, 2014. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (84)

Zu einer Stunde hat der Verdruß eigenmächtig die Oberhand in mir, zu der andern die Fröhlichkeit. Nehme ich Bücher zur Hand, da ich zu gewissen Zeiten in mancher Stelle ausnehmende Schönheiten gefunden haben würde, die meine Seele gerühret hätten: so finde ich an derselben, wenn ich ein andermal wieder darüber komme, ich mag sie drehen und wenden wie ich will, ich mag sie, von welcher Seite ich will, betrachten, nichts als eine mir unbekannte und ungestalte Masse. Ja, ich kann so gar nicht einmal allezeit wieder auf meine eigenen Gedanken kommen.

Michel de Montaigne

Wolfgang Blösel: Die römische Republik

Es bleibt immer interessant genug, wie sich da im wilden Westen, in Rom wieder einmal so ein Wolfsstaat (wie damals Sparta) brutal groß frißt.

Arno Schmidt

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Der Titel des chronologisch vierten Bandes von Becks „Geschichte der Antike“ bezeichnet ebenfalls den Inhalt bloß pars pro toto, da der Band mit der Frühzeit Roms und der mythischen Königszeit beginnt. Er überschneidet sich natürlich zum Teil mit dem Band zum Hellenismus, was aber aufgrund der auf Rom zentrierten Perspektive nicht weiter stört. Dargestellt wird die Geschichte des römischen Stadtstaates und des aus ihm erwachsenden Reichs von 9. Jahrhundert v.u.Z. bis zur Begründung des monarchischen Prinzipats durch Octavian Anfang 27 v.u.Z.

Dabei setzt Blösel den eigentlichen Untergang der Republik auf das Jahr 43 an, als das 2. sogenannte Triumvirat 300 Senatoren und 2.000 Ritter umbringen lässt, um die eigenen Machtbasis zu stabilisieren. Die verbleibende Oberschicht Roms stellt politisch keine Gefahr für die Triumvirn mehr dar, die wohl alle drei das Bündnis eingegangen sind, um auf diesem Weg letztlich zur Alleinherrschaft nach caesarischem Vorbild gelangen zu können.

Die erste Hälfte des Buches gerät etwas zäh, was sich nicht nur aus der vergleichsweise dünnen Quellenlage ergibt, sondern auch daraus, dass der Autor nicht unbedingt zu den begnadetsten Schriftstellern gehört – „Seine Kontrastierung findet ihre Bestätigung in den Befürchtungen“ lässt sich auf Deutsch auch ein wenig eleganter ausdrücken. Spannender wird es erst mit der Zeit der Gracchen, in der dann auch substanziell über politische Motivationen der Protagonisten spekulieren werden kann. Die Darstellung der Karriere Cäsars, des 1. Triumvirats und seiner Folgen ist untadelig, soweit ich das beurteilen kann, auch wenn Blösels Urteil über Cäsar vielleicht ein wenig negativer ausfällt, als es sein müsste.

Für alle, die sich für die Entstehung des römischen Reichs interessieren, eine knappe und durchweg empfehlenswerte Lektüre, die an den historischen Laien aber – wie auch die Bände zuvor – einige Ansprüche stellt. So werden zum Beispiel die Genese, die Aufgaben- und Machtbereiche der römischen Magistrate (Quästoren, Ädilen, Prätoren und Konsulen) eher beiläufig abgehandelt, so dass sich ein unvorbereiteter Leser über diese Strukturen des römischen Staates wird anderswo systematisch kundig machen wollen.

Was mich bei diesem erneuten Durchgang durch die römische Geschichte vor der Zeitwende mehr als je zuvor erstaunt hat, ist, dass sich das politische System Roms trotz aller Willkür und allen Gewalttaten seiner Mitspieler solange als einigermaßen stabil und – im Sinne der Akteure – funktional erhalten hat. Natürlich erklärt sich das aus einem zufälligen Zusammenspiel von individuellen Eigenschaften der Akteure und unvorhersehbaren Umständen, aber die Idee, dass eine Staatsform ihre Stabilität aus dem Gegeneinander intrinsischer Motivationen Einzelner und der gesellschaftlichen Gruppierungen beziehen kann, solange sich die Gegenspieler wenigstens im Großen und Ganzen an einen bestimmten Satz politischer Regeln halten, ist faszinierend. Das bedeutet nicht, dass das System nicht doch am Ende in ein anderes umschlagen wird, aber was die römische Republik alles aushalten konnte, ohne zu kollabieren, ist und bleibt erstaunlich.

Wolfgang Blösel: Die römische Republik. Forum und Expansion. C. H. Beck Paperback 6154. München: Beck, 2015. Klappenbroschur, 304 Seiten. 16,95 €.

Jahresrückblick 2015

Auch für das vergangene Jahr die Höhen und Tiefen der Lektüre in einem kurzen Überblick diesmal mit einer sich zufällig ergebenden Aufteilung zwischen Belletristik und Sachbuch.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2015:

  1. Philip Roth: Der menschliche Makel – ein sehr fein gearbeiteter Roman über grobe Vorurteile und die Macht des moralischen Klatsches.
  2. William Faulkner: Absalom, Absalom! – einer der ganz großen US-amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts über Folgen des Rassismus und anderer Lügen.
  3. Henry James: Die Gesandten – subtile Neuübersetzung eines der bedeutenden Spätwerke Henry James’, in dem beinahe nichts passiert und sich dennoch alles ständig in Bewegung befindet.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2015:

  1. Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit – ein gutes Beispiel dafür, wie man mit einem halbverstandenen und gar nicht durchdachten Konzept die Welt nicht begreifen kann.
  2. Hazel Hutchison: Henry James – eines der schlampigsten Bücher, das ich je in der Hand gehabt habe: Inhalt, Übersetzung und Lektorat sind indiskutabel.
  3. Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution – ein weiteres Exemplum für ein schludriges Sachbuch eines eigentlich versierten Historikers, das auf ein breites Publikum abzielt, das es ohnehin nicht besser weiß.