Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (154)

Er liebte zu lesen, trachtete nach dem Wort und dem Geist, als nach einem Rüstzeug, auf das ein tiefer Trieb ihn verwies. Aber niemals hatte er sich an ein Buch hingegeben und verloren, wie es geschieht, wenn einem dies eine Buch als das wichtigste, einzige gilt, als die kleine Welt, über die man nicht hinausblickt, in die man sich verschließt und versenkt, um Nahrung noch aus der letzten Silbe zu saugen. Die Bücher und Zeitschriften strömten herzu, er konnte sie alle kaufen, sie häuften sich um ihn, und während er lesen wollte, beunruhigte ihn die Menge des noch zu lesenden. Aber die Bücher wurden gebunden. In gepreßtem Leder, mit Siegmund Aarenholds schönem Zeichen versehen, prachtvoll und selbstgenügsam standen sie da und beschwerten sein Leben wie ein Besitz, den sich zu unterwerfen ihm nicht gelang.

Thomas Mann

A. C. Grayling: Die Grenzen des Wissens

… unser Denken und Fühlen ist [sic!] immer noch verteufelt primitiv, wir führen immer noch Kriege, zanken uns, glauben Unsinn, vertun unser kurzes Leben mit Trivialitäten …

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Eigentlich könnte man den obenstehenden Motto-Text zitieren und es dabei belassen. Das Buch ist eine weitere der so beliebten Mogelpackungen unserer Sachbuch-Kultur, denn in der Hauptsache geht es in diesem Buch nicht um die Grenzen des Wissens (the frontiers of knowledge), sondern um eine der üblichen populistisch gehaltenen Nacherzählungen des aktuellen Wissenstandes und seiner Heraufkunft, diesmal begrenzt auf Technik und Physik (die beiden müssen herhalten für die Naturwissenschaft insgesamt), Geschichte und Vorgeschichte sowie Hirnforschung und Psychologie. Der Autor rät selbst dazu an, dass jene, die schon über Kenntnisse der Gebiete verfügen, die darstellenden Teile überspringen sollten, wobei diese Teile tatsächlich kaum mehr bringen als man an sieben Tagen bei ZDF info auch erfahren kann (falls nicht gerade mal wieder ägyptische Woche ist).

Was die Frage nach den Grenzen des Wissens angeht, so gibt Master Grayling zwar zu, dass man solche vermuten könnte, aber man sollte besser nicht an sie glauben:

Aufgrund der genannten Probleme sagen manche Denker, es gäbe Dinge, die wir niemals wissen könnten: Fragen etwa, die die Beschaffenheit des Bewusstseins betreffen, könnte nie beantwortet werden, weil der Versuch, sie zu beantworten, dem Versuch eines Auges gliche, sich selbst zu sehen. Aber das ist ein Argument, das auf Resignation hinausläuft und das kein Forscher akzeptieren sollte. Wäre die Frage »Gibt es Grenzen des Wissens?« sinnvoll, so ist sie bestenfalls defätistisch, da sie implizieren würde, dass es solche Grenzen geben könnte. Doch sie ist nicht sinnvoll, da sie nicht beantwortbar ist – sie könnte nur beantwortet werden, wenn es uns, was in sich widersprüchlich ist, gelänge, die Grenzen des Wissens zu überschreiten und auf sie zurück zu blicken, um zu sehen, wo sie liegen.

S. 20 f.

Damit wäre das auch geklärt. Mehr sollte man von diesem Denker nicht erwarten.

A. C. Grayling: Die Grenzen des Wissens. Was wissen wir von dem, was wir nicht wissen. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Stuttgart: Hirzel, 2023. Pappband, 445 Seiten. 34,–€.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen (1893–1912)

Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.

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Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.

Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.

Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.

Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.

Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.

Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.

Wird fortgesetzt …

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Friedhelm Rathjen: Joyce

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Es gibt einige Autoren, bei denen es sinnvoll ist, sich einer Art von Reiseführer zu bedienen, um ihr Werk zu erkunden; Joyce gehört sicherlich zu ihnen. Joyce hatte von Anfang an und je länger je mehr eine besondere Auffassung von der Funktion poetischer Sprache, ein Bewusstsein dafür, dass Sprache in gewisser Weise unsere Wahrnehmung der Welt mitbestimmt und die Verwendung eines bestimmtem Stils – sei er etwa romantisch, idealistisch oder realistisch – einen ebenso bestimmten Blick auf die Welt zu erzeugen vermag. Er selbst fand in sich eine Souveränität in der Verfügung über diese Stile und Stilebenen vor, ein Verfügen über die Sprache und Sprachen, und so schrieb er sein vermutlich wichtigstes Buch Ulysses von diesem Standpunkt der sprachlichen Vielfalt aus: Der Inhalt des Buches hatte sich der Sprache des bzw. den Sprachen der Erzähler anzupassen, nicht umgekehrt, und das große Kunststück war es, dennoch einen Roman daraus entstehen zu lassen.

Da die meisten Leser von diesem Verfahren wenig ahnen, wenn sie beginnen, den Ulysses zu lesen, scheitern die meisten; sehr oft im dritten Kapitel, in dem Stephen Dedalus am Strand spazieren geht und über die unumgehbare Visualität der Welt philosophiert – ihm ist am Tag zuvor seine Brille zerbrochen, aber das erführe der Leser erst viel, viel später im Buch, wenn er denn nicht hier und jetzt aufgeben würde –, und der unbedarfte Leser weder begreift, was er da liest (was auch gar nicht so wichtig ist; wichtig ist viel mehr, Stephen als einen studierten Philosophen vorzuführen, der auf konkrete Probleme mit sehr abstrakten Gedanken zu reagieren neigt) geschweige denn, warum er das lesen soll.

Nun ist Joyce keiner jener freundlichen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die ihre Leser an der Hand nehmen und durch den Roman führen, sie auf dies aufmerksam machen, ihnen jenes erklären, ihnen bei einem Dritten nahelegen, es sich gut zu merken, denn er werde es später noch einmal gebrauchen können. Bei Joyce stürzt der Roman auf uns ein wie eine neue Welt, vieles kommt gleichzeitig und das meiste fügt sich erst sehr viel später zu einem sinnvollen Gebilde. Und aus all diesen Gründen ist es nützlich, sich vor der Lektüre der Joyceschen Werke zuerst einmal eine kurze Einführung einzuführen.

Eine dieser Einführungen hat der Joyce-Kenner und -Übersetzer Friedhelm Rathjen nun erneut im eigenen Verlag aufgelegt. Das Buch ist eine Überarbeitung der im Jahr 2004 bei Rowohlt erscheinen Bild-Monographie mit dem Vorteil, dass die Neuausgabe die Lebensbeschreibung und die Einführung ins Werk entzerrt und sie auf diese Weise leichter einer gezielten Lektüre dienen kann. Nach einer für den Einstieg vollständig ausreichenden Biographie, die zugleich auch die Entwicklung der Joyceschen Ästhetik nachzeichnet, folgen Kapitel zu einzelnen Werken, wobei auch eher unbekannten wie dem frühen Gedichtband Kammermusik oder auch dem Text Giacomo Joyce eigene Abschnitte gewidmet sind. Dabei ist allen Werkbesprechungen zu eigen, dass sie nur behutsame Hinweise geben, ohne einer selbstständigen Lektüre im Weg zu stehen.

Allen, die einen ersten Überblick über Joyce gewinnen wollen, bevor sie sich in das Abenteuer der Lektüre dieses Weltautors stürzen, sei der Band anempfohlen.

Friedhelm Rathjen: Joyce. Einführung in Leben und Werk. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2023. Bedruckte Broschur, 152 Seiten. 17,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise

Es sind [/] Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.

Ich kehre immer wieder staunend zu Lessing zurück. Der Nathan war direkt nach dem Goetheschen Werther einer meiner Ini­tia­tions­tex­te für das, was ich später „Klassiker“ zu nennen gelernt habe. Das frühe „Potztausend!“ (Friedrich Schlegel) differenzierte sich während des Studiums ein wenig aus, und über die Jahre hin habe ich immer und immer wieder die eine und andere Inszenierung auf der Bühne angeschaut (zuletzt eine, die nicht nur nicht lustig, sondern auch gänzlich ohne Witz war), stets in der Hoffnung, es würde sich eine oder einer an dem Text bewähren; das Beste, was ich zu sehen bekam, war ein Bühnenbild. Aber ich gebe zu: Es ist sehr schwierig, dem Stück gerecht zu werden.

Die Schwierigkeiten beginnen schon auf dem Titelblatt: Obwohl der Nathan offenbar eine Komödie (in Lessings Deutsch ein „Lustspiel“) darstellt und als solche inszeniert werden muss, merkte Lessing wohl, dass es mit dieser Einordnung nicht so einfach gehen dürfte. Zu ernst sind die verhandelten Probleme, zu wenig komisch die Dialoge, zu gesucht und künstlich (und fragil, aber dazu später) das Komödienende, selbst wenn die Inszenierung Lessings mühevolle Vorbereitungen dazu nicht kürzen sollte; und kürzen muss sie irgendwo (wenn auch nicht gleich auf 100 Minuten, wie zuletzt), wenn sie in den dem heutigen Publikum zumutbaren Grenzen bleiben will. Als Warnschild stellt Lessing deshalb die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“ voran, als zweifle er selbst daran, dass er ein Schauspiel für die Bühne geschrieben habe.

Als nächstes haben wir höchst anspruchsvolle Charaktere: Außer der Titelfigur ist keiner ohne Fehl und Tadel, alle hegen Vorurteile, handeln rasch und unüberlegt, lassen sich von Einfällen und Leidenschaften hinreißen. Am schlimmsten ist vielleicht die Figur des Patriarchen von Jerusalem, ein Fanatiker („Tut nichts! der Jude wird verbrannt.“ IV/2, V. 168 u. ö.), der überhaupt nur einmal leibhaftig auftritt, aber als Da­mo­kles­schwert das Schicksal Nathans und Rechas bedroht. Man denke: Das Oberhaupt der Christenheit in Jerusalem als der heimliche Bösewicht des Stücks und dagegen ein Muselman (wenn der auch erst noch ein wenig geläutert werden muss) und ein Jude als Repräsentanten einer ver­nunft­be­stimm­ten Humanität. Und auch sonst ist fast alles Vorurteil, Intrige und Vorteilsnahme; es ist ein Wunder, dass das Stück überhaupt zu seinem versöhnlichen Ende kommt.

Und dieses Ende ist nicht leicht zu glauben: Statt des einen Ge­schwis­ter­paars (Saladin und Sittah) stehen nun plötzlich deren zwei (Recha und der Tempelherr) auf der Bühne und sollen zudem auch noch untereinander miteinander verwandt sein als Onkel und Tante und Neffe und Nichte. Und der in Liebe entflammte Tempelherr wird von jetzt auf gleich ein liebevoller Bruder, und die Familienbande überlagern alle religiösen Konflikte, die doch gar nicht gelöst wurden. Und am ärgsten: Die neu gewonnene Harmonie schließt Nathan gar nicht ein, der zwar als Stifter der Familienbande glänzt, aber im gegenseitigen Erkennen ganz außen vor bleibt. Wenn’s denn bedeuten soll, dass alle Menschen und immer schon heimlich Brüder und Schwestern einander sind und waren und die Religionen nur die Tünche über den wirklich bedeutenden Verbindungen, warum bleibt dann gerade der weise Jude außen vor? (Ich sehe es vom Dramaturgischen her schon ein: Das Ende ist auch so schon un­wahr­schein­lich genug, aber dennoch …).

Und vom Fragmenten-Streit, der zu alle dem den fernen Hintergrund bildet, haben wir da noch gar nicht geredet.

So bleibt das Stück ein Meisterwerk an Sprache und Gehalt, doch wacklig konstruiert, und sein Weg am dramaturgischen Abgrund entlang verlangt ein sorgsam bedachtes und in jeder Einzelheit beherrschtes Spiel. Dieser Anspruch geht offenbar über das hinaus, was heutiges Theater will und kann. Daher habe ich eine politische Inszenierung nach der anderen gesehen, die von Text und Absicht des Stückes einfach nicht getragen wurden, habe Kürzungen erlebt, die das Ende ganz zuschanden machten. Da saß dann ein ahnungsloses Publikum und lachte Lessing aus statt jener, die für das Scheitern verantwortlich waren und es am Ende wohl auch gewollt haben. Mag sein, Lessing ist tatsächlich nicht mehr für unsere Zeit, doch das sagt nichts Gutes über unsere Zeit.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. In: Derselbe: Werke und Briefe. Bd. 9: Werke 1778–1780, S. 483–627. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 1383 Seiten. Nicht mehr im Druck.

Allen Lesern ins Stammbuch (152)

Er sprach mit uns auch von seinen Büchern. Er erzählte uns, daß manche da seien, in welchen das enthalten wäre, was sich mit dem menschlichen Geschlechte seit seinem Beginne bis auf unsere Zeiten zugetragen habe, daß da die Geschichten von Männern und Frauen erzählt werden, die einmal sehr berühmt gewesen seien, und vor langer Zeit, oft vor mehr als tausend Jahren gelebt haben. Er sagte, daß in anderen das enthalten sei, was die Menschen in vielen Jahren von der Welt und anderen Dingen, von ihrer Einrichtung und Beschaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In manchen sei zwar nicht enthalten, was geschehen sei, oder wie sich manches befinde, sondern was die Menschen sich gedacht haben, was sich hätte zutragen können, oder was sie für Meinungen über irdische und überirdische Dinge hegen.

Adalbert Stifter
Der Nachsommer